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Vom Lernen und Suchen. Seyran Atee, 54, will am Freitag die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin-Moabit eröffnen. Die erste Predigt hält sie selbst.
© Thilo Rückeis

Berliner Moschee für liberale Muslime: "Der Islam gehört nicht den Fanatikern"

An diesem Freitag eröffnet Seyran Ates in Berlin eine Moschee. Dort wird der Koran modern ausgelegt, Frauen können Imam werden - und die Gläubigen dürfen den Propheten kritisieren.

Sie hat lange gehofft, dass jemand anderes es angeht. Vielleicht einer, der den Koran intensiver studiert hat, mehr Suren auswendig kennt. Es kam bloß keiner. Irgendwann, sagt Seyran Ates, habe sie sich gefühlt wie in Becketts „Warten auf Godot“. Da wusste sie, dass sie selbst aktiv werden muss.

In dem kahlen Raum deutet noch nichts darauf hin, dass hier bald ein großer Tabubruch, eine Revolution stattfinden soll. Boden und Fensterfront sind mit Folie abgeklebt, die hohe Decke ist frisch geweißt. Das war mein Bruder, sagt Ates. Der ist Malermeister. Die 90 Quadratmeter könnten jetzt genauso gut zum Café oder Coworkingspace werden. Stattdessen sollen in den nächsten Tagen die Gebetsteppiche und die heiligen Bücher kommen sowie ein paar Stühle für die Alten, und dann wollen sie es am Freitag wagen: die Moschee, die deutschen Muslimen eine echte Alternative bietet.

Geplant ist ein Ort, an dem Frauen und Männer gemeinsam beten können. An dem auch Frauen predigen dürfen, und zwar auf Deutsch. An dem Homosexuelle willkommen sind. Und vor allem: an dem der Koran modern und liberal ausgelegt wird. Das halten manche schlicht für Gotteslästerung. Andere sagen, es war lange überfällig.

Seit sie ihre Idee im Mai 2016 erstmals öffentlich geäußert hat, bekommt Ates zahllose Hilfsangebote. Von anderen Muslimen, die dankbar sind, dass sich mal einer traut. Sie erhält aber auch verärgerte Mails. Manche sind sachlich, das klingt dann so: „Es gibt Dinge, die funktionieren nicht, meine Liebe. In der Moschee möchte ich all den Dreck, den wir Menschen haben - Geld, Sex, Gewalt usw. - draußen lassen. Da kann ich doch nicht der Frau auf den Arsch schauen beim Beten. Geht's noch?“ Andere beschimpfen Ates als Fotze und Hure, als eine, die dringend gefickt gehört. Ates schmunzelt und sagt: „Das irritiert mich. Ich will doch keinen Puff eröffnen, sondern eine Moschee.“

Eine Kirche bietet Unterschlupf

Sechs Mitgründer hat die Berliner Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin für ihr Projekt gewinnen können. Die Moschee, die ihnen vorschwebt, muss erst noch gebaut werden. Deshalb haben sie zunächst diesen Raum angemietet, die Moabiter St.-Johannis-Kirche stellt ihn für ein Jahr zur Verfügung. Es handelt sich um einen ehemaligen Theatersaal. Leicht zu finden ist er nicht: rechts am Kirchenschiff vorbei zum Hintereingang, Treppe hoch in den dritten Stock, dem Geruch der frischen Farbe nach.

Die Moschee soll allen Strömungen des Islams offenstehen. Sunniten, Schiiten, Aleviten, Sufis. Sind denn die Rituale und Gebete kompatibel? Ates sagt: „Wir werden manches ausprobieren müssen. Das wird spannend.“ Ein paar Probleme gelte es bis Freitag noch zu lösen. „Zum Beispiel das hier.“ Ates hält ihr Smartphone waagerecht, öffnet die App namens „Namaz Vakti“. Auf dem Display schwirrt ein Pfeil im Kreis, pendelt sich ein, zeigt exakt in Richtung Eingangstür. Ates sagt: „Dorthin werden wir beten. Da liegt Mekka.“ Ihr Bruder will Paravents besorgen und vor die Tür stellen, damit die Gläubigen nicht jedes Mal gestört werden, sobald jemand die Moschee betritt.

Wahrscheinlich würde Seyran Ates jetzt hier nicht stehen, wenn Wolfgang Schäuble nicht wäre. Als Innenminister rief er 2006 die Deutsche Islamkonferenz ins Leben, mit der er einen Dialog zwischen Staat und deutschen Muslimen beginnen wollte. Auf muslimischer Seite waren zehn Vertreter der großen, durchweg konservativen Islamverbände geladen. Dazu fünf Einzelpersonen, Ates war eine von ihnen.

Die gescheiterte Diskussion

Eigentlich sollten sie über konkrete Fragen der Integration beraten, über Kopftuch, Bildungsbenachteiligung und die Forderung, dass Imame in Deutschland ausgebildet werden müssen. Stattdessen verbrachten die Gesandten der Verbände viel Zeit damit zu argumentieren, dass Ates und die anderen unabhängigen Einzelpersonen überhaupt nicht mit am Tisch sitzen dürften, sie seien schließlich keine würdigen Vertreter des Islams.

