Erneuter Streik bei der Bahn: Claus Weselsky - der Überzeugungstäter
Claus Weselsky will aushalten, solange die Mannschaft hinter ihm steht. Der GDL-Chef ruft die Lokführer erneut zum Ausstand. Er sieht sich im Recht gegen die Bahn. Doch der Konflikt ist nicht so schlicht, wie er scheint.
Freitagabend im Sammeltaxi von Potsdam nach Brandenburg an der Havel. Das Auto ist voll und die Stimmung gut. Dann kommt die Sprache auf Claus Weselsky. „Den würde ich gerne mal treffen“, sagt eine Frau um die Sechzig. „Den würde ich gerne verdreschen“, legt ein Mann nach. Zustimmendes Gemurmel der Fahrgemeinschaft. Es ist der 8. Mai, kurz nach 21 Uhr. Die Lokführer streiken den vierten Tage in Folge, und am Potsdamer Hauptbahnhof geht nichts mehr. Zwei freundliche Damen vom Auskunftsschalter der Bahn fackeln nicht lange und bestellen ein Taxi, das die Arbeitskampfopfer nach Hause bringt. Es geht über Werder nach Brandenburg und zurück noch in Lehnin vorbei. Der Taxifahrer ist gut drauf, am Nachmittag hat er einen Bahnkunden, der nicht mehr vom Fleck kam, nach Magdeburg gefahren. Alles in allem sollen die seit September geführten diversen Arbeitskämpfe die Bahn inzwischen gut 200 Millionen Euro kosten. Der Hauptverantwortliche steht für viele fest, nicht nur bei der Taxibesatzung: Claus Weselsky.
Der tritt am Montag in Berlin als Ankläger auf. Nachdem die Tarifgespräche am Wochenende abermals ohne Ergebnis geblieben sind, kündigt GDL-Chef Weselsky den nächsten Streik der Lokführer an. Kein befristeter, wie er zu erklären versucht, weil die GDL selbst entscheiden wird, wann der am Mittwoch beginnende Ausstand endet, 48 Stunden vorher. Weselsky demonstriert: Wir sitzen am längeren Hebel. Neun Streiks sind es jetzt in fast einem Jahr ergebnisloser Verhandlungen, nächtlicher Runden, Vier-Augen-Gespräche. Am Montagmorgen hatten Weselsky und Bahn-Personalvorstand Ulrich Weber noch einmal zusammen gesessen. Vergeblich.
"Lange genug verschaukelt"
Stunden später betritt der GDL-Vorsitzende schnellen Schrittes – und wie immer mit Verspätung – die Räume des Beamtenbundes in der Friedrichstraße. Druckvoll, als sei es der erste Paukenschlag im langen Arbeitskampf der Lokführer, sagt er: „Die Deutsche Bahn missachtet immer noch die Grundrechte der GDL und ihrer Mitglieder.“ Die Gewerkschaft sei deshalb dazu gezwungen, den Arbeitskampf fortzusetzen. Man könnte es auch Eskalation nennen. „Sie dürfen davon ausgehen, dass dieser Streik länger als der am 4. Mai begonnene dauern wird.“ Sechs Tage Anfang des Monats hätten die Deutsche Bahn nicht beeindruckt. „Wir sind lange genug verschaukelt worden."
Vordergründig ist der Konflikt eher schlicht: Mehr Geld und weniger Arbeitszeit, das weicht nicht sonderlich vom üblichen Forderungsprogramm einer Gewerkschaft ab. Der Gegner der GDL ist aber weniger die Bahn, als die verhasste Eisenbahnverkehrsgewerkschaft EVG, die viel mehr Mitglieder hat als die GDL und die von Weselsky als „Hausgewerkschaft“ des Konzerns verspottet wird. Also eine zahme Truppe, die Bahnchef Rüdiger Grube und Personalvorstand Ulrich Weber im Griff haben. Meint der GDL-Chef, der selbst keinen Zweikampf scheut. Und der sich auf die aktuelle Auseinandersetzung lange vorbereitet hat.
Weselsky ist ein Überzeugungstäter
Denn im vergangenen Jahr lief eine Kooperationsvereinbarung aus, mit der beide Bahn-Gewerkschaften ihre Claims im Konzern absteckten. Grob gesagt: Die GDL kümmerte sich um die Lokführer und die EVG um Zugbegleiter, Bordgastronomen und Disponenten. Das ist Geschichte. Jetzt will die GDL einen Tarif für alle ihre Mitglieder bei der Bahn. Und wenn möglich, einen besseren als die EVG für ihre Mitglieder rausholt. Die Bahn will aber keinesfalls unterschiedliche Vereinbarungen. Weselsky nennt das „Tarifdiktat“ und betont, dass er und seine Truppen sich nicht unterwerfen werden. Niemals.
Claus Weselsky ist ein Überzeugungstäter. Er sieht sich im Recht und will dieses Recht durchsetzen. Dass er inzwischen „ständig mit Dreck beschmissen wird“, wie ein Vertrauter sagt, hält er solange aus, „wie die Mannschaft hinter ihm steht“. Trotz Erhöhung des Streikgelds von 50 auf 75 Euro pro Tag verlieren die streikenden Lokführer Einkommen. Irgendwann stehen Aufwand und potenzieller Ertrag in keinem guten Verhältnis mehr. Dann ist der Arbeitskampf verloren. Und Weselsky auch.
Der GDL-Vorsitzende wurde 1959 in Dresden geboren, bei der Reichsbahn ließ er sich zum Schienenfahrzeug- Schlosser und Lokomotivführer ausbilden. Nach der Wende wurden mehr als 95 Prozent der Reichsbahner GDL-Mitglieder. Im Westen waren die Lokführer damals noch verbeamtet und die GDL entsprechend schwach. Das erklärt bis heute die starke Stellung der Ostdeutschen in der seit 1991 gesamtdeutschen GDL, deren Wurzeln bis 1867 zurückreichen.
