Europa-Wahl 2014: Der Brüssel-Clan - Europapolitik als TV-Show
Viele EU-Politiker sind frustriert. Selbst kurz vor der Wahl zum Europaparlament wird ihre Arbeit kaum wahrgenommen. Der französische Filmemacher Yacine Kouhen will das jetzt ändern.
Indrek Tarand betritt den Raum, dem er zehn Prozent seines Lebens gewidmet hat. So rechnet er. Nicht in Monaten, nicht in Jahren: in Lebenszeit. Die Requisiten dieser Lebenszeit sind ein Stuhl, ein Sofa, die Bilder seiner drei Kinder auf dem Schreibtisch. Tarand, gerade 50 geworden, trägt seine dunkle Sonnenbrille im ergrauten Haupthaar. Er ist ein Mann, der in die Debatte zieht wie in einen Krieg. Der nach den Machtspielchen der Politik mindestens so süchtig ist wie nach seinen Zigaretten, ohne die er nirgendwo hingeht.
Und doch ist er ein Mann, für den sich kaum jemand interessiert. Indrek Tarand ist Abgeordneter des Europaparlaments. Für Estland.
Tarand streckt die Hand aus zum Gruß. Achter Stock des Parlamentsgebäudes, G-Flügel, Raum 265. Es ist seine Kommandobrücke mit Blick über die Brüsseler Innenstadt. Er hat den festen Händedruck eines Soldaten und das unverbindliche Grinsen eines Showmasters. Er war beides. Veteran der Roten Armee, dann Moderator und Schauspieler, schließlich trat er auf bei „Tantsud tähtedega“, der estnischen Version der TV-Show „Let’s dance“.
Das Europaparlament wollte er zu seiner Showbühne machen, die Ausschusssitzungen zu seinem Schlachtfeld, als er 2009 nach Brüssel kam. Nach fünf Jahren kann er sagen: „Estland ist jetzt doppelt so respektiert und vielleicht dreimal so sichtbar.“ Aber was heißt das schon? Und ist das alles nach einem Zehntel Leben?
Der Mehrheit ist egal, was er tut. Da macht er sich nichts vor
Tarand macht sich keine Illusion darüber, dass eine Mehrheit in seiner Heimat keine Notiz davon nimmt, was er in Brüssel treibt. 2013 gaben gerade einmal vier von zehn Befragten beim Eurobarometer des EU-Parlaments an, sich überhaupt für Europa zu interessieren. Jetzt, so kurz vor der Europawahl vom 22. bis zum 25. Mai, sieht es kaum besser aus. Bei einer Umfrage der österreichischen Gesellschaft für Europapolitik konnten kürzlich 64 Prozent nicht einen einzigen EU-Abgeordneten namentlich nennen.
Tarand frustriert das, und er ist nicht allein. Fünf Assistenten hat er. Epp Sarv etwa, die mit ihrem grauen Kostüm und den langen blonden, streng zum Zopf gebundenen Haaren aussieht wie dem Sekretariat eines Bond-Bösewichts entstiegen. Oder Pärtel-Peeter Pere, der in seinem grauen Anzug so viel mehr wirkt wie ein Eurokrat als sein Chef. Er blicke auf zu Tarand, sagt Pere, sie alle täten es. Um seine Augen haben sich schwarze Ränder gebildet. Bis spät in die Nacht hat er gearbeitet, erzählt er. Ein TV-Duell im estnischen Fernsehen vor der Europawahl stand an. Peres Job war es, Tarand richtig vorzubereiten, die richtigen Argumente zu liefern. Inhaltlich sei es ein Erfolg gewesen, sagt Pere, gähnt und entschuldigt sich sogleich. Doch die Einschaltquoten waren miserabel. Manchmal, sagt er, wünsche er sich, die Welt nähme Notiz.
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Möglich, dass sein Flehen nun Gehör findet – und Tarand nach fünf Jahren im Parlament ins Showbiz zurückkehrt. Jedenfalls indirekt.
Intrigen, Macht und Sex: Das vermutet der Produzent in Brüssel
Denn ein Praktikant nahm tatsächlich Notiz – ein Filmemacher. Yacine Kouhen, 31 Jahre, Franzose, blau-kariertes Hemd, Drei-Tage-Bart, sitzt einige Wochen nach seinem Praktikum bei Tarand im Café L’Ultime Atome im Brüsseler Multi-KultiStadtteil Saint Boniface. Er ist immer noch tief beeindruckt von dem Esten.
Wie alles in Brüssel bekam er den Praktikumsplatz über Freunde von Freunden. Tarand habe sich nicht lange bitten lassen, einen Praktikanten einzustellen, der – wenn schon nicht ihn als Person – zumindest seine Arbeit groß rausbringen könnte. Denn was dem Filmemacher vorschwebt, ist eine TV-Show. Europapolitik in Serie. Nach etwas über einem Monat als Beobachter in Tarands Büro, bei Meetings und Verhandlungen hat sich in Kouhens Gedächtnis besonders sein Zynismus eingebrannt, den der Europaabgeordnete zu seinem Markenzeichen erhoben hat: „Politik ist ein Glücksspiel, bei dem niemand gewinnt“, lautet der Standardsatz des Esten.
