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Düstere Meile? Das RAW-Gelände ist seit zehn Jahren eine der bekanntesten Ausgeh-Zonen der Stadt. Nach etlichen Überfällen gilt das Areal bei einigen inzwischen als Notstandsgebiet.
© XAMAX

Eine Nacht auf dem RAW-Gelände: Das St. Pauli in Berlin - ohne Polizeirevier

Neulich waren die Punks aus Polen sauer. Mit Flaschen und Fahrradketten schlugen sie auf die Afrikaner ein. Und Halbstarke zeigen ihre Messer. Das RAW-Gelände ist hart umkämpft. Eine Nacht in Berlins berüchtigster Ausgehzone.

Was willst du? Verpiss dich, Schwuchtel, haut ab, ihr Kuffar! Fauchend macht der Mann einen Schritt nach vorn, kneift die Augen zusammen, brabbelt Unverständliches über Juden, zieht ein Messer. Das steckt er zwar sofort wieder ein, aber er beruhigt sich erst, als sein Begleiter ihn anschnauzt: „Lass doch!“

Die beiden Männer – Mitte 20, Gel in den schwarzen Haaren – lungern in dieser Augustnacht an einem der Tore des weit über Berlin hinaus bekannten RAW-Geländes in Friedrichshain. Eben noch liefen ein blonder Mann und seine lockige Freundin, ein Studentenpaar aus Hannover, feixend an ihnen vorbei.

Nun, nachdem die beiden Studenten als „Kuffar“ – also aus islamischer Sicht als „Ungläubige“ – beschimpft wurden, hasten sie verängstigt die Treppe hinauf. „Schlampe“, ruft einer der Frau nach. Die Studenten werden erst langsamer, als ihnen grölend fünf Iren entgegenkommen. Die torkeln auf das RAW-Gelände, wollen wie Tausende andere feiern, trinken, tanzen, vielleicht kiffen, vielleicht auch koksen. Die Musik aus den Läden des Areals, das in sämtlichen Reiseführern steht, mischt sich mit all den Sprachen, die man hier spricht.

RAW-Gelände: Bis zu 10 000 junge Gäste versprechen Beute

An diesem Sonnabend – wenn hier alle Clubs und Bars öffnen – werden wieder bis zu 10.000 junge Gäste auf das Gelände strömen. Die meisten werden sich amüsieren und, wenn sie nach Irland, Schweden oder Italien zurückfliegen, gern daran erinnern. Andere werden bestohlen, beraubt, betatscht.

Seit einem Freund der Sängerin Jennifer Weist vergangenes Wochenende von Räubern in den Hals gestochen wurde, seit zwei Teenager aus Holland von einem 15-köpfigen Mob niedergeprügelt und mit Reizgas besprüht wurden, seit sich immer mehr Anwohner und Gastronomen beschweren, gilt das Gelände als Notstandsgebiet: Eine Task Force wird gefordert, mehr Polizei sowieso, die Politik lädt zum runden Tisch.

Wer regiert das RAW-Gelände?

Im Netz schreiben manche, dass „die ganzen Afrikaner“ das Areal beherrschten. Andere reden von „Roma-Sippen“ oder „der Türken-Mafia“.
Das Studentenpaar ist weg, die beiden Halbstarken stehen immer noch am Tor. Einen Versuch ist es wert: Was macht ihr hier eigentlich? „Schlampen auschecken“, sagt der mit der kurzen Lunte. „So was halt.“ Der andere lacht. Doch immer wenn ein Polizeiwagen auftaucht, laufen die beiden auseinander.

Ihr dealt, oder?

Sie leugnen nicht. Vielleicht weil die Nacht schon rum ist, vielleicht weil es ohnehin alle wissen, vielleicht weil sie einfach Dilettanten sind. Die Päckchen – Hasch oder Koks – verkaufen die beiden aber nicht selbst. Das lassen sie die Schwarzen erledigen.