Weselsky kann attackieren - mit vollem Risiko
Seit 1992 arbeitet Weselsky hauptamtlich für die Gewerkschaft, als Betriebs- und Personalrat, als GDL-Chef von Dresden. Zehn Jahre später geht er in die GDL-Zentrale nach Frankfurt am Main, 2006 wird er Vize und Kronprinz von Manfred Schell. Kurz darauf tritt die Gewerkschaft erstmals als Tarifakteur auf. Die Lokführer sehen sich abgehängt von der Einkommensentwicklung bei der Bahn und setzen nach einer zähen Auseinandersetzung eine Erhöhung um elf Prozent durch. Dieser Sieg setzt Kräfte frei, die bis heute wirken. Auch bei Weselsky.
Vor ein paar Jahren hat er das Rauchen aufgegeben, er wandert gern und hält sich mit Joggen fit. Im Urlaub taucht er. Das Arbeiterkind Weselsky ist ein rhetorisches Talent. Er kann komplexe Sachverhalte bildhaft darstellen und gibt auch vor Mikrofonen und Kameras keineswegs einen Tölpel. Und er kann attackieren – mit vollem Risiko. Dem Bahn-Vorstand eine „perfide Art“ vorzuwerfen und „Scheinheiligkeit“ – das mag ja in der Hitze des Tarifkonflikts noch durchgehen. Aber es kann ihm eben auch passieren, dass er die Fusion der Konkurrenzgewerkschaften Transnet und GDBA zur EVG als den Zeugungsakt von zwei Kranken beschreibt, mit „etwas Behindertem" als Ergebnis. Da kommt Hass durch.
Ein Schlichter? PR-Gag
Die EVG gehört zum DGB und die GDL zum Beamtenbund (dbb). Wenn Weselsky streikt, dann braucht er die finanzielle Unterstützung des dbb. Dessen Chef, Klaus Dauderstädt, ist ruhig und bedächtig. Alles andere als ein Arbeitskämpfer. In den vergangenen Monaten hat Dauderstädt viel telefoniert, mit der Spitze der Bahn, aber auch mit dem Verkehrsministerium und mit Weselsky sowieso. Doch am Ende hatte er nicht genügend Kraft gegen Weselskys Argumente und Überzeugungsstärke. Die Herren in der Bahn-Zentrale am Potsdamer Platz haben ihren Gegner offenkundig auch unterschätzt.
Mit Blick auf das vergangene Wochenende spricht Bahn-Personalvorstand Ulrich Weber von „wechselnden Stimmungen“ bei den abgebrochenen Verhandlungen. „Es sind ja keine persönlichen Animositäten, die uns trennen. Die Interessen werden professionell vertreten.“ Doch die vermeintlichen Profis finden keinen Kompromiss, weil es in den Auseinandersetzungen – so meint Weber – immer wieder „persönlich und politisch“ zugeht. Weselsky müsse sich wie ein „verständiger Tarifpartner“ verhalten, wenn nötig auch mit Unterstützung eines Schlichters. „Das wäre professionell.“
Weselsky will aber nicht verstehen. Den Vorschlag, Matthias Platzeck als Schlichter einzusetzen, nennt er am Montag einen PR-Gag. „Über die grundgesetzlich geschützte Koalitionsfreiheit darf kein Beobachter oder Schlichter vermitteln, moderieren oder auch schlichten“, sagt er. Die Bahn sei trotz anderslautender Aussagen nicht wirklich bereit, in ein Schlichtungsverfahren einzutreten. „Ich möchte die Mär vom Tisch haben, dass wir zu keiner Lösung in der Lage sind“, ruft Weselsky, die Wangen gerötet, den Finger gehoben. Tatsächlich sei die Bahn unwillig.
"Hier stehe ich, ich kann nicht anders"
Der ganze verfahrene Konflikt spielt sich ab vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung in der Politik, die schon lange schwelt, aber nur von Eingeweihten verfolgt wird: Diese Woche verabschiedet der Bundestag, rund fünf Jahre nachdem das Thema erstmals aufgekommen ist, ein Gesetzt über die Tarifeinheit. Danach soll eine Gewerkschaft in einem Betrieb einen Tarif abschließen. Wenn es mehrere Gewerkschaften und Tarife gibt und diese dann auch noch dieselben Beschäftigtengruppen betreffen, also zum Beispiel Schaffner bei der Bahn, dann hat künftig der Tarifvertrag der größeren Gewerkschaft Vorrang. Bei der Bahn ist die EVG mit Abstand die größte Gewerkschaft. Weselsky wirft seinen Gegenspielern aus dem Vorstand nun vor, auf das Gesetz warten zu wollen und sich deshalb einer Einigung zu widersetzen. Kann schon sein. Denn auf Grundlage des Gesetzes könnte künftig ein Streik der Minderheitsgewerkschaft (GDL) vom Arbeitsgericht untersagt werden. Eine Gewerkschaft, die nicht streiken darf, ist so gut wie tot.
In jedem Fall will Weselsky vor Inkrafttreten des Gesetzes im Juli einen Tarifabschluss. Aber wie kompromissfähig ist er? Er ist strukturiert, organisiert und kann Leute mitziehen. Doch „es fällt ihm schwer, die Argumente anderer anzuhören“, sagt ein enger Mitstreiter, um sofort eine verständnisvolle Interpretation dieser Selbstgewissheit anzufügen. „Wenn man von Zweifeln geplagt wird, dann kann man so eine Auseinandersetzung nicht führen.“ Er will da jetzt durch. Aus Überzeugung. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, hat er tatsächlich einmal gesagt.
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