Für Kouhen wurde die „Catchphrase“, wie es in der Branche heißt, der Slogan, der alles zusammenfasst, was ihn an Tarands Arbeit fasziniert: die vielen Nationen, Menschen auf engstem Raum – jeder auf den eigenen Vorteil bedacht und doch müssen sie irgendwie zusammenarbeiten. Das Parlament als Zentrum, in dem nicht seelenlose Bürokraten entscheiden, sondern Menschen aus 28 Mitgliedsstaaten, die fehlen, lachen, streiten, lieben. Menschen wie Tarand. Er sollte Kouhens Türöffner sein in eine Welt, in der der Drehbuchautor ein Reservoir an Geschichten über Macht, Intrigen und Sex vermutete.
Sex im Parlament? Das ist doch verboten
Ob sein Leben für eine Fernsehserie taugt, weiß Tarand nicht: „Ich hatte noch nie Sex im Parlament“, sagt er, nicht ohne eine Weile darüber nachgedacht zu haben. Das sei, so glaube er, auch verboten. Und überhaupt: „Das Gefühl besonders mächtig zu sein, habe ich auch nicht.“
Das zumindest ist Ansichtssache. Das mit der Macht. Zum achten Mal wird das EU-Parlament nun gewählt und mit dem Lissabon-Vertrag von 2007 hat es sich weitgehende Rechte erkämpft. Zwar können die Parlamentarier nach wie vor nicht selbst Gesetze einbringen, sind aber bei fast allen Gesetzgebungsverfahren beteiligt, verabschieden den milliardenschweren EU-Haushalt.
Yacine Kouhen hat die EU mit Tarands Augen gesehen. Ein Idealist und Zyniker, selbstverliebt und analytisch, gefürchtet und belächelt. „So eine Geschichte muss doch ins Fernsehen“, sagt er. Die grobe Story liest sich denn auch wie eine überspitzte Hommage an das Praktikum: „Ein junger Mann steigt auf aus dem Milieu der Kriminalität an die Spitze des politischen Spiels und erschüttert die EU-Politik, wie niemand es für möglich gehalten hätte.“ Kouhen guckt stolz, lässt die Worte wirken. Halb Brite, halb Franzose soll die Hauptperson sein. Durch eine Verkettung von Zufällen ins EU-Parlament gestolpert. Ein Abgeordneter wird sein Mentor und gemeinsam beginnen sie, die Strippen zu ziehen.
Mit Intrigen kennt er sich aus
Tarand als Mentor, der politische Puppenspieler, in der Rolle könnte er sich gefallen. Denn wenn schon nicht über Sex im Parlament, über Intrigen und Strippenzieherei könnte Tarand einiges erzählen. Er ist Sohn des ehemaligen estnischen Regierungschefs Andres Tarand, er selbst beriet in den 1990er Jahren Ministerpräsidenten wie Außenminister, war Staatssekretär. Er sah mit an, wie sich Politiker die Posten hin- und herschoben wie auf einem Schachbrett, wie Sozialisten und Konservative plötzlich zusammenarbeiteten, nur um an der Macht zu bleiben. Da ging er erst mal ins Showbusiness. Das sei ehrlicher, sagt er. Und es klingt nicht nach einem Witz.
Nur habe er es vor fünf Jahren nicht mehr ausgehalten. Wenn den Politikern nicht mehr zu trauen sei, müsse man es eben selbst machen, findet Tarand. Er trat bei der Europawahl an. Ohne Partei, ohne Seilschaft. Doch seine Popularität als Showmaster brachte ihm fast 26 Prozent der Stimmen.
Inzwischen ist er auch in Estland ein wenig in Vergessenheit geraten. Umso verlockender also die Chance, dass sein neuer Arbeitsplatz jetzt in einem kollaborativ erstellten Stück Populärkultur neu in Szene gesetzt werden könnte. Gespeist von dem Wissen tausender Insider, die bisher ungehört blieben. Bis zu 30000 Menschen arbeiten allein bei den beiden Institutionen Parlament und Kommission. Alles potenzielle Informanten.
Fernsehen 2.0: Wie die Abgeordneten am Drehbuch mitschreiben sollen
Gut 50 000 Euro hat Yacine Kouhen für eine Online-Plattform veranschlagt, die gemeinschaftliches Serienschreiben ermöglichen soll. In den kommenden Wochen beginnt die Suche nach Investoren. Ein Team von Autoren, Politikberatern und Journalisten entwickelt derzeit den roten Faden, den Rest – das wahre Leben – soll die Schwarmintelligenz beitragen. Anekdoten und Intrigen sollen von den Europolitikern selbst kolportiert werden.
Anekdoten wie die von Tarand, der sich gleich zu Beginn seiner Legislatur einen Spaß erlaubte. An bierseligen Abenden erzählen seine Assistenten noch immer gerne davon, wie er einmal das ganze Parlament vorführte, weil er sich für die Wahl zum Vizepräsidenten aufstellen ließ. Eigentlich handeln die Fraktionen vorher eine Liste mit Kandidaten aus, die im Plenum nur noch abgenickt wird. Tarands unabgesprochene Eigeninitiative zögerte den Wahlgang so lange hinaus, dass er die Abendplanung all seiner Mitabgeordneten über den Haufen warf. Ein Spaß. Und politisches Kalkül, denn plötzlich kannte jeder den Namen des Neuankömmlings, blickten die Abgeordneten irritiert auf den Vertreter des kleines Estlands.
