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Helmut Kohl und seine Ehefrau Maike Kohl-Richter.
© Fredrik von Erichsen/dpa

Geheime Protokolle: Das Wesen des Helmut Kohl

Er merkte sich alles. Alles, von dem er dachte, dass es noch einmal wichtig für ihn werden könnte. So ist er immer gewesen, Helmut Kohl. Und jetzt kommt alles wieder zurück.

Es war im Jahr 1988, die Bundeswehr lud ihre Generäle und Admiräle zur Kommandeurtagung nach Würzburg. Die Armee war, damals schon, in Turbulenzen, es gab Probleme mit Rüstungsvorhaben, mit der Personalstärke, mit dem Tiefflug, ein Parlamentarischer Staatssekretär hatte hingeworfen. Und Helmut Kohl als Kanzler sollte und wollte kommen. Er flog von Bonn aus, mit einem dunkelgrünen Hubschrauber, der hinter dem Kanzleramt landen konnte. Der Landeplatz war uneinsehbar. Eduard Ackermann machte seinerzeit noch die Pressearbeit für Kohl, er war, wie der Kanzler ihn nannte, ein „wirklicher Geheimrat“.

Der Kanzler kannte sich aus, das war schön doppeldeutig: Einmal gab es den Titel in deutschen Kabinetten vergangener Jahrhunderte, dann war Ackermann wirklich Ministerbeamter, Direktor, und arbeitete außerdem oft im Geheimeren. So auch hier: Er organisierte einen Mitflug.

Und der hatte es in sich. Kohl, in großgemusterter mittelgrüner Strickjacke, mit bequemen Schuhen, setzte erst einmal die Puppen gerade: Alles, was er sage, dürfe nicht veröffentlicht werden. Sein Ton war entsprechend und seine Gestalt sowieso bedrohlich. Dann erzählte er los: wie er den und jenen journalistischen Kollegen einschätze, dass dieser JU-Chef von Oberursel gewesen sei und dann Chefredakteur und sich gegen ihn gewandt habe, dass man jenen in einer süddeutschen Zeitung lesen müsse, um zu wissen, was im SPD-Parteivorstand los sei, dass wieder ein anderer heute grob gewirkte, aber teure Pullover trage und den Grünen nachlaufe … Und so weiter und so fort, die Zeit verging wie im Flug, es tat sich ein ganzes Panorama auf. Kohl schien alles über jeden zu wissen und, vor allem, er ordnete jeden ein. Jeden. Es konnte einem in der Höhe das Blut gefrieren.

Ein Mann, ein Politiker, der sich alles merkte

So ist er immer gewesen. Das ist das Wesen des Helmut Kohl. Ein Mann, ein Politiker, der sich alles merkte, von dem er dachte, dass es noch einmal wichtig für ihn werden könnte. Historisches – Kohl ist promovierter Historiker –, aber auch Menschliches. Er kennt nicht nur die Historie der Pfalz, sondern auch die große Politik der europäischen Kabinette von 1871 bis 1914 und die der Kleinen Entente, dem Bündnissystem von 1920 bis 1938 zwischen der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien, gefördert von Frankreich und Polen.

Und Kohl kannte als CDU-Vorsitzender zu seinen besten Zeiten nicht nur in der Pfalz jeden Kreisvorsitzenden. Das hatte er mit Willy Brandt gemein, der in der SPD auch jeden persönlich zu kennen schien, und das verband ihn mit Brandt, wie er sagte. Auf Parteitagen wie dem vor Jahrzehnten in Wiesbaden stoppte er schon mal beim Einzug in den Saal, begrüßte einen ihm applaudierenden Delegierten und fragte den nach dem Wohlergehen seiner Frau. „Sie haben mir doch geschrieben.“ Kohl telefonierte nicht nur jeden Tag in die CDU hinein, auf allen Ebenen, er schrieb auch Briefe. Und hatte, nein, hat bis heute ein elefantöses Gedächtnis.