Ates sagt: „Die Verbände, die dort geladen waren, vertraten aber selbst nur 15 Prozent der Muslime in Deutschland.“ Genau dies sei das Problem. Die große Mehrheit der hier lebenden Muslime könne mit der rigiden Ausrichtung der Verbände nichts anfangen, habe jedoch niemanden, der für sie spreche.

Am Freitag wollen die Initiatoren der Moschee deshalb auch gleich einen Dachverband gründen. Es gibt bereits Interessenten aus Hamburg und Bremen, die eigene liberale Moscheen planen. Dazu Anrufe von Muslimen aus ganz Deutschland, die sagen, dass sie sich nie wieder Hasspredigten anhören wollen.

Was Burka-Fans zu dem Moabiter Projekt sagen

Die großen muslimischen Dachverbände in Deutschland gelten als konservativ.
Die großen muslimischen Dachverbände in Deutschland gelten als konservativ.
© dpa

„Die konservativen Verbände müssen sich fragen, welche Fehler sie gemacht haben“, sagt Ates. „Warum sie wenig zur Verbreitung eines barmherzigen, liebevollen Islams beigetragen haben, ja, im Gegenteil: warum aus ihren Reihen und ihren Moscheen mehrfach Terroristen hervorgegangen sind.“ Gleichzeitig müssten sich auch die liberalen Muslime Fehler eingestehen. Vor allem den, dass sie jahrzehntelang still hielten und den Konservativen das Feld überließen. Weil der Islam, anders als das Christentum, keine institutionellen Strukturen kennt, weil es außer Allah und Mohammed nur den einfachen Menschen gibt und keine Organe, kann jeder eine Moschee gründen. Jetzt gelte es, den Islam aus den Fängen der Fanatiker zu befreien. „Das möchten wir nicht gegen, sondern gemeinsam mit den konservativen Kräften schaffen.“ Aber ab sofort auf Augenhöhe.

Ates sagt, sie sei sich bewusst, dass sie nicht die einzig gültige Wahrheit gepachtet habe. „Ich begreife mich als eine Lernende und eine Suchende.“ Vergangenes Jahr war sie zum Koranstudium in der Türkei. Ab diesem Wintersemester wird sie in Berlin Islamwissenschaften studieren. Und sobald an der Humboldt-Universität der Studiengang „Islamische Theologie“ eingerichtet ist, will sie sich auch dort einschreiben. „Ich bin jetzt 54“, sagt sie. „Ich habe mir vorgenommen, den Rest meines Lebens genau dieser Sache zu widmen.“

Die konservativen Dachorganisationen halten sich mit Stellungnahmen zum Moabiter Projekt zurück. Der türkische Moscheeverband Ditib lässt eine Interviewanfrage des Tagesspiegels unbeantwortet. Ausführlich meldet sich dagegen das Frankfurter Netzwerk „Realität Islam“ zu Wort. Es verurteilt den Plan als anschauliches Beispiel für „die Verunstaltung und Sinnentleerung des Islams in Deutschland“. Besonders stört man sich an der Vorstellung, eine Frau könnte künftig als Imam auftreten. Der Islam sei schließlich kein Wunschkonzert. Nur unwissende Laien oder bösartige Scharlatane versuchten, den Islam „passend zu westlichen Gleichberechtigungsvorstellungen umzudeuten“ - das sei „intellektuelle Kolonialisierung“.

Das Netzwerk „Realität Islam“ setzt sich für das Tragen von Burkas in Deutschland ein.

Mit Radikalen hat sich Ates schon oft angelegt. Als Anwältin vertrat sie immer wieder muslimische Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden waren. Sie schrieb gegen Zwangsheirat und sogenannte Ehrenmorde an. Vor acht Jahren zog sich Ates vorübergehend aus der Öffentlichkeit zurück. Nach ihrem Buch „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“ gab es Morddrohungen, sie bekam Polizeischutz. Verglichen mit damals sei die Situation heute entspannt, sagt sie. Die positiven Reaktionen überwögen.

Ates erwartet Gegenreden

Möglich, dass Radikale in den kommenden Monaten versuchen werden, in ihrer Moschee zu stören. Und dann? Sie sagt, das sei bei ihren Lesungen und Vorträgen doch auch nicht anders gewesen. „Für mich gehört es zum Alltag, dass einer aufsteht und eine Gegenrede halten will.“ Solle er ruhig. Als Demokratin freue sie sich auf die Diskussion.

Zu den Gründern der Moabiter Moschee zählt auch Abdel-Hakim Ourghi. Er leitet den Fachbereich Islamische Theologie an der Uni Freiburg. Am Telefon sagt er, in Freiburg habe er seit zwei Jahren keine Moschee mehr besucht. Er hatte eine anonyme Drohung erhalten, sich besser nicht dort blicken zu lassen.