Das Vorbild ist die Serie "House of Cards"
Wie im Showbusiness ist auch in der Politik Aufmerksamkeit die harte Währung. Kouhen steckt die Ziele für seine EU-Serie deshalb hoch: Am Ende soll die europäische Version einer Serie wie „House of Cards“ stehen. Die US-Serie, in der Kevin Spacey den intriganten Congressman Francis Underwood spielt, inszeniert den politischen Alltag als Thriller und erreicht weltweit ein Millionenpublikum. Selbst US-Präsident Barack Obama outete sich auf Twitter als Fan.
Auch Kouhen denkt international. Große Sender wie das amerikanische HBO, Netflix oder die britische BBC, das ist der Plan, müssten sich, wenn das Drehbuch steht, nur noch an die Umsetzung des Euro-Skripts machen.
Einiges spricht dafür, dass sein Plan aufgehen könnte. Schon einmal hat Kouhen die Skurrilitäten der Europapolitik erfolgreich verfilmt. In der Websatire „The Eurobubble“ ließ er Politiker, Lobbyisten, Praktikanten und Assistenten sich selbst spielen. Die Resonanz war gewaltig, 70 Eurobubbler meldeten sich freiwillig als Schauspieler. Mit 7000 Euro Produktionskosten war das Projekt zwar ziemlich amateurhaft. Doch mit bis zu 20 000 Zuschauern pro Episode auch erfolgreich.
Den Frust runterspülen: Alltag zwischen Party und Papier
Triin Saag hat in der Serie mitgespielt. In der Statistenrolle einer überarbeiteten Praktikantin, die während einer Sitzung einschläft. „Für mich war das ein witziger Weg, ein bisschen von dem Frust darüber abzulassen, dass die Arbeit hier kaum geschätzt wird“, sagt die 30-jährige Estin und stellt zwei Plastikbecher mit Weißwein auf ein Absperrgitter auf dem Place Luxemburg, direkt vor dem Europaparlament. Dort, wo sich Bar an Bar reiht. Dort, wo die informellen Absprachen getroffen und Intrigen kolportiert werden, man mit Leidensgenossen lästern kann. Dort, wo sich zuverlässig Stoff für Kouhens Serie finden lässt. Denn wie fast alles auf dem Planeten Europa ist auch das donnerstägliche Besäufnis ritualisiert. Aus dem Place Luxemburg wurde im Neusprech der Eurokraten bald Place Lux, dann Plux. Am Ende hieß es nur noch: „Let’s go pluxing“. Zwischen 18 und 19 Uhr gibt es zwei Drinks zum Preis von einem. Da wird es besonders voll am Plux. Die belgische Polizei leitet dann den Verkehr um, damit Abgeordnete, Assistenten und Lobbyisten auf der Straße bechern können.
"Nach unserer Rolle fragt niemand."
Triin Saag arbeitete früher für Tarand. Heute ist sie Assistentin des britischen Abgeordneten der Liberalen Graham Watson. Früher wollte sie einmal selbst Abgeordnete werden. Doch der Job sei nur noch undankbarer als ihr eigener, sagt sie. Trotzdem lacht sie viel an diesem Abend. Teils, weil sie ein bisschen angetrunken ist. Teils, weil es besser ist zu lachen, als immer verbittert zu sein, findet sie.
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Verbittert etwa, weil kaum jemand weiß, wie sie Ende 2013 mit ihrem Team monatelang hinter den Kulissen für die Freilassung von Michail Chodorkowski gekämpft hat. Jener russische Oligarch und Putin-Kritiker, dessen Verhaftung viele als politisch motiviert eingestuft hatten und der kurz vor Weihnachten plötzlich begnadigt wurde. Dass dieser Erfolg ausschließlich dem ehemaligen deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher zugesprochen wird, der Putin schließlich hinter den Kulissen einen Deal abrang und Chodorkowski nach Berlin holte, findet sie ungerecht. „Nach unserer Rolle fragt niemand“, sagt Triin. Es sei nur ein Beispiel von vielen.
Wie ihr alter Chef hält sie eine Fernsehserie deshalb für überfällig.
In seinem Büro blickt Tarand über den Rand seiner Sonnenbrille hinunter auf Brüssel. Vielleicht könnte eine TV-Serie das Prisma sein, durch das man den Massen die Europa-Politik erklären könne, räsoniert er. Warum nicht? „Wenn es nur mit Humor gemacht wird“, sagt er dann mit dem Ernst eines Reserveoffiziers. „Hauptsache, Kouhen dreht keine Dokumentation.“ Der Alltag sei schon frustrierend genug.
Der Text erschien auf der Dritten Seite. im Rahmen des Journalistenaustauschprogramms "Nahaufnahme", organisiert vom Goethe-Institut.