Hessenwahl: Die große Koalition schleppt sich ins Ungewisse
Die Hessen haben CDU und SPD eine deftige Abreibung verpasst. Viele fassen jetzt gute Vorsätze. Aber haben sie auch die Kraft, sie umzusetzen? Eine Reportage.
Helge Braun ist von Gemüt und Berufs wegen Optimist, aber der Satz muss jetzt raus. „Das ist natürlich für die CDU ein schweres Ergebnis“, sagt der Kanzleramtsminister. Michael Grosse-Brömer neigt auch eher der Sonnenseite zu, aber was hilft’s? „Na ja, kein schönes Ergebnis heute für uns“, sagt der Fraktionsgeschäftsführer der Union. Fehlt also nur noch Annegret Kramp-Karrenbauer: „...für die CDU schmerzhaft“.
Im Foyer des Konrad-Adenauer-Hauses blickt das vorwiegend jungunionistische Publikum am Sonntagabend betreten auf die Fernsehschirme mit den Prozente-Balken. Zehn Prozent bei einer Landtagswahl zu verlieren ist kein Grund zum Jubeln. Und trotzdem klingen die Parteioberen irgendwie pflichtschuldig zerknirscht. Insgeheim haben sie vorhin oben im Präsidiumszimmer wahrscheinlich aufgeatmet. Das große Wahlziel, sagt die Generalsekretärin, sei erreicht: Wenn die Hochrechnungen stimmen, kann Volker Bouffier in Hessen mit den Grünen weiterregieren.
Dass das unmittelbar mit dem zweiten, noch viel größeren Wahlziel zusammenhängt, erwähnt Kramp-Karrenbauer nicht, aber das weiß sowieso jeder im Saal: Wenn Bouffier weiterregieren kann, kann es Angela Merkel auch. Umgekehrt wäre es schwieriger geworden, um das mal ganz vorsichtig zu formulieren. Aber der Konjunktiv, das „wäre“, „hätte“, „könnte“ hat seit 18 Uhr keine rechte Konjunktur mehr im Berliner politischen Sprachgebrauch. Man weiß ja jetzt, woran man ist.
Die Landtagswahl lässt sich nämlich sehr einfach deuten. Die Hessen haben ihrer schwarz-grünen Landesregierung bestätigt, dass sie ihr nicht böse sind. Sie haben zugleich der großen Koalition eine deftige Abreibung verpasst. Und sie taten es mit voller Absicht. Kurz bevor Kramp-Karrenbauer auf dem Podium erscheint, sind auf den Fernsehschirmen zwei sehr eindrucksvolle Balken zu sehen. Die Hälfte der Wähler, die die Demoskopen draußen vor den Wahllokalen befragt haben, nannten die Klatsche für die Bundespolitik als zentrales Wahlmotiv. Von denen, die der CDU den Rücken kehrten, waren es sogar 71 Prozent.
„Die bundespolitische Kulisse hat voll durchgeschlagen“, sagt Bouffier in Wiesbaden. „Es liegt mit Sicherheit auch am Erscheinungsbild der großen Koalition“, räumt Kramp-Karrenbauer ein. „Der Zustand dieser Regierung ist nicht akzeptabel“, sagt im Willy-Brandt-Haus die SPD-Chefin Andrea Nahles. Und dann liefern sich die CDU-Frau und die SPD-Frau eine Art Fernduett der guten Vorsätze: „Wir müssen besser werden“, fordert Angela Merkels Generalin. „Es muss sich in der SPD etwas ändern“, fordert die SPD-Vorsitzende.
Die CSU schweigt
Man sollte vielleicht an dieser Stelle schon mal anmerken, dass vom Dritten im Koalitionsbund zu alledem recht wenig zu hören ist. Die CSU schweigt. Nur Generalsekretär Markus Blume muss später am Abend in der traditionellen Fernsehrunde auftreten und unverfängliche Sätze sagen wie den, dass die Unionsparteien wieder zu ihrer alten Bindekraft zurückfinden müssten.
Mit etwas Böswilligkeit könnte man darauf antworten, dass es vielleicht auch gereicht hätte, wenn die CSU weniger Sprengkraft entfaltet hätte. Aber selbst Kramp-Karrenbauer hat vorhin nur im Nebensatz angedeutet, dass der Einbruch in den Umfragen zeitlich genau mit dem Flüchtlingsstreit zusammengefallen ist, der die Union im Sommer fast auseinandergetrieben hätte.
Auch Bouffier verkneift sich Kommentare, obwohl er auf Horst Seehofer ziemlich sauer ist. Erstens nützt das im Nachhinein ja nun nichts mehr, und zweitens würde es alle Schwüre gleich wieder zunichte machen, dass man in Berlin aber wirklich anfangen wolle zu arbeiten, anstatt zu streiten. Das Ergebnis, mahnt Bouffier, müsse ein „Weckruf“ sein.
Der nächste Krach droht
Den Vorsatz verkünden auch alle, nur zeigt schon der flüchtige Blick am Wahlabend: Jeder meint ihn anders. Drei große Projekte schlägt die CDU-Generalin vor; die solle sich die Koalition vornehmen und „gemeinsam konzentriert und geschlossen“ abarbeiten. Das klingt wieder fast wie ein Duett mit Nahles, die für diesen Montag einen „Fahrplan“ für gemeinsame Vorhaben ankündigt.