Oben die Schläger, unten die Kleindealer: Die Rangordnung ist klar

Auf den ersten Blick ist das RAW-Gelände ein Schmelztiegel, ein kosmopolitischer Treff, so wie sich die Stadt als Ganzes gern sieht: Vom S-Bahnhof Warschauer Straße aus fallen zuerst die Punks aus Polen auf, die vor den Treppen lallend mit sich selbst reden. Dahinter beginnt das Revier der Männer von der Elfenbeinküste, Gabun und Nigeria. Die Türsteher vor den Clubs wiederum stammen aus Berlin, Brandenburg, Leipzig, aber auch aus Polen oder der Türkei. Und scheinbar überall stehen zwei, drei jener Gestalten und lassen den Blick schweifen. Sie sagen, sie kommen aus: Palästina, Libanon, Tunesien.

Die Männer aus Afrika säumen die Revaler Straße und bieten den Touristen zuerst Gras, dann Kokain an. Unhöflich werden sie dabei an diesem Abend nie: Hasch? Koka? Guter Preis, ja!? Wer nichts kaufen will, den lassen sie ziehen. Manchmal pfeift einer der Nachwuchsgangster einen Schwarzen zu sich. Dann tauschen sie Kleinteiliges aus. Einmal passt einem der Jungen etwas nicht: Er holt mit der Hand aus, der Schwarze duckt sich weg. Die nächste Ohrfeige wird sitzen.

Die Rangordnung ist klar. Die Schwarzen haben wenig zu melden. Vor einigen Tagen fühlten sich die Punks aus Polen, die weiter oben an der Brücke campieren, provoziert. Mit Flaschen, Latten und Fahrradketten seien sie über das Gelände gestürmt, heißt es, und hätten auf die Afrikaner eingedroschen.

Am Telefon bestätigt ein Beamter vorsichtig die Dealer-Hackordnung. Man gehe außerdem davon aus, dass diejenigen, die rauben, prügeln und zustechen, eher Männer aus arabischen Familien seien, die aber in Berlin aufgewachsen, also anders als die schwarzen Kleindealer keine Flüchtlinge seien. Rund um das Gelände, sagt Polizeisprecher Thomas Neuendorf, habe man bekannte Intensivtäter aufgegriffen.

Vereinzelt sollen sich vor diesem Wochenende Stammgäste und DJs an die Clubs gewandt haben: Kriegt ihr das in den Griff? Bekanntere Künstler, mit deren Auftritten die RAW-Clubs ihr Geld verdienen, könnten sich andere Orte suchen: Columbiahalle, Huxleys, Wuhlheide.

Wozu anzeigen?

Bis 1994 wurden in den RAW-Hallen Bahnen repariert, deshalb auch die drei Buchstaben: Reichsbahnausbesserungswerk. Und deshalb die Schienen im Boden. Seit zehn Jahren ist das Gelände eine der bekanntesten Ausgeh-Zonen der Stadt, von altgedienten Nachtschwärmern „Techno-Strich“ genannt.

Strich passt ganz gut: ankommen, besaufen, Flaschen in die Büsche schmeißen, abhauen. Die Massen hasten durch die Hallen und Gänge, die Bars und Clubs. Das Gelände ist unübersichtlich, 71.000 Quadratmeter groß, nebenan halten Tram, Bus, S- und U-Bahn. Schon lange kommen nicht mehr nur Amüsierfreudige auf der Suche nach dem kreativen Berlin. Die Kleinkriminellen haben erkannt: Wer Opfer sucht, wer sich austoben will, hat es hier leicht. Viele Besucher verlassen nach ein paar Tagen die Stadt; das macht Zeugenaussagen schwierig. Etliche Taten werden gar nicht erst angezeigt. Auch die Episode am Tor wird in keine Statistik eingehen.

