Klaubanden in Berlin: Die Tricks der Taschendiebe
Der rasche Griff bringt ihm 300 Euro ein. Und dazu noch dieser Kick! Das Risiko? Liegt fast bei null. Die Zahl der Taschendiebstähle wächst rasant. Die Ermittler in Berlin kennen längst alle Tricks – es hilft nur nichts.
Haben Taschendiebe eigentlich Ehrgefühl? Gibt es zum Beispiel Menschen, die sie grundsätzlich nicht beklauen würden? Vielleicht Kinder? Senioren am Krückstock? Behinderte?
Der Mann, der selbst hundertfacher Taschendieb ist, sagt erst mal nichts. Es wirkt, als denke er nach. Als gebe er sich ernsthaft Mühe, eine akkurate Antwort zu finden. Seine Freundin schaut ihn von der Seite an, sie ist jetzt auch neugierig. Naja, sagt er schließlich, einem Rollstuhlfahrer habe er noch nie etwas weggenommen. Da spreche er allerdings nur für sich.
Der Mann steht Dienstagfrüh im Flur des Kriminalgerichts Moabit, am Eingang zu Saal 606. Es ist Verhandlungspause. Dass er so freimütig Auskunft gibt über seine kriminelle Karriere, liegt daran, dass er selbst nicht angeklagt ist, jedenfalls nicht heute. Er ist gekommen, um einem Freund beizustehen.
So viele Taschendiebstähle wie im vergangenen Jahr gab es in Berlin seit Jahrzehnten nicht. 32 121. Macht 88 pro Tag. Und das sind bloß die Taten, die angezeigt wurden. Für 2015 rechnen manche Ermittler mit einem neuen Rekord.
Es sei ja nicht nur das Geld, sagt der Mann auf dem Gerichtsflur. „Was sich normale Leute nicht vorstellen können, ist der Kick, den du hast.“ Davor und währenddessen sei man so konzentriert, so hochgedreht.
„Wenn du fertig bist, kannst du nicht sagen, ob du die letzten 30 Sekunden überhaupt geatmet hast.“ Er selbst klaue inzwischen nur noch in Restaurants oder Kneipen. Da bevorzuge er den „Jackentrick“. Der funktioniert so:
Sich Rücken an Rücken zu einem Opfer setzen, das seine Jacke über den Stuhl gehängt hat. Mit dem eigenen Stuhl möglichst nah heranrücken und verdeckt durch die eigene Jacke das fremde Portemonnaie nehmen – oder noch unauffälliger: nur die Geldscheine.
Der Freund, der an diesem Dienstag auf der Anklagebank sitzt, hat sich arg dumm angestellt. Wobei, sagt der Anwalt, es war halt eine Kurzschlussreaktion. Die Dummheit des mutmaßlichen Täters bestand nicht darin, dass er sich von einer Zivilpolizistin erwischen ließ, das kann passieren. Sondern dass er dann zu seinem Auto flüchtete und versuchte, der Polizei zu entkommen. Weil Stau war, ist er mit dem Auto in der Neuen Kantstraße auf den Bürgersteig drauf, er rammte das Werbeschild eines Handyladens, verletzte nur deshalb keine Fußgänger, weil alle rechtzeitig zur Seite springen konnten. Die Fahrt endete in der nächsten Seitenstraße vor einem Baugerüst, und jetzt ist der Schlamassel viel größer, als wenn er sich aufs Klauen beschränkt hätte.
Der Mann heißt Bekim B., ist 40 Jahre alt und stammt aus dem Kosovo. Großgewachsen, Trainingsanzug. Der Berliner Polizei ist er als Wiederholungstäter bekannt. Eine Ermittlerin nennt ihn „eine Gefahr für die Öffentlichkeit“. Das kann man sich gar nicht vorstellen bei dem höflichen Mann, der jedes Mal von der Anklagebank aufspringt, wenn er etwas sagen möchte. An dem Tag, an dem Bekim B. erwischt wurde, war er mit einem Komplizen in der Passerelle unterwegs, jener orangegekachelten, unwirtlichen Unterführung, die ICC, Messehallen und Zentralen Omnibusbahnhof miteinander verbindet. Sechs Ausgänge, zwölf Rolltreppen. Kein Ort, an dem sich Passanten gern aufhalten. Aber ein ideales Umfeld für den „Treppentrick“. Der läuft so:
Opfer mit Rucksack ausspähen, ihm auf die Treppe folgen. Den Komplizen vorschicken, er spricht das Opfer von vorn an, lenkt ab. Währenddessen in den Rucksack greifen, dann umdrehen und verschwinden.
