Gewerkschaft der Häftlinge: Der Mann, dem die Knackis vertrauen
Mindestlohn, Rente, ein Ende der Zwangsarbeit: Oliver Rast kämpft für die Rechte von Häftlingen. Er war ja selbst einer, saß wegen Brandstiftung – und gründete in Berlin eine Gewerkschaft. Streik oder Meuterei?
Sie sitzen um Tische herum, zu fünft oder zu sechst, in dieser großen Halle. Vor ihnen Kartons, die sie sortieren, Metallteile, die sie aus Gussfassungen herausbrechen, kleine Berge von Plastikformen, die langsam abgearbeitet werden. Es wird geplaudert, alles geht seinen Gang. Doch keiner der Arbeiter ist freiwillig hier. Sie sind Gefangene in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel. Gehalt: zwischen 9,41 Euro und 15,69 Euro. Am Tag.
Etwas abseits steht ein Justizbeamter, 80 Gefangene hat er normalerweise zu beaufsichtigen. Nur 53 von ihnen sind zur Arbeit erschienen. Wer sich der Arbeit verweigert, erzählt der Aufseher, kriegt drei Monate überhaupt kein Geld. Und wenn einer gar nicht arbeiten will? „Dann erinnert man ihn halt an die Konsequenzen“, sagt der Wärter.
Im deutschen Grundgesetz kommt die Zwangsarbeit gleich nach dem Recht aller Deutschen, ihren Beruf und Arbeitsplatz frei wählen zu dürfen. Artikel 12, Absatz 3: „Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.“ Arbeiterrechte, die über Jahrzehnte draußen erkämpft wurden, gelten hier drin nicht. Keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, keine Rentenversicherung, kein Mindestlohn. Und keinen, den das interessiert. Fast keinen.
An einem Wintermorgen sitzt Oliver Rast am Schreibtisch des Roten Antiquariats in Berlin-Mitte, einer Buchhandlung für „seltene Socialistica“ und Kampfschriften aus der Geschichte der Arbeiterbewegung. Neben ihm stehen meterweise Marx- und Engels-Bände in den Regalen, Bebel- und Lenin-Statuen schmücken sie. Es gibt Mao-Büsten hier und eine von Stalin, Rosa Luxemburgs „Gesammelte Werke“ in einer Ausgabe von 1928. Mit Büchern zu handeln, ist jetzt Rasts Beruf. Aber er weiß, wie es ist, in einer dieser Hallen im Gefängnis zu arbeiten.
Ausweislich seiner blassgrünen Haftanstalten-Hauskarte ist er Ex-Gefangener, Buch-Nummer: 2355/07-6, Beutel-Nummer: 413. „Diese Karte ist beim Verlassen des Haftraumes mit sich zu führen!“ steht darauf. Rast ist Jahrgang 1972, Stoppelbart und Kurzhaar, Sportklamotten, die ein bisschen spannen. Er war von 2011 bis 2014 in Berlin hinter Gittern, unter anderem in der JVA Tegel. Verurteilt wegen versuchter Brandstiftung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, der linksradikalen „militanten gruppe“. Heute ist er so etwas wie Deutschlands oberster Einforderer von Verbrecherrechten. Jedenfalls für jene Kriminellen, die vor einem Richter gestanden und ein Urteil samt Haftstrafe empfangen haben. Er sagt: „An der Werkbank kommen in Tegel um 6.55 Uhr alle zusammen und wissen, dass mit ihnen Billiglöhnerei gespielt wird.“
Vor zweieinhalb Jahren hat Rast während seiner Haft die Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG-BO) gegründet. Zusammen mit einem Mann, der wegen Erpressung und Anstiftung zum versuchten Mord nebst besonderer Schwere der Schuld verurteilt worden war – lebenslänglich. Ein Interview mit ihm untersagt die Gefängnisleitung kurzfristig wieder.
Vor Rast stapeln sich Zuschriften, größtenteils aus Gefängnissen quer durch Deutschland. Handgeschrieben, mit schiefen Buchstaben: „Hier ein Brief aus Aichach, dem größten Frauenknast in Bayern ... hier von unserem Mann in Großbeeren, in Dresden, Halle ... hier aus Butzbach, von unserem Superaktivisten ...“ Als Gewerkschaft ist die GG-BO eine windschiefe Klitsche, fast ohne jede Infrastruktur. Kein starker Arm, sondern eher ein improvisiertes Syndikatsimitat, sehr dünn aufgestellt: 1000 Mitglieder habe sie, sagt Rast, in 75 bis 90 Gefängnissen, das sind nicht einmal zwei Prozent aller Gefangenen. Größenordnung Spartengewerkschaft. Die GG-BO ist ein Papiertiger: Mit ihren Mitgliedern und Aktiven steht sie größtenteils nur postalisch im Kontakt.