„Wozu anzeigen?!“ Der Student aus Hannover steht vor der Tramstation und zuckt mit den Schultern: Ja, die Sache mit dem Messer sei unangenehm gewesen. Aber ob das für eine Anzeige reiche, es sei ja nicht wirklich was passiert. Berlin sei spannend, aber eben ein Dschungel. Und im Dschungel gelte das Recht des Stärkeren. „Die waren nun mal stärker.“ Seine Freundin streicht sich die Strähnen hinter die Ohren, holt Luft und sagt: „Sollten sie aber nicht sein.“

Überfälle gab es vergangenes Jahr mehr

Die Gewalt sei nicht über Nacht hereingebrochen, sagt ein Türsteher. Seit ein, zwei Jahren eskaliere die Situation. Offenbar habe es ein prominentes Opfer gebraucht, bis die Öffentlichkeit reagiert. Dealer, Räuber und Typen, die Frauen ungefragt zwischen die Beine fassen, sagt auch ein Barkeeper auf dem Areal, habe es vorigen Sommer genauso gegeben.

Die Polizei spricht von einer „Amüsiermeile mit überregionaler Bedeutung“, von offensivem Drogenhandel und gehäuften Rohheitsdelikten, also Gewalttaten aller Art. Und zwar tatsächlich nicht erst seit Wochen: In diesem Juli wurden sechs Raubüberfälle angezeigt. Im Juli 2014 waren es neun. Im Oktober 2014 gab es sogar 21 Überfälle. Man tue viel, sagt Polizeisprecher Neuendorf: 286 Einsätze habe es 2015 gegeben.

Schwierig bleibt, jede Tat einem Einzelnen nachzuweisen. Vor einem Polizisten wegzurennen, reicht jedenfalls nicht für einen Haftbefehl. Und bei kleineren Mengen, sagt ein Beamter, heißt es: „Drogen abnehmen, Personalien feststellen, Platzverweis aussprechen.“ Was kaum jemanden abschrecke.

Eine Machete - das ist den Halbstarken dann doch zu viel

Gemischt. Hippies, Touristen, Halbstarke und Gestrandete – auf das RAW-Gelände strömen sie im Sommer alle.
Gemischt. Hippies, Touristen, Halbstarke und Gestrandete – auf das RAW-Gelände strömen sie im Sommer alle.
© Christian Mang

Die aggressiven Jungs tauchen wieder aus dem Dunkeln auf. Das letzte Polizeiauto ist vor einer Minute vorbeigefahren. Breitbeinig lehnen sie sich an eine Wand. Was war denn eigentlich los: Juden, Schwuchteln und Kuffar? So richtig können sich die beiden nicht erinnern. Der Besonnenere vermutet, „der andere Typ“ habe blöd geguckt und sich vor „seiner Schlampe“ aufspielen wollen.

Die Beiden machen nicht den Eindruck, dass hinter ihnen ein Netzwerk steckt, dass sie besonders überlegt, gut organisiert vorgehen: Welcher Profi würde einen so lukrativen Absatzmarkt wie das RAW-Gelände wegen seines Testosteronspiegels riskieren? Aber hier muss man eben kein Profi sein, hier reicht Brutalität. Das Hausrecht der Türsteher, die den Halbstarken in jeder Hinsicht überlegen sind, endet an den Toren der Clubs. Einige Überwachungskameras gibt es zwar. Die Revaler Straße, auf der die letzten Angriffe passierten, filmen die aber nicht. Die Straße ist öffentliches Land.

Linke, offene Kultur - so hat es auf dem RAW-Gelände angefangen

Das RAW-Gelände ist einst von alternativen, linken Kulturmachern erschlossen worden. Das „Astra“ und das „Cassiopeia“ stehen bis heute für eine offene Kultur, es gibt immer wieder politische Veranstaltungen. Auf dem gesamten Areal hängen Plakate linker Initiativen und werben Flüchtlingshelfer um Unterstützung. Die meisten Frauen und Männer, die auf dem Gelände arbeiten, bezeichnen sich als links, antirassistisch, sozialkritisch. Dass die Halbstarken aus Familien stammen, die einst aus dem Nahen Osten und Nordafrika gekommen sind, sagen zwar alle. Nur tun sie das eben anonym. Sie wollen nicht riskieren, dass ihnen einer Rassismus vorwirft. „Es sind“, sagt ein Türsteher, „immer dieselben, die Ärger machen.“ Sie fingen oft schon Streit an, wenn sie am Eingang auf Waffen durchsucht werden sollen. Immer wieder gebe es Beschwerden von Frauen, dass bestimmte Männer sie angegrapscht hätten. In einigen Clubs hängen Hinweise in den Damenklos, auf denen vor Übergriffen gewarnt wird. Einer, der sich traut, auch unter seinem vollen Namen zu sprechen, ist André Krüger. Er sitzt bei einer Cola im Biergarten des „Astra“. Mit 50 Mitarbeitern ist die Konzerthalle einer der größeren Akteure in Friedrichshain und Krüger leitet sie. Krüger – rote Turnschuhe, weißes T-Shirt, rotes Basecap – hat klare, markante Gesichtszüge, ist kräftig, groß. Er könnte Werbung für Milchshakes oder Sportgeräte machen. Kurz: Der Mann ist cool, und er sagt: „Die Dealer sind unser kleinstes Problem.“

