Terroralarm in Chemnitz: Die Flucht des Jaber Albakr
Experten zufolge ist er besonders gefährlich. In Berlin wird seinetwegen ein Flugzeug gestürmt. Doch vom 22-jährigen Syrer Jaber Albakr fehlt weiter jede Spur. Eine Übersicht.
Sonntagmorgen, 9.20 Uhr. Die Eurowings-Maschine auf dem Flughafen Berlin-Tegel ist voll besetzt, die Passagiere warten auf den Abflug nach Düsseldorf. Da ertönt eine Durchsage des Kapitäns: Es gebe noch ein paar Zahlen zu klären, dann gehe es los. Zahlen? Minuten später stürmen drei bullige Bundespolizisten in Uniform ins Innere, dazu einer in Zivil. Durch den Mittelgang laufen sie in den hinteren Teil, geradewegs auf einen dunkelhaarigen Mann mit gestutztem Bart zu. Ein Bundespolizist beugt sich zu ihm hinunter und sagt, er solle aufstehen. Die Beamten eskortieren ihn zum Ausgang.
Kurz darauf eine zweite Durchsage: Es geht gar nicht um Zahlen. Es geht um Terrorverdacht. Ein Passagier habe den Mann „für einen Gesuchten gehalten“, sagt der Kapitän.
Tatsächlich sieht der Abgeführte dem Mann ähnlich, nach dem die Polizei seit Sonnabend bundesweit fahndet: Jaber Albakr, 22. Der Syrer soll in Chemnitz einen Sprengstoffanschlag geplant haben. In Tegel rückt die GSG9 an, die Maschine wird geräumt. Schließlich könnte der Verdächtige eine Bombe an Bord versteckt haben. Der Kapitän entschuldigt sich: „Wir leben in wilden Zeiten.“ Eine Stunde später heißt es, der Abgeführte sei Bosnier. Ein Fehlalarm.
Derselbe Sprengstoff wie in Paris
Jaber Albakr, der Gesuchte, ist weiter auf der Flucht. In einer Chemnitzer Plattenbausiedlung soll der Syrer seinen Anschlag vorbereitet haben, bei der Durchsuchung einer Wohnung fanden Beamte größere Mengen Acetonperoxid, kurz TATP. Das hochexplosive Gemisch wurde auch von den Attentätern in Paris und in Brüssel benutzt. Jaber Albakr war bereits zwei Wochen lang observiert worden, soll Verbindungen zur Terrormiliz „Islamischer Staat“ haben. Bei der Stürmung der Wohnung glaubten die Beamten zunächst, Jaber Albakr befinde sich im Gebäude.
Am Tag danach ist das Hochhaus in der Usti nad Labem Straße, Nummer 97, noch weiträumig abgesperrt.
Das Wohngebiet Fritz Heckert liegt im Südwesten der Stadt, schön gestrichene Platte am Rand einer breiten Straße. Mehrere Mannschaftswagen und ein Feuerwehrauto parken. Das Haus selbst ist leer, nur im dritten Stock laufen Spurensicherer in weißen Ganzkörperanzügen über den Gang. Alle Bewohner mussten das Haus verlassen. Weil man nicht wusste, ob sich der Gesuchte noch hier versteckte. Oder ob weiterer Sprengstoff deponiert war.
Der 22-Jährige soll ein Profi sein
Die Sicherheitsbehörden halten Jaber Albakr für besonders gefährlich. „Wir glauben, das ist ein Profi“, sagt ein hochrangiger Experte. Er nennt zwei Gründe. Erstens sei Albakr am Sonnabend einer Spezialeinheit der Polizei entkommen. Sie versuchte vergeblich, ihn mit einem Warnschuss zu stoppen.
Zweitens nahm Albakr offenbar von Syrien aus eine andere Route nach Deutschland als die bisher bekannt gewordenen Dschihadisten des IS. „Wäre Albakr den üblichen Weg gekommen, über Lesbos oder Leros und dann über die Balkanroute, hätten wir es mitgekriegt“, heißt es. Sie trauen ihm zu, eine wichtige Figur in einem größeren Terrorplan zu sein.