Nur ziehen der christdemokratische und der sozialdemokratische Zug wieder nicht in eine Richtung, sondern steuern eher ziemlich frontal aufeinander zu. Kramp-Karrenbauer nennt als ihre drei Punkte die rasche Umsetzung der Digitalisierungskapitel im Koalitionsvertrag – da dürfte die SPD nichts gegen haben. Die Punkte zwei und drei, Aufbau der Bundeswehr und Stärkung der inneren Sicherheit, stehen auf der SPD-Agenda nicht weit oben. Den Sozialdemokraten, so viel sickert über Nahles’ Plan vorab durch, liegt viel mehr am Gute-Kita-Gesetz und den Plänen für den sozialen Wohnungsbau. Da droht gleich der nächste Krach.
Ohnehin bleibt die Frage, ob die, die da Vorsätze fassen, überhaupt noch die Kraft haben werden, sie umzusetzen. Alle drei Parteichefs sind angeschlagen in den Wahlabend gegangen. Sicher, die schlimmsten Befürchtungen sind nicht eingetreten: Die SPD ist eingebrochen, aber die Grünen haben sie nicht mit fliegenden Fahnen überholt. Die CDU hat massiv verloren, aber sie kann weiter regieren, notfalls im Jamaika-Bund mit Grünen plus FDP – für ein alternatives Linksbündnis aus Grünen, SPD und Linken fehlte schon rechnerisch die Mehrheit.
Merkel denkt nicht ans Aufgeben
Aber Merkel, Nahles und Seehofer wissen selber, dass die Debatte über ihre Zukunft längst eröffnet ist. Der CSU-Chef weiß es am deutlichsten. In zwei Wochen soll in Bayern die neue Regierung stehen, dann endet die selbst auferlegte Friedenspflicht. Ein Sonderparteitag ist kaum mehr aufzuhalten. Seehofer hat für seine Verhältnisse lange nichts mehr von sich hören lassen, dafür melden sich immer mehr Kritiker zu Wort. Der vorerst letzte, der den personellen Neuanfang forderte, war Entwicklungsminister Gerd Müller. Der Schwabe gilt als eigenständiger Kopf ohne persönlichen Ehrgeiz oder nennenswerte Gefolgschaft, das verleiht seiner Wortmeldung spezielles Gewicht.
Nahles’ Stellung bleibt ebenfalls prekär, auch wenn selbst der notorischste Gegner der großen Koalition, der Juso-Chef Kevin Kühnert, doppeldeutig twittert, es sei jetzt erst mal wieder fünf vor elf statt fünf vor zwölf: „Gut, dass letzte Nacht Zeitumstellung war.“
Und Merkel? Die Lage ist ein bisschen sonderbar. Die Vorsitzende habe klar angekündigt, dass sie sich beim Parteitag im Dezember zur Wiederwahl stellen werde, sagt Kramp-Karrenbauer auf die Chefin angesprochen und frozzelt: „Ich habe bis zur Stunde keine anderen Signale.“ Tatsächlich hatte Merkel im ganzen Hessen-Wahlkampf nicht den Eindruck von jemandem vermittelt, der ans Aufgeben denkt.
Ihre Kritiker verhalten sich denn auch vorsichtshalber uneindeutig. Zwei baden-württembergischen Abgeordnete, Matern von Marschall und Christian von Stetten, fordern „neue Personen“ in der Parteispitze. Direkt auf Merkel zu zielen, trauen sie sich nicht. Jens Spahn, Hoffnungsträger vieler CDU-Konservativer, bleibt noch wolkiger. „Ich finde, eine reine Personaldebatte greift da zu kurz. Das reicht nicht, es geht ja um mehr“, sagt der Gesundheitsminister; die aktuellen Wahl- und Umfrageergebnisse seien nämlich keine „kleine Delle“, sondern Zeichen für ein Strukturproblem.
Eine Nachfolge ist nicht in Sicht
Das kann man so sehen. Spahn und alle anderen, die sich Hoffnung auf Merkels Nachfolge machen, haben allerdings ihrerseits auch ein Strukturproblem: Um die Kanzlerin direkt herauszufordern, ist es wahrscheinlich ein bisschen zu früh. Spahn zum Beispiel braucht eigentlich noch Zeit, um das scharfe Profil des konservativen Flügelmanns mehrheitstauglich abzuschleifen. Kramp-Karrenbauer braucht Zeit, um ein Profil als programmatisch starke Generalsekretärin aufzubauen. Auch jemand wie der Nordrhein-Westfale Armin Laschet, der als Chef des mit Abstand größten Landesverbands quasi automatisch zu den Anwärtern auf die CDU-Führung zählt, käme auch nicht von sich aus auf die Idee, eine amtierende CDU-Chefin herauszufordern. Denn allen dreien ist obendrein klar, dass Merkels Sturz von der Parteispitze das Ende der Kanzlerin auf dem Fuß folgen würde. Neuwahlen aus dem Stand heraus – bei den aktuellen Umfrageständen ist das keine wirklich verlockende Aussicht.
Dass der Konjunktiv weiter das politische Berlin bestimmt, ist es aber auch nicht. Bei der CDU-Vorstandsklausur am kommenden Wochenende, tuscheln welche, könnte auch über Personalfragen geredet werden. Beim CDU-Parteitag Anfang Dezember, mutmaßen andere, könnten sich ja außer den drei weitgehend unbekannten CDU-Mitgliedern, die gegen Merkel kandidieren wollen, noch ernsthafte Kandidaten finden.
Könnten, vielleicht, eventuell. Nur eins scheint man also ziemlich sicher sagen zu können nach dieser Wahl: Wenn sich die Hessen mit dem Stimmzettel ruhiges Regieren gewünscht haben sollten – das wird dann wohl wieder nichts.