Er kann nicht nur schwer vergessen, er ist auch nachtragend. Alle Sätze, die niedergeschrieben sind, mit denen hat er sie, die ihn vermeintlich oder tatsächlich „verraten“ haben, auch wirklich niedergemacht. Die Weizsäckers, Thierses, Blüms, Schäubles, Töpfers, Wulffs, Merz’, auch und ganz besonders Merkel. Weil sie – aus seiner Sicht – undankbar waren oder hochfahrend oder falsch, weil sie aufgehört hatten, den zu würdigen, der ihnen zu ihrem Amt, ihrer Karriere erst verholfen hatte.

Weder verwunden noch vergeben

Richard von Weizsäcker, in der Partei von anderen Granden oft genug hinter seinem Rücken „König Richard“ genannt, ist einer dieser besonderen Fälle, weil Kohl an ihm so vieles festmacht: Ehrgeiz auf seine Kosten, geradezu historische Unwahrhaftigkeit. Oder Norbert Blüm, öffentlich nicht nur von der CDU „Kohls Knappe“ genannt. 16 Jahre war er Arbeits- und Sozialminister, Kohl hat ihn, wie er findet, über all die Jahre nicht nur gewähren lassen, sondern auch gegen jeden Angriff von links oder rechts verteidigt – und dann fällt ihm Blüm in der Parteispendenaffäre in den Rücken. Das hat Kohl nie verwunden noch vergeben. Das gilt auch für die Rebellion, die dann doch nicht im Saale stattfand, sondern ausfiel. Es war der Parteitag von Bremen 1989. Die Lage war von zwei Dingen geprägt: der spannenden außenpolitischen Entwicklung, der Transformation in Polen weg vom Kommunismus, in Ungarn in Richtung einer pluralistischen Demokratie, mit zehntausenden DDR-Bürgern in Botschaften der westlichen Bundesrepublik, mit einem Kohl, der von der Vision der deutschen Einheit sprach, die möglich werden könne – und der Stimmung der Delegierten, die kaum hinhörten.

Denn in den „Couloirs“, wie Kohl sagte, in den Korridoren also ging es darum, ihn zu stürzen. Er hatte beschlossen, Heiner Geißler als Generalsekretär abzulösen, der zwölf Jahre im Amt war. Die CDU war im Stimmungstief, und es gab nur eine Entscheidung, so erzählt noch heute Horst Teltschik, einer der engsten Berater Kohls zu jener Zeit: „Entweder geht die Numero eins, der Parteivorsitzende, oder die Numero zwei, der Generalsekretär.“ Kohl fiel die Wahl leicht, er wollte ja auch Kanzler bleiben, und das Amt war mit dem Vorsitzenden aufs Engste verbunden.

Was für eine Geschichte

Geißler seinerseits wollte mit anderen Kohl ablösen, zunächst als Parteichef. Als Kandidat war Lothar Späth im Gespräch, das „Cleverle“, der baden-württembergische Ministerpräsident. Anfangs nicht offen, sondern als „eine Art Intrige“, wie Teltschik sagt. Kohl aber konnte damals schon sagen, wer sich mit wem in Bonn getroffen hatte. Und hat die bis heute nicht vergessen, ob Rita Süssmuth oder Späth, auch andere. Alle Namen kann er nennen. Seinen Gegnern ließ er keine Chance, obwohl er Höllenqualen litt, buchstäblich, weil er Prostataschmerzen hatte und dennoch dort oben auf dem Podium Stunde um Stunde sitzen musste, wie ein Fels. Geißler musste gehen, Volker Rühe kam, die „Allianz für Deutschland“, die Einheit, die Wahl. Was für eine Geschichte. Über Kohls Gegner in der CDU ist sie hinweggegangen.

Aber jetzt kommt alles wieder zurück, weil der „Spiegel“ aus den Aufzeichnungen von hunderten Tonbandstunden zitiert, unautorisiert. Kohl im Originalton, über Menschen und Mächte, ausgerechnet im 25. Jahr des Mauerfalls. Da wird das Bild von ihm tradiert, das nach seiner Zeit als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz entstand. Damals, als er noch der CDU-Kronprinz war und als besonders qualifizierter Innenpolitiker galt, als einer mit sicherem Instinkt, auch für Kulturelles, als Reformer. „So hieß es damals auch in Druckerzeugnissen, die später das genaue Gegenteil geschrieben haben“, sagte Kohl Anfang der 90er Jahre und meinte den „Spiegel“.