Es gebe Hinweise, der IS wolle den Luftverkehr zwischen der Türkei und den Flughäfen Frankfurt sowie Düsseldorf angreifen, sagen Experten. Der Plan gehe auf den im August bei einem Luftangriff gestorbenen IS-Sprecher Abu Mohammad al Adnani zurück. Dessen Verlust traf den IS schwer. Adnani hatte nicht nur die Propaganda der Terrormiliz dirigiert, sondern auch ihre Geheimdienste. Eine dieser Schattenorganisationen hat womöglich Jaber Albakr nach Deutschland geschleust.
Generalbundesanwaltschaft übernimmt die Ermittlungen
Am Sonntagabend übernimmt dann die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe die Ermittlungen, wegen der besonderen Bedeutung des Falls. Es bestehe der Verdacht einer schweren, staatsgefährdenden Gewalttat, die nach § 89a StGB strafbar ist. Eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft spricht außerdem aus, was von offizieller Seite bisher allenfalls nicht ausgeschlossen wurde. Die Ermittlungen deuten auf "einen islamistisch motivierten Anschlag" hin.
Kurz darauf aktualisiert die Polizei Sachsen ihren Fahndungsaufruf. Der 170 bis 175 Zentimeter große Albakr soll einen "schlurfenden Gang" haben, ohne Körperspannung. Besonderes Merkmal sei ein etwa fünf Millimeter großes Muttermal auf der linken Wange in Höhe des Mundwinkels. Außerdem halte er den Kopf oft schräg.
Eine fertige Bombe hat die Polizei nicht gefunden
Vor zwei Wochen haben das Bundesamt für Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst die sächsische Polizei vor Albakr gewarnt, seitdem lief die Observation. Der 22-Jährige wolle Sprengsätze bauen und einen Flughafen in Deutschland angreifen, hieß es. In Chemnitz selbst soll der Syrer keinen Angriff geplant haben.
Anfang 2015 reiste Albakr illegal in Deutschland ein, ließ sich im bayerischen Rosenheim als Flüchtling registrieren. Ihm wurde eine Unterkunft in der Umgebung von Leipzig zugewiesen. Doch der Syrer begab sich zu einem Landsmann nach Chemnitz. In dessen Wohnung fand die Polizei nun den Sprengstoff. Das TATP wurde noch vor Ort in einem extra ausgebuddelten Loch unschädlich gemacht. Am Sonntag ist das Loch bereits wieder zugeschüttet. Was bleibt, ist ein rostbraun festgetretener Erdfleck in der Mitte eines kleinen Rasenstücks.
Die Polizei sagt, eine fertige Bombe habe sie bei ihrem Einsatz am Sonnabend nicht gefunden. Was aber nicht heißt, dass Albakr keine besitzt. Und womöglich bereit ist, sie irgendwo in Deutschland zu zünden.
Polizeieskorte ins Haus
Im Chemnitzer Wohngebiet Fritz Heckert dürfen am frühen Nachmittag einzelne Bewohner mit Polizeieskorte das Haus betreten, um sich das Nötigste aus ihren Wohnungen zu holen. Ein Pärchen steigt durch die Absperrung nach draußen. Die beiden erzählen, ihre Wohnung liege im ersten Stock. Dass zwei Etagen über ihnen jemand mit Sprengstoff bastelte, schockiert sie. „Darüber darf man gar nicht nachdenken.“ Wann sie zurückdürften? Nicht vor Montagmittag, habe die Polizei gesagt. Der Chemnitzer Hauptbahnhof sieht am Sonntag dagegen aus wie immer. Hier nahm die Polizei am Vortag zwei Männer fest, einen weiteren in der Innenstadt. Es hieß, die drei stünden in Kontakt zu Jaber Albakr. Zwei von ihnen sind wieder frei, gegen den Dritten besteht der Verdacht einer Mittäterschaft. Bei der Festnahme der Männer am Bahnhof war zudem ein verdächtiger Koffer gefunden worden, an den Gleisen fünf und sechs, wo der Zug nach Leipzig hält. Das Bombenräumkommando rückte an. Die Verkäuferin vom Imbissstand schräg gegenüber erinnert sich an den Roboter, der den roten Koffer untersuchte. Nichts Neues, sagt sie, nichts Besonderes, hier blieben immer wieder Taschen stehen, die dann kontrolliert würden. „Ich bin nur erstaunt, dass der Roboter diesmal so groß war“, sagt sie.