32 121 Taschendiebstähle in einem Jahr. Das bedeutet eine Steigerung von 55 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Wobei es 2013 auch schon eine rasante Zunahme gegenüber 2012 gab. Klar, das sei eine unschöne Entwicklung, berlinert Kriminaloberrat Lothar Spielmann. Er leitet beim Landeskriminalamt das Dezernat 26, das für den Bereich Taschendiebstahl zuständig ist. Kurze Haare, freundlicher Typ, Spezialgebiet: Galgenhumor. Für Taschendiebe gebe es in dieser Stadt so viele Gelegenheiten, sagt Spielmann – die brauchten nicht mal eine Fünf-Tage-Woche, um gut zu leben. An der Wand seines Büros in der Perleberger Straße in Moabit hängt eine Karte mit den Umrissen von Berlin. Sie soll die räumliche Verteilung der Taschendiebstähle im Stadtgebiet visualisieren. Wo sich die Taten häufen, sind verschiedenfarbige Punkte eingetragen. Es sind sehr, sehr viele Punkte. Sieht aus, als hätte ein Kleinkind von Weitem mit Fingerfarben geworfen.
Breitscheidplatz, Tauentzien, Alexanderplatz, Friedrichstraße, Potsdamer Platz und Warschauer Straße sind einige der größten Brennpunkte, aber wenn die Polizei dort patrouilliert, weichen die Diebe an andere Orte aus. Serientäter wie Bekim B., und von denen gibt es viele, kennen inzwischen die Gesichter der Zivilbeamten. „Das hat ein bisschen was vom Kampf gegen Windmühlen“, sagt Spielmann.
Es passiert überall dort, wo viele Menschen auf engem Raum zusammenkommen. In der U-Bahn, auf der Rolltreppe, in Kaufhäusern, jetzt auf den Weihnachtsmärkten. Am sichersten ist man, wo nur reinkommt, wer Eintritt zahlt. Im Zoo, Museum, Fußballstadion. Eine Ausnahme sind Rockkonzerte, sagt der Dezernatschef, jedenfalls solche, wo Pogo getanzt wird und enger Körperkontakt normal ist. Als die Metal-Band Sklipknot im Februar in der Max-Schmeling-Halle spielte, fehlten am Ende des Abends 75 Handys. Bei den Tätern soll es sich um eine Bande gehandelt haben, die der Musikgruppe auf ihrer gesamten Europatournee hinterherreiste, nach Berlin klauten sie auch in Hamburg, Oslo, Stockholm, Helsinki.
Eine weitere kuriose Zahl: Nur vier Prozent aller angezeigten Taschendiebstähle werden aufgeklärt. Das ist eine extrem niedrige Quote. Morde und Totschläge werden, als Vergleich, zu 92 Prozent aufgeklärt, was auch daran liegt, dass sich Täter und Opfer meist kennen. Die Taschendiebstähle versauen regelmäßig die „PKS“, die Polizeiliche Kriminalstatistik.
Um die vier Prozent zu verstehen, muss man sich die Papiere anschauen, die Lothar Spielmann vor sich auf dem Tisch gestapelt hat. Die ausgedruckten Anzeigen. Da steht zum Beispiel: „Zwischen zwei und drei Uhr morgens befand ich mich vor der Diskothek Matrix. An der Kasse stellte ich fest, dass die Geldbörse, die sich in meinem Rucksack befand, nicht mehr da war. Wer sie entwendet hat und wann das geschah, kann ich nicht sagen. Einen Verlust kann ich auch nicht ausschließen. Bin noch bis Sonntag in Berlin.“
Lothar Spielmann seufzt. Kein Tatort, keine Tatzeit, keine Tatbeobachtung, keine Zeugen, nichts. Was soll er mit so einer Anzeige anfangen?
Es trifft viele Touristen. Am beliebtesten sind asiatische und arabische. Die haben erfahrungsgemäß Bargeld dabei. Die Täter können sie auf offener Straße leicht überrumpeln, zum Beispiel mit dem „Beschmutzer-Trick“.
Das Opfer scheinbar aus Versehen mit Ketchup oder Speiseeis bekleckern. Sich wortreich entschuldigen, Mantel oder Tasche abwischen und dabei den Geldbeutel entwenden.
Aber auch Berliner sind als Opfer geeignet. Deren Ortskenntnis lässt sich sogar ausnutzen – mit dem „Stadtplan-Trick“.