Dann scheiterte er knapp an der absoluten Mehrheit, „und das gegenüber einem Amtsinhaber, der nicht nur der Weltökonom war und der Kanzler, also alle Klaviaturen beherrschte“, sondern auch noch aus Hamburg kam und er aus der Provinz, aus dem „schönen, alten Reichsstädtchen Oggersheim“. Dass der aus der Provinz so stark wird, „konnte ja eigentlich gar nicht sein“. Weil es ja „schick war, links zu tragen“.

Nicht die Taten zählen, sondern die Worte über die Taten

Auch das ist Originalton Helmut Kohl, auch von einem Tonband, aber ausgestrahlt vom MDR am 2. Oktober 1992. „Dann habe ich die deutsche Einheit vertreten. Die meisten dieser Leute schweigen doch nur deswegen jetzt, weil sie immer noch die Spuren verwischen müssen von alledem, was sie an Unzähligem und Unerträglichem geschrieben und gesagt haben. Und da ich immer das alles gesagt habe, und weil ich gesagt habe, was die über mich schreiben, ist mir völlig egal … Mit einigen dieser hervorragenden Erzeugnisse pflege ich seit eineinhalb Jahrzehnten überhaupt keinen Kontakt.

Das ist also eine Unerhörtheit.“ Ob es ihm denn wirklich völlig egal ist, ob er völlig über Häme steht? „Ich stehe nicht drüber. Das habe ich nicht gesagt. Ich habe natürlich schon darunter gelitten. Und ich habe auch große Gemeinheiten erlebt, auch schwere Schläge unter die Gürtellinie. Das gehört ja alles zum Bild.“

Zu seinem Bild. Zu einem Bild, das er sich macht. Und von dem er sagt, dass andere es sich von ihm machen. Noch einmal Originalton: „Ich habe mich immer wieder gewundert, wie viel dummes Zeug über mich geschrieben wird. Wer mich ein bissel näher kennt, kann so ein Bild, wenn er nicht völlig böswillig ist, nicht aufrechterhalten. Wenn ich wohin komme, wo mich die Leute überhaupt nicht kennen, in einer Stunde gehen die raus und sagen: Der ist ja völlig anders, der ist ja gar nicht so stupid oder so, und der kann an geraden und an ungeraden Tagen lesen und schreiben.

Und das absurde Bild, das übrigens ein deutsches Bild ist, Sie werden es in keiner Hauptstadt, die relevant ist in der Welt, ein vergleichbares Bild hören. In Europa können Sie hingehen, wo Sie wollen, es käme doch keinem Italiener in den Sinn, keinem gebildeten Menschen in Italien, ein solches Bild vom jetzigen deutschen Bundeskanzler zu entwerfen. Die verstehen das auch gar nicht. Die halten das für eine richtige deutsche ideologische Verklemmung. Vielleicht haben sie recht.“

Seine Geschichte wird zu ihrer

Vielleicht haben sie recht. Und ziemlich wahrscheinlich hat Kohl immer gefürchtet, dass sie sich nachträglich noch das Recht holen könnten, seine Geschichte zu ihrer zu machen. Auch das geben ja die Tonbänder aus den 2000er Jahren wieder. Nicht die Taten zählen, sondern die Worte über die Taten, so sagte es Heiner Geißler immer, als Kohl und er noch zusammenarbeiteten. Es waren viele, prägende Jahre, auch für Kohl.

Einer, von dem nicht bekannt ist, dass Kohl abgrundtief schlecht über ihn geredet hätte, ist Roman Herzog, der Bundespräsident war, als das letzte Kabinett Kohl verabschiedet wurde, am 26. Oktober 1998. „Sie sind ein Staatsmann, der Entscheidendes dafür getan hat, dass wir heute auf einem Kontinent fast ohne innere Grenzen leben“, sagt die schriftliche Aufzeichnung. Und Herzog dankte Kohl für die geleistete Arbeit, „auch für unsere ganz persönliche Zusammenarbeit und Freundschaft“. Begonnen hatte er seine Ansprache aber mit diesem Satz: „Sie haben mit Ihrem ganz persönlichen Stil eine politische Ära geprägt.“ Das kann man wohl sagen.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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