Kontrollen in Tegel und Schönefeld verstärkt
Die Polizei hält es für möglich, dass der Gesuchte per Flugzeug aus Deutschland flüchten möchte. Deshalb wurden am Sonntag die Kontrollen in Tegel und Schönefeld verstärkt, zahlreiche Passagiere verpassten ihre Flieger. Am Berliner Hauptbahnhof zeigt die Bundespolizei dagegen wenig Präsenz – jedenfalls verglichen mit den vorangegangenen Terrorlagen, zum Beispiel nach den Anschlägen von Paris und Nizza. Die übliche Doppelstreife ist bloß um einen dritten Mann mit umgehängter Maschinenpistole verstärkt worden. Ansonsten gilt die übliche Aussage der Sicherheitsbehörden aus den vergangenen Monaten: Es gebe keinen Grund, die „ohnehin hohen Standards noch einmal zu erhöhen“.
Rechtsradikale sehen sich bestätigt
Und wie geht es jetzt in Chemnitz weiter? Die Frage ist, wie schnell die Bürger zur Normalität zurückkehren – und was der Vorfall für die hier lebenden Migranten bedeutet. Manche in der Stadt fühlen sich bestätigt. Sie haben seit Monaten vor Merkels Flüchtlingen gewarnt. Die rechtspopulistische „Bürgerbewegung Pro Chemnitz“ plant für Montag in Sichtweite des abgesperrten Wohnhauses eine „Demonstration gegen den Terror“. Mitglieder der Gruppe haben Kontakte zur rechtsextremen NPD sowie zur militanten Naziszene, hetzen immer wieder gegen Flüchtlinge und Asylbewerberheime. In der Demo-Ankündigung heißt es: „Es ist nicht mehr weit weg. Es hat unsere Heimat erreicht. Keiner kann sich mehr verstecken.“
Ein wütender Nachbar
Am Rand der Fritz-Heckert-Siedlung geht am Sonntag ein alter Mann mit seinem Hund spazieren. Gemeinsam mit seiner Frau wohnt der 80-Jährige nur 200 Meter vom Haus 97 entfernt. Direkt betroffen sei er nicht gewesen von dem Einsatz, sagt er. Er habe aber, und er wird ein wenig laut, als er das erzählt, an diesem Tag nicht zu seinem Schrebergarten gehen können. Überrascht hat ihn der Einsatz nicht: „...weil hier so viele Asylanten wohnen“. Am Tag des Einsatzes hätten die Bewohner seines Hauses protestiert. Was sie gewollt hätten? „Na, dass die Asylanten wieder abhauen!“
Er sieht es genauso. Dann erzählt er von tunesischen Räuberbanden, die angeblich in der Gegend 90 Wohnungen aufgebrochen hätten, und von jungen Flüchtlingen, die nur Fußball spielen und nicht arbeiten wollten. Seine Frau, sagt er, traue sich wegen der neuen Nachbarn gar nicht mehr, alleine mit dem Hund spazieren zu gehen. Dann muss er weiter. Seine Frau wartet. Sie wollen sich das Loch vor dem Haus mit der Nummer 97 anschauen.
Am späten Nachmittag durchsucht die Polizei eine zweite Wohnung, am anderen Ende der Stadt, in einer weiteren Plattenbausiedlung. Beamte brechen die Balkontür auf. Jaber Albakr finden sie nicht. Während drinnen Spuren gesichert werden, versammeln sich draußen Anwohner und filmen mit ihren Handys. Sie sind sich einig: Die Flüchtlinge stellen eine Gefahr dar. Ein Anwohner sagt, man solle „das ganze Viehzeug herauswerfen“. Sein Nebenmann sagt, er würde am liebsten das Maschinengewehr zücken.