Ourghi kennt viele „gutmeinende deutsche Christen, die sich mit Kritik am radikalen Islam schwertun“. Diese argumentierten, ihre eigene Kirche habe in der Vergangenheit doch selbst Gewalt ausgeübt und Verbrechen begangen. „Mit dem Vergleich tun sie uns moderaten Muslimen keinen Gefallen“, sagt Ourghi. „Das Einzige, was mich an der gewalttätigen Vergangenheit der Christen heute interessiert, ist: Wie haben die Christen das überwunden?“

Die erste Predigt will Seyran Ates selbst halten

Seyran Ates im Moscheeraum, der gerade hergerichtet wird.
Seyran Ates im Moscheeraum, der gerade hergerichtet wird.
© Thilo Rückeis

Abdel-Hakim Ourghi sagt, es gebe überall auf der Welt Muslime, die ihre Religion reformieren wollten. „Bloß sind die Stimmen zu leise, oft auch bedroht.“ Schon in der Vergangenheit habe der Islam etliche Erneuerer hervorgebracht. Nach einem der wichtigsten ist die Moabiter Moschee benannt: Der andalusische Philosoph und Arzt Ibn Rushd, der im 12. Jahrhundert in Córdoba geboren wurde, gilt als Vordenker einer islamischen Aufklärung. Als Namenspatron dachten die Gründer auch an Johann Wolfgang von Goethe, denn der sei ein großer Bewunderer der islamischen Theologie gewesen.

Über die Genese des Moscheeprojekts hat Ates ein Buch geschrieben, das am Freitag erscheint. Darin erklärt sie, dass sie das Gotteshaus am liebsten nach einer Frau benannt hätte. In der Planungsphase fielen ihnen allerdings nur Mohammeds Frauen Hatice und Ayse ein, so aber hießen weltweit schon etliche Moscheen. Außerdem würden bei Ayse negative Assoziationen geweckt, da diese Ehe bereits im Kindesalter geschlossen wurde. Deshalb nun also: Ibn-Rushd-Goethe-Moschee.

Statt eines Vereins haben sie eine gemeinnützige GmbH gegründet, wie es derzeit viele NGOs tun. Ates hat 10000 Euro in das Projekt gesteckt, sie regelte die Formalien mit Anwälten und dem Steuerberater. Künftig soll sich die Moschee über Spenden finanzieren.

Besuch aus Los Angeles

Zu den bekanntesten heutigen Reformern des Islams gehört die in Malaysia geborene, in Los Angeles lebende Ani Zonneveld. Am Dienstag landet sie in Berlin, am Freitag wird sie in Moabit den Ezan, den Ruf des Muezzins, vor dem Gebet übernehmen. Ates selbst hält anschließend die Predigt. Es wird ihre erste, und sie sagt, sie sei deshalb einerseits nervös. Andererseits hätten die meisten ihrer Vorträge der vergangenen Jahre auch bereits predigthafte Züge gehabt. „Weil ich immer den Anspruch habe, Menschen wachzurütteln und zum Nachdenken aufzufordern.“ Ihre Ansprache soll von der Liebe handeln. Die von Gott zu den Menschen und die der Menschen untereinander.

Neben der Vorbereitung der Predigt muss Ates noch profanere Dinge erledigen. Zum Beispiel schauen, wo sie ein paar weitere Gebetsteppiche herbekommt. Die ersten 30 hat ihre Schwester vergangene Woche aus der Türkei mitgebracht, mehr konnte sie nicht schleppen. Und während der eine Bruder oben die Wände zu Ende streicht, will der andere im Erdgeschoss drei zusätzliche Becken installieren, für das Waschritual vor dem Gottesdienst. Die Geschwister unterstützen das Projekt, wo sie können. Aber sie haben auch Angst um ihre Schwester.

Aus der Schweiz wird am Freitag eine weitere Gründerin anreisen: die tunesisch-schweizerische Menschenrechtsaktivistin Saïda Keller-Messahli. Sie sagt, ein Teil des Problems der europäischen Muslime sei, dass sie auf Anweisungen der islamischen Rechtsgelehrten aus Saudi-Arabien oder von der Azhar-Universität in Kairo hörten. „Diese Männer haben keine Ahnung, wie Leben in Europa aussieht.“ Es sei fahrlässig, denen die Deutungshoheit zu überlassen. Vor allem unsinnige Verbote will Saïda Keller-Messahli nicht gelten lassen. Etwa die Vorschrift, eine muslimische Frau dürfe keinen Nichtmuslimen heiraten. Oder dass vorehelischer Sex verboten sei. „Wir Moderaten sehen dafür keine religiöse Grundlage. Deshalb akzeptieren wir keine Fatwa, die das behauptet.“

Seyran Ates will noch einen Schritt weiter gehen. Sie möchte, dass die Moschee ein Ort wird, an dem man sogar den Propheten kritisieren darf. Für Salafisten eine extreme Provokation. Aber Ates sagt: „Er hat sich doch selbst kritisiert. Es gibt Überlieferungen, in denen er zweifelt, ob alles richtig ist, was er macht.“ Ihrer Ansicht nach ist Mohammed zum Beispiel „mit der ersten Ehefrau sehr, sehr gut gefahren“. Das mit der Vielehe hätte er sein lassen können.

Sebastian Leber

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