Claus Weselsky: Chef der GDL hat Lokführer hinter sich - noch
Mit Pathos ruft die S-Bahn zum Streikbruch auf. Doch Lokführer und Zugbegleiter wollen der Gewerkschaft nicht in den Rücken fallen. An der Basis gibt es aber auch Streit über den Streik und Claus Weselsky.
Es gibt kein Entrinnen mehr. „ZAT“ heißt die Parole, die neuerdings auf Schildern an den meisten Berliner S-Bahnhöfen prangt und die Lokführer auf feindliches Terrain zwingt – auf den Bahnsteig, zu den Kunden: Das Kürzel steht für „Zugabfertigung durch Triebfahrzeugführer“. Es bedeutet für Fahrgäste die Chance und für Lokführer das Risiko, sich zu begegnen. Hier also kann man kurz mit ihnen sprechen, über den längsten Streik der Bahngeschichte, die Wut der Kunden und die Stimmung unter den Kollegen. Mittwochmorgen am Bahnhof Grünau beispielsweise. Hier, einen sportlichen Tagesmarsch vom Fernsehturm entfernt, brauchen die Menschen die S-Bahn, wenn sie ohne Auto zur Arbeit wollen. Es sind Regionen wie diese, für die die vier Streiktage eine Katastrophe werden.
Der Mittvierziger mit den drei roten Schulterstreifen, der gerade seinen Zug wendet, ist nicht in der Lokführergewerkschaft GDL. Aber er kann am Streik der Kollegen nichts Schlimmes finden: Von deren Erfolgen werde auch er profitieren. Zwei Stunden weniger pro Woche, fünf Prozent mehr Lohn und etwas komfortablere Dienstpläne wären schon schön, sagt er. Im übrigen freue er sich auf ruhige Dienste, weil aller Erfahrung nach kaum jemand auf die wenigen S-Bahnzüge vertraut, die noch fahren.
Ein pathetischer Appell
Welches Drama der viertägige Streik für die Bahn ist, lässt sich schon aus dem Aufwand schließen, mit dem vorab Ersatzfahrpläne erstellt, Personal rekrutiert und Züge dirigiert werden, damit sie zum Streikende am frühen Montagmorgen möglichst schnell wieder in Fahrt kommen. Ein weiteres Indiz für den Ernst der Lage liefert ein fast pathetischer Offener Brief der S-Bahn-Geschäftsführung an die „lieben Kolleginnen und Kollegen“: Als vor 25 Jahren die Mauer fiel, habe die S-Bahn „eindrucksvoll gezeigt, zu welchen Leistungen sie in der Lage ist und hat damit hier in Berlin ihren Beitrag zur Einheit geleistet. Darauf dürfen wir zu Recht stolz sein“. Jetzt aber drohe „irreparabler Schaden“. Man wisse um den Konflikt der Lokführer zwischen Solidarität mit der Gewerkschaft und mit der Stadt. „Vor diesem Hintergrund bittet die Geschäftsführung alle Lokführerinnen und Lokführer der S-Bahn Berlin, von einer Streikteilnahme abzusehen und an ihre tolle Leistung von 1989 anzuknüpfen. Setzen Sie ein Zeichen: Wir fahren. Für Berlin. Für die Einheit.“
Tatsächlich ist Berlin mit dem Streik ausgerechnet am großen Feierwochenende – offizieller Mobilitätspartner: die S-Bahn – doppelt gekniffen. Großen Erfolg werden die Chefs mit ihrem Aufruf nicht haben. In den GDL-Gremien ohnehin nicht, und die Lokführer melden sich nach bisherigen Erfahrungen lieber krank, statt als Streikbrecher aufzutrumpfen. Von 150 spontanen Krankmeldungen unter den rund 1000 Fahrern beim letzten Streik ist die Rede.
Weselsky spuckt die Sätze
Mit Claus Weselsky, dem Chef der GDL, hat sich die S-Bahn-Führung sowieso den Falschen ausgesucht. Er hat die Presse am Mittwochnachmittag in ein Berliner Luxushotel geladen. Weselsky sitzt vor etlichen Mikrofonen, er ruft, doziert, belehrt. Über die seiner Ansicht nach zwingenden Gründe für den Streik: Dass die Bahn Verhandlungen verweigere und den GDL-Mitgliedern mit ihrem jüngsten Angebot „die Grundrechte abspricht“, die Lokführer unterwerfen wolle. Weselsky spuckt seine Sätze vor die Füße des Publikums, wird immer lauter, sein Gesicht rötet sich. Sicher, dass die Züge ausgerechnet am 9. November nicht fahren, sei „nicht besonders glücklich“. Verantwortlich dafür sei aber die Bahn selbst, niemand sonst.