Das St. Pauli in Berlin

Es sei die Distanzlosigkeit, die Aggressivität, die Hemmungslosigkeit. Fast jedes Wochenende halte die „Astra“-Security zwei, drei Männer fest, die Gäste beraubt haben. Die Polizei kooperiere, könne aber auch nur so viel machen, wie ihre Personalstärke hergebe. Dennoch, Krüger hat den Eindruck, es werde zu viel toleriert. Der studierte Sozialwissenschaftler vergleicht den RAW-Kiez mit Hamburg: „Wir sind das St. Pauli in Berlin – nur auf St. Pauli gibt es mittendrin eben die Davidwache.“ Das nächste Polizeirevier in der Wedekindstraße ist zwar auch nicht weit weg, drei Autominuten maximal. Doch weil am Wochenende in der Innenstadt viel los ist, stecken die Beamten oft in anderen Einsätzen fest.
Einige der Läden wollen nun Flutlichter anbringen, damit dass Areal besser ausgeleuchtet wird. Seit diesem Frühjahr gehört das RAW-Gelände größtenteils der Göttinger Kurth-Gruppe. Die örtlichen Gastronomen schätzen den neuen Eigentümer, der ebenfalls mehr Licht ankündigte und zudem Büsche roden lassen wolle. Allerdings geschahen die letzten Taten auf der Revaler Straße, also öffentlichem Land. Dort ist es fast dunkler als auf dem Gelände selbst.
Übergriffe gibt es auch in den Clubs – wobei viele Läden die jungen Araber nicht mehr reinlassen. Ein Halbstarker, den Türstehern schon länger bekannt, hat einer jungen Frau neulich an die Brust gefasst. Als die Security ihn aus dem Laden schmiss, wollte er sich erst mit den Türstehern prügeln, dann verlangte er allen Ernstes, dass die von ihm belästigte Frau vor die Tür kommen solle.

Ein Video zeigt, wie sich Männer vor dem Club mit Flaschen bewaffnen

Auf einem Video, das ein Türsteher vor einigen Tagen mit seinem Handy aufgenommen hat, sind vier, fünf Männer zu sehen, die sich vor einem Club mit Flaschen bewaffnen. Die Sicherheitsleute, alle seit Jahren im Nachtleben aktiv, rücken schwer ausgerüstet vor: stichsichere Schutzwesten, Pfefferspray, Taschenlampen in der Hand. Oft filmen die Mitarbeiter solche Einsätze, damit ihnen später niemand Unverhältnismäßigkeit vorwerfen kann. Neben Wirten und Gästen scheinen die jungen Araber auch den einen oder anderen Profi-Kriminellen zu stören. Zumindest erzählen Mitarbeiter des Geländes von einer Nacht vor einigen Monaten. Auf der Revaler Straße habe plötzlich ein Wagen gehalten. In dem Auto saßen Hünen, ein bisschen älter, sollen wie Bodybuilder ausgesehen und Türkisch gesprochen haben. Vielleicht, so mutmaßt ein Angestellter, wollten sie Reviere abstecken. Einer der Männer jedenfalls hielt in der Hand für alle sichtbar eine Machete. Die jungen Aufschneider blieben dann eine Zeit lang weg.

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