Aber die Gewerkschaft hat in den ersten Jahren einige Aktionen gestartet. In der JVA Butzbach in Hessen, zum Beispiel, habe man den stärksten Kampf bisher ausgefochten, erzählt Rast, mit einem kombinierten Hunger- und Bummelstreik. Dabei ist ein Aufruf zum Streik - ureigenste Gewerkschaftstaktik - in einem Gefängnis eine ganz heikle Sache: Das kann in einer JVA leicht als Aufruf zur Meuterei ausgelegt werden, ein Vergehen, für das es „Nachschlag“ gibt, also Strafverlängerung.
Die Ziele in Butzbach waren dieselben wie überall: Mindestlohn und Einbeziehung in die Sozialversicherung, Aufhebung der Arbeitspflicht. Zwar wurde keines der Ziele erreicht, Rast wertet aber die erhöhte Aufmerksamkeit für die Lage der Häftlinge als ersten Erfolg. Vor allem geht es ihm darum, auch in der Politik Gehör zu finden, mitzubestimmen.
Rast hat deshalb genau hingesehen, als der neu gewählte rot-rot-grüne Senat in Berlin seine Arbeit aufnahm. Er wusste, dass er in der neuen Regierung einen Verbündeten hatte. Oder besser: Er dachte es.
„So langsam gönne ich dem Kollegen nicht die 100 Tage Schonfrist, die hat er jetzt schon versaut“, sagt Rast. Der „Kollege“ ist Berlins neuer grüner Justizsenator Dirk Behrendt, einstiger Unterstützer von Rasts Forderungen. Seit er regiert, erkennt Rast ihn nicht wieder. Dabei hatten sie doch zusammen einmal den „Aufruf für ein liberales und progressives Strafvollzugsgesetz in Berlin“ verfasst.
Noch im Februar waren sich beide begegnet, als sie das von der alten Koalition aus SPD und CDU beschlossene Strafvollzugsgesetz angeprangerten. Auf einer Diskussionsveranstaltung in der Humboldt-Universität saßen sie nebeneinander. Behrendt im Anzug, Rast in seiner schwarzen Fleecejacke - sie knöpften sich gemeinsam den damaligen Justizsenator Thomas Heilmann und seinen Gesetzentwurf vor.
Rast forderte, dass Häftlinge „nicht länger nur in Crime-Storys oder Polizeiberichten auftauchen, sondern selbst als handelnde Subjekte verstanden werden“ sollten. Und schimpfte auf die „Sonderwirtschaftszone Knast“.
Und auch Dirk Behrendt, damals noch in der Opposition, kritisierte den Gesetzesvorschlag: Er bilde bloß den Status quo im Vollzug ab, sei aber mutlos, eine vertane Chance, dringend gebotene Verbesserungen aufzugreifen.
Die Arbeit in Berlins Knästen abzuschaffen, das fordert ja nicht einmal Rast. Aber wie gearbeitet wird, unter welchen Umständen und zu welcher Bezahlung, darüber müsse man doch reden können. Mitte Dezember ist Rast deshalb zum Abgeordnetenhaus gefahren und traf sich mit einem von Behrendts Mitarbeitern. Er las den Koalitionsvertrag, fand dort aber wenig zu den einst gemeinsamen Anliegen. Wo sind die bloß geblieben?
Justizsenator Behrendt ist nicht zu sprechen in diesen Tagen. Die Einarbeitung ins Amt wohl, das neue Team. Schriftlich aber könne er Fragen beantworten.
Was einst nach Reformwillen klang, klingt im Senatorendeutsch jetzt so: „Derzeit sind wir dabei, die Strafvollzugsvergütungsverordnung zu aktualisieren. In diesem Zusammenhang werden wir auch prüfen, ob eine Erhöhung der dort festgelegten Lohnstufen möglich ist.“ Zu viel Hoffnung, das wird zwischen den Zeilen klar, brauche sich aber niemand zu machen: „Wir leben (...) nicht im luftleeren Raum - wir werden uns dabei mit unseren Koalitionspartnern abstimmen, und auch auf den Haushalt müssen wir achten."
Mit anderen Worten: In den Verhandlungen mit der Linken und der SPD haben sich die Grünen etwas mehr Kilometer für Radwege erstritten, nahmen dafür aber offenbar Abstand vom Arbeitskampf in den Haftanstalten.
Koalitionsarithmetik nennt sich das und Oliver Rast macht es furchtbar wütend. Auch weil er weiß, dass der große Besprechungstisch im Büro des Justizsenators in gefängniseigenen Betrieben hergestellt wurde. Die Stühle, auf denen Dirk Behrendt als Oppositionspolitiker im Abgeordnetenhaus saß, übrigens auch.
Was Rast Zwangsarbeit nennt, ist in den Augen der Justiz ein Mittel der Resozialisierung. In der großen Halle der JVA Tegel gießen vier Häftlinge, Anfang 20, feixend das Material für Brandschutzmatten in eine Form. Manche haben noch nie im Leben auf legale Weise gearbeitet, für sie ist es Training, mehrere Stunden am Stück durchzuhalten, mit dem Essen zu warten, bis Pause ist.