Die Wut des halben Landes konzentriert sich auf Weselsky. Boulevardzeitungen hatten am Mittwoch seine Büronummer abgedruckt, sein Haus fotografiert. Ob er sich angegriffen fühle, isoliert? Ein „perfides Medienspektakel“ sei angelaufen, sagt der 55-Jährige. Was da geschehe, „hinterlässt seine Spuren“, gibt er zu. Schließlich scheine „eine bestimmte Journaille Wert darauf zu legen, dass der Vorsitzende kippt“. Doch Weselsky lässt sich nicht einschüchtern: „Wer da feige kneift, wenn er in die Schusslinie gerät, wird der Aufgabe nicht gerecht.“ Die Basis stehe hinter ihm, die Solidarität der Kollegen sei „beispielgebend“. Mehr mehr als 9000 hätten sich am letzten Ausstand beteiligt. Obwohl sie nur 50 Euro Streikgeld am Tag bekommen – „das ist weniger, als die Leute verdienen“.
Viele finden, so kann es nicht weitergehen
Zur Stimmung an der Basis ist von den Lokführern Unterschiedliches zu hören: Während manche von Streit berichten, behaupten andere, die Reihen seien noch einigermaßen geschlossen. „Der Frust bei den Kollegen ist einfach riesig“, sagt etwa Michael Kretschmann, der seit 1985 als Lokführer für die Bahn arbeitet und seit Gründung der Gewerkschaft GDL-Mitglied ist. Unbezahlte Überstunden, Schicht- und Wochenenddienste sind nur einige Punkte, die Kretschmann einfallen, wenn er nach den Gründen für die schlechte Stimmung beim Bahnpersonal gefragt wird. Von der Unvereinbarkeit von Familie und Beruf ganz zu schweigen. „Viele streiken, weil sie finden, dass das alles so nicht weitergehen kann“, sagt er.
Dass die Gewerkschafter immer größere Teile der Bevölkerung gegen sich aufbringen, bewege die Lokführer-Kollegen so gut wie gar nicht, sagt Kretschmann. „Sie stehen ja bei ihrer täglichen Arbeit nicht in der Öffentlichkeit“, sagt er. Bei den Zugbegleitern sieht das schon anders aus.
Die Lokführer reden vor allem über sich selbst
Viele Kollegen hätten kein Verständnis mehr für den „Vernichtungskrieg des Herrn Weselsky“, sagt Heiner Wegner, der ehemalige Betriebsratsvorsitzende der S-Bahn. Sie wollten ihrer Gewerkschaft aber auch nicht offen in den Rücken fallen. Rund 90 Prozent der S-Bahn-Fahrer seien in der GDL.
Wer sich umhört im Unternehmen, hört die Lokführer vor allem über sich selbst reden, aber wenig über die Kunden. Als würden sie nicht mitbekommen, dass sie Menschen transportieren und nicht Kohlen oder Schrott. Claus Weselsky, der aus Perspektive vieler Bahnkunden inzwischen unter Terrorismusverdacht stehende Chef der Lokführergewerkschaft, beeindruckt vor allem die Jüngeren, sagt ein anderer Fahrer, der am Südkreuz seine Frühstücksboulette aus der Imbissbude trägt. Die GDL sei die Gewerkschaft der Jüngeren, der Revoluzzer. Die größere Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG dagegen – von Weselsky als handzahme Hausgewerkschaft verhöhnt – sei eher für die Älteren gut, weil sie stärker um Absicherung als um Lohnprozente kämpfen. Aber auch viele GDLer hätten sich eine andere Art von Streik vorgestellt, sagt der Fahrer: „Die hatten auf einen einzigen unbefristeten Streik gehofft, denn dann muss sich ja was bewegen.“ Immerhin werbe die GDL im Unternehmen nicht mehr so massiv um Mitglieder wie bei früheren Streiks. „Am Ende haben manche gemerkt, dass die von der GDL erreichten Abschlüsse gar nicht so doll waren“, sagt der Mann, rafft die Serviette um sein Frühstück und läuft nach vorn, wo er gleich einen Zug übernehmen muss.
Basis gegen Spitze
Ein anderer Bahner erzählt nur halb im Scherz, dass es am Ostkreuz früher Aufenthaltsräume für Raucher und Nichtraucher gegeben habe, während die Kollegen sich jetzt nach GDL und Nicht-GDL sortieren würden. Ein Prüfingenieur, der zur Arbeit ins ICE-Werk nach Rummelsburg fährt, findet das Benehmen der Lokführer einfach größenwahnsinnig: „Das sind doch nur zehn Prozent der Belegschaft im DB-Konzern in Deutschland. Wenn wir hier streiken würden oder die Fahrdienstleiter, würde genauso alles zusammenbrechen.“
Die Opposition innerhalb der GDL, entstanden als Folge von Weselskys dominantem Führungsstil, hält den Ausgang des Streiks für offen. „Die Gewerkschaftsbasis wird entscheiden, ob sie Weselsky folgt“, sagt Volker Siewke, Sprecher der „Initiative für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“. „Die folgenden vier Tage werden zeigen, wie groß die Identifikation der Basis mit der Spitze ist.“
Brüllende Fahrgäste sind harmlos
Es sind eher die anderen, die über die Kunden reden. Vor allem die, die mit ihnen reden müssen, etwa am Hauptbahnhof, dem Schmuