zum Hauptinhalt
Andreas Kümmert beim ESC-Vorentscheid
© dpa/Peter Steffen

Andreas Kümmert und der ESC: Der Aussteiger

Ich bin nur ein kleiner Sänger, sagt er – und geht. Andreas Kümmert will beim Eurovision Song Contest nicht antreten. Er überrascht Plattenfirma, Moderatorin, Fans. Und ein bisschen auch sich selbst.

Dann nahm er der Moderatorin Barbara Schöneberger das Mikro aus der Hand, pausierte kurz, wackelte etwas mit dem Bein, zwinkerte durch die Weitsichtbrille – und wie um sämtliche Übersprungshandlungen abzuschließen, traf Andreas Kümmert am Donnerstagabend eine der wenigen spektakulären Entscheidungen des Live-Fernsehens.

Der Bluessänger Kümmert, 28 Jahre alt, 2013 Gewinner der Castingshow „The Voice of Germany“ und soeben vom Publikum zur deutschen Vertretung beim Eurovision Song Contest am 23. Mai in Wien bestimmt – lehnte ab. Er sei überwältigt davon, dass Deutschland seinen Song so sehr mochte, sagte Kümmert. Aber „ich bin momentan nicht in der Verfassung. Ich gebe den Titel an Ann Sophie ab“, die Zweitplatzierte.

Mit ruhiger Stimme sprach Andreas Kümmert diese Worte, mit denen er nicht nur Fans und Unterstützer enttäuschte, sondern sich in letzter Konsequenz auch einer Showmaschinerie verweigerte, die sich gern damit schmückt, unscheinbare Talente in Stars zu verwandeln – und die sein Leben zweifellos verändert hätte.

Es ist ein Fall, der in der 60-jährigen Eurovisions-Geschichte einzigartig ist. Zwar wurden schon Titel von Siegern des Vorentscheids disqualifiziert – wie 1999 das Stück der blinden Sängerin Corinna May, das entgegen den Regeln schon einmal veröffentlicht worden war. Doch dass ein Sänger ausschert, seinen Sieg ablehnt? „Von so einem Fall habe ich zumindest noch nicht gehört“, sagt Jarmo Siim, Sprecher der European Broadcasting Union (EBU), die den Wettbewerb ausrichtet.

Die Fans entschieden sich für "Echtsein"

Moderatorin Barbara Schöneberger reagierte nach einem kurzen Schreck – und bestimmte kurzerhand die 24-jährige Ann Sophie zur neuen Gewinnerin der Show „Unser Song für Österreich“. Doch auch wenn Kümmerts Rückzieher überraschte – der NDR war für diesen unwahrscheinlichen Fall offenbar nicht ganz unvorbereitet. Das Sendungsteam habe bei der Vorbereitung auf die Show alle möglichen Szenarien durchgespielt, wie etwa Unfälle und Krankheiten. Für den unerwarteten Ausfall eines Kandidaten sei über das Prinzip des Nachrückens gesprochen worden. „Auf dieser Entscheidungsgrundlage hat Barbara Schöneberger genau das Richtige getan“, erklärt ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber.

Die spontan neu bestimmte Gewinnerin rief etwas später, um Fassung ringend, kurz vor ihrer Abschlussperformance den Zuschauern zu: „Wollt ihr das denn überhaupt?“ Tja, wollen sie?

Sie haben schließlich Andreas Kümmert gewählt, den unglamourösen, ungeschminkten, gemütlichen Typen mit Zauselbart, Brille und Hoodie, dem man sofort glaubt, dass er es prinzipiell eher anstrengend findet, wenn um ihn herum aufgekratzte Moderatoren „Achterbahn-Gefühle“ ausmachen und Mitgefühl heischend Ellenbogen streicheln.

Mit Kümmert hatten sich die deutschen ESC-Fans für Authentizität, für „Echtsein“ auf der Bühne entschieden, so weit das in der Scheinwelt möglich ist. Und nicht für das, wofür Fernsehshows und der ESC eigentlich stehen: inszenierte Shows mit akribisch geprobten Darbietungen von Menschen, die sich vorher ein Image zugelegt haben, das man gut darstellen und verkaufen kann.

Traum vom Erfolg

Der stämmige, tätowierte Songschreiber aus Unterfranken, der auch im Plattenladen nebenan arbeiten könnte, hätte bei der Entscheidung in Wien ausschließlich mit seiner beeindruckenden Stimme und seinen Qualitäten als Songschreiber überzeugen müssen. Dass die Fernsehzuschauer das wollten, beweist, wie satt sie inzwischen all den Flitterkram haben. Natürlich steht auch das Bluesrockig-Hemdsärmelige, das Kümmert verkörpert, in gewisser Weise für ein Image – bei jeder Talentshow gibt es Kandidaten, deren voluminösere Körper mit stimmlicher Kraft assoziiert werden. Doch auch die Normalo-Kandidaten sind meistens voller Eifer, das vermeintlich Beste aus sich zu machen, glauben an den Traum vom Erfolg, dass sie als Star aus der Show gehen, dessen Leben sich von dem der Nicht-Stars unterscheiden wird.