Normalerweise kriegt jeder Häftling nur ein Taschengeld von 1,76 Euro am Tag. Wer etwas dazuverdient, hat mehr übrig für Zigaretten, zum Telefonieren. Die Gefangenen können Schokolade oder Kaffee im Gefängnisshop kaufen oder bei einem Lieferanten bestellen. Ein Teil des Lohns wird für die Entlassung angespart, der andere wird auf ein Konto ausgezahlt, über das die Gefangenen frei verfügen können. Bargeld ist verboten.
Die Aufträge für die Gefängnisbetriebe sind ganz unterschiedlich. Das hänge ab vom Tagesgeschäft, meint einer der Aufseher. Mal gibt es gegossene Teile zu reinigen, Qualitätskontrolle, oder kleine Schalter für einen Druckknopf einzubauen. Auftragsspitzen von Firmen, die gerade keine Kapazität haben. Oder es werden Glückwunschkarten geliefert, die hier zusammen- und dann in Briefumschläge gesteckt werden. Je nach Art und Schwere der Arbeit gibt es fünf Lohnstufen und verschiedene Zulagen.
Ist das nun Arbeit? Beschäftigungstherapie? Billiglöhnerei? Jedenfalls ein Arbeitsverhältnis, „das von keiner Seite freiwillig eingegangen wurde“, wie es das Berliner Kammergericht in einem Urteil ausdrückt. Damit hat es Rasts GG-BO den Status einer vollen Gewerkschaft abgesprochen. Es gibt keine Arbeitsverträge, der Einsatz ist „Folge gesetzlichen Zwangs“. Und: Arbeit gehöre eben einfach zum „auferlegten Strafübel“ dazu.
Auf jeden Fall wird mit der Arbeit ein Geschäft gemacht. Was die Gefangenen erarbeiten, dient nicht nur dazu, öffentliche Gelder einzusparen, weil kein externer Dienstleister in den Knästen putzen, kochen und tischlern muss. Die Waren und Dienstleistungen werden auch verkauft, erzielen Gewinne, vom Weihnachtsbasar bis zum Triebwerkshersteller MTU, der in der JVA Straubing in Bayern eine Werkhalle betreibt.
In Berlin hat der Senat 2015 etwa 1,7 Millionen Euro mit Leistungen und Produkten aus den Berliner Gefängnissen eingenommen. Die Kosten für Löhne und Material sind allerdings deutlich höher. Zusätzlich entlasten die Justizvollzugsanstalten den Berliner Haushalt dadurch, dass sie Leistungen im Wert von 4,3 Millionen Euro an andere Landesbehörden liefern.
In Tegel etwa gibt es eine Druckerei, eine Polsterei, eine Buchbinderei, eine Gärtnerei, eine Tischlerei, eine Glaserei, einen Sortier- und Montagebetrieb, die für interne und externe Auftraggeber drucken, leimen, polstern, tischlern, sortieren und montieren, mit einem Wort: arbeiten. In Berlin sind es vor allem verschiedene Senatsabteilungen, die hier Formulare drucken, Aktendeckel kleben, Möbel beziehen und Wäsche waschen lassen.
Oliver Rast hat die Haft verändert. Als er, der hochtourige Linksradikale, im Gefängnis „aufschlug“, habe er die Gelegenheit gehabt, mit allerlei „polit-ideologischem Gerümpel“ aufzuräumen, wie er das nennt. Rings um ihn hängen im Antiquariat noch immer gut erhalten historische Plakate mit Kampf- und Lektüreaufrufen: „Kein Pfennig den Fürsten“, „Nur im gemeinsamen Ansturm werden wir siegen“, „Lest die kommunistische Presse - Abonniert sofort die ,Neue Zeitung!“ Rast verwahrt sie hinter Schutzfolie.
„Ich bin politisch ja ganz schwer gescheitert“, sagt er, „das muss ich auch mal eingestehen.“ Mit der GG-BO mache er jetzt im Grunde, und das meine er „gar nicht mehr despektierlich“, sozialdemokratische Gewerkschaftspolitik. „Das ist um ein Vielfaches höher zu bewerten als die linksradikale Phrase, die ist nur eine Geste, eine Pose, aber real völlig bewegungslos.“
Er ist nicht mehr ganz so agil wie am Tag seiner Haftentlassung. „40 Stunden pro Woche im Antiquariat“, sagt Rast, „noch mal so viel dann für die Gewerkschaft“, das meiste davon im Sitzen, irgendwann werde es kritisch. Er wolle kürzertreten, weg aus Berlin.
Ein paar Wochen später geht Oliver Rast in Wien ans Telefon, wo er wieder in einem linken Antiquariat arbeitet. „Ich war grade bei McFit, Autoaggression abbauen“, sagt er. Immer noch wegen Behrendt? „Hat nicht ganz geklappt, der Kollege spukt in mir herum“, sagt Rast. Gewerkschafter ist er weiterhin. Die GG-BO sei gerade dabei, in Österreich etwas aufzubauen.