Einen Einheimischen nach dem Weg fragen und ihm dabei einen Stadtplan hinhalten. Während sich das Opfer orientiert und mit dem Finger über den Plan fährt, kann der Komplize zuschlagen.
Typische Serientäter sind zu dritt unterwegs. Damit einer das Opfer ablenken und ein anderer den Überblick behalten kann. Sie sind fast ausschließlich männlich, zwischen 16 und Anfang 30. Wobei es Ausnahmen gibt, sagt Spielmann. Bei den bulgarischen Banden – sie stellen nach den Rumänen die größte Gruppe – sind sämtliche Mitglieder weiblich. Meistens werden sie in Bussen aktiv.
Und dann gebe es noch die Chilenen. Die seien deutlich älter, häufig über 50. In Berlin träten sie traditionell nur zu Messen auf, dann aber massiv. Vor allem während Funkausstellung und Grüner Woche führen sie morgens von Hotel zu Hotel und versuchten den „Buffet-Trick“.
Beobachten, welche Gäste beim Frühstück ihre Taschen oder Laptops am Tisch zurücklassen, während sie ihre Teller neu beladen.
300 Euro bringt ein Taschendiebstahl dem Täter durchschnittlich ein. Manchmal ist es deutlich mehr, manchmal gibt es gar nichts. Der Anwalt des Wiederholungstäters Bekim B. glaubt, genau dies stelle einen Teil des Reizes dar. „Es ähnelt einer Wundertüte.“ Noch lukrativer wird das Verbrechen, wenn man bedenkt, dass nur jede 25. zur Anzeige gebrachte Tat aufgeklärt wird. Und dass die zu erwartenden Strafen vergleichsweise niedrig sind. Die meisten Fälle werden vor dem Amtsgericht verhandelt. Paragraf 242 des Strafgesetzbuchs besagt zwar, dass Diebstahl mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren geahndet werden kann. Doch vor seiner vierten Verurteilung muss kein Taschendieb ins Gefängnis. Ein Ermittler, der nicht genannt werden möchte, sagt frustriert: Angesichts der Erfolgsaussichten und geringen Strafen verstehe er „keinen, der Wohnungseinbrüche begeht. Ich verstehe auch keinen, der auf der Straße jemanden ausraubt.“
In seinem Dezernat 26 hat Kriminaloberrat Lothar Spielmann rund 50 Beamte, die gegen Taschendiebe ermitteln. Zu manchen Großveranstaltungen können geschulte Kollegen angefordert werden. Wie am 6. Juni dieses Jahres, beim Champions-League-Finale, Turin gegen Barcelona. Anti-Diebstahl-Beamte aus Norwegen, Belgien und Frankfurt waren da. Die Münchner Ermittler, sehr begehrt, weil oktoberfestgestählt, konnten leider nicht kommen. Im Olympiastadion selbst passierte kein einziger Diebstahl. Aber danach, als die Fans den kurzen Weg zwischen Ausgang und U-Bahn-Station nehmen mussten, passierten umso mehr. Hervorragend habe sich das Gedränge etwa für den „Umarmungs-Trick“ geeignet.
Scheinbar spontan auf das Opfer zugehen, Feierlaune simulieren und freudig umarmen. Zeitgleich den Körper nach Wertvollem abtasten.
„Ein wüstes Geklaue“ war das, sagt Spielmann. „Die Diebe mussten bloß an der richtigen Stelle stehen und zugreifen – wie der Bär bei der Lachswanderung.“
Um die Rekordzahlen bei Taschendiebstählen zu senken, will die Berliner Polizei aufklären. Zum Beispiel im Internet. Ende September informierte sie zehn Tage lang über jede einzelne Tat auf Twitter. Über die schottische Touristin, die beim Abendspaziergang bemerkte, dass jemand ihr Geld und ihre Zahnprothese gestohlen hatte. Über den Mann, der eine Geldbörse zum Fundbüro bringen wollte und auf dem Weg seine eigene verlor. Über den Täter, der nach seiner Festnahme sagte: „Ich musste das Handy klauen, weil mir mein iPod gestohlen wurde.“
Die Zahl 32 121 müsste es nicht geben, glaubt Lothar Spielmann. „Viele Opfer machen es dem Täter zu leicht.“ Wichtigste Regel: Geldbeutel gehörten entweder in die vordere Hosentasche oder die Innentasche des Mantels, aber nur, wenn die einen Reißverschluss hat. Wer sein Portemonnaie dagegen hinten in der Gesäßtasche trage und bisher nicht bestohlen wurde, habe einfach großes Glück im Leben gehabt.