Kümmert schert das alles nicht. Er wurde – sowohl bei „The Voice“ als auch als deutscher ESC-Repräsentant – gewählt, weil er anscheinend keinen Unterschied zwischen auf und vor der Bühne macht: Schon damals, als er „The Voice of Germany“ gewann, wurde ihm der Trubel um seine Person gelegentlich etwas zu viel, heißt es. Er sei „nur ein kleiner Sänger“, sagte er auch am Donnerstagabend auf der Bühne. Entsprechend betroffen und gleichsam mitfühlend reagierte Sigi Schuller von Kümmerts Plattenfirma Universal, für den die Entscheidung ebenso überraschend kam wie für Zuschauer und Moderatorin. Der ARD sagte er: „Ich glaube, er hat einfach spontan entschieden.“ Kümmert habe alles gegeben und irgendwann wahrscheinlich festgestellt, „dass er es einfach nicht packt“. Er glaube, es gehe nicht darum, „nicht auf der Bühne stehen zu wollen und auch nicht in Wien stehen zu wollen. Sondern es geht darum, dass einfach das ganze Drumherum eine Spur zu groß für ihn ist.“

„Mir geht es nicht um Ruhm oder Geld, mir geht es um die Musik“

Das wurde auch nach seinem Sieg bei „The Voice“ im Dezember 2013 deutlich. Ein Jahr danach war es still um ihn geworden. Er spielte nur noch in kleinen Clubs vor 100 oder 150 Leuten. Er habe sich freiwillig dazu entschieden, die kleinen Gigs der großen Karriere vorzuziehen, sagte er damals in einem Interview mit dem Magazin „Closer“. „Mir geht es nicht um Ruhm oder Geld, mir geht es um die Musik.“ Und diese Musik hätte er auf den großen Bühnen nicht so machen können, wie er sich das vorstellt: „Seitens der Produktionsfirma von ,The Voice’ wurde oft versucht, mich zu ändern.“ Darauf wollte er sich nicht einlassen: „Seele ist auf jeden Fall wichtiger als teure Klamotten.“

Vielleicht ist seine Verweigerung ein Akt von persönlichem Heroismus, der ihm insgeheim ein Gefühl von Macht gibt. Er hat der Unterhaltungsindustrie widerstanden. „Ihr kriegt mich nicht“, schien er zu sagen. Und weil das große Publikum daran teilhatte, wurde sein Akt zu einem Triumph. So etwas funktioniert wahrscheinlich nur, wenn ein Künstler wirklich fühlt, was er sagt und tut. Bei eitlen Bohemiens, die sich dem Kulturzirkus lautstark verweigern, weil sie nicht gut genug sind, wird das schnell durchschaut. Bei Andreas Kümmert scheint es echt. So wird aus einer Niederlage ein Sieg, der so schnell nicht vergessen wird. Im Gegensatz zu den vielen, vielen deutschen Teilnehmern, an die sich niemand mehr erinnern will.

Zuvor war er beim Arzt

Aber vielleicht ist ja alles ganz anders. Er war wegen Fieber vorher beim Arzt gewesen. Wie schon damals vor seinem Sieg bei „The Voice of Germany“. Es gibt Berichte, nach denen er sich bei einem Auftritt vor wenigen Tagen von Zuschauerinnen gestört fühlte und sich ihnen gegenüber unsouverän verhielt. Geht es hier vielleicht einfach nur darum, dass ein Künstler zu schüchtern und innerlich zu schwach ist, um den ganzen Rummel um sich zu ertragen, den er selber hervorbringt? Und doch: Warum er seine Entscheidung nicht früher traf, bleibt rätselhaft.

Dass Andreas Kümmert jedoch haushoch gewonnen hatte, zeigte das Abstimmungsergebnis. Demnach wollten 78,7 Prozent der Zuschauer den Sänger nach Wien schicken. Für Ann Sophie stimmten nur 21,3 Prozent. Deutlich ist auch: Viele Fans sind wütend, fühlen sich betrogen. Während der Show waren Buh-Rufe zu hören, anschließend wurde auf der Eurovision-Webseite gelästert. „Ein Schlag ins Gesicht, ich komm mir verschaukelt vor“, schreibt einer. Ein anderer: „Kümmert hat alle verarscht mit seinem Verhalten und den ganzen Abend ad absurdum geführt.“ Viele haben mehrmals angerufen, Geld in SMS zur Abstimmung investiert. Das soll jetzt umsonst gewesen sein?

Auch Ann Sophie ist bei Universal

Doch die Entscheidung steht, Deutschland wird ohne Andreas Kümmert und mit Ann Sophie beim ESC antreten. Wer wissen will, wie gut die Chancen für die Sängerin stehen, die ebenfalls von Universal gemanagt wird, muss Irving Wolther fragen. Der Wissenschaftler hat seine Doktorarbeit über den ESC geschrieben und beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit dem Wettbewerb. Er rechnet dem italienischen Trio „Il Volo“ gute Chancen aus – die Operntenöre bieten eine Mischung aus Pop- und Rocksong. „Sehr eingängiger Mainstream“, sagt Wolther.

Auch die Titel aus Estland und Slowenien stünden im Wettbewerb gut da. Schwer einzuschätzen sei der finnische Beitrag: eine Punkband, von deren vier Mitgliedern drei das Down-Syndrom haben und einer Autist ist. „Wie Conchita Wurst im vergangenen Jahr sendet diese Teilnahme eine Toleranz-Botschaft“, sagt Wolther. Und Ann Sophie mit ihrem Titel „Black Smoke“? Die könne gut unter den Top 10 landen. Sie habe Charme und Energie, flirte mit den Kameras und erinnere ein bisschen an die deutsche Songcontest-Siegerin Lena Meyer-Landrut. „Ann Sophie wird das sehr gut machen“, prognostiziert Wolther.

Wie der Auswahlprozess für den Eurovision Song Contest funktioniert, regelt jedes Land selbst. In den skandinavischen Staaten gibt es aufwendige Castingshows. In anderen Ländern entscheiden die Rundfunkanstalten intern und geben dann den Kandidaten bekannt. In etwa anderthalb Wochen wird das Head of Delegations Meeting stattfinden, bei dem die Teilnehmer mit ihren Songs angemeldet werden. „Was zuvor in den Ländern passiert, ist für die EBU nicht von Bedeutung“, erklärt Jarmo Siim.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

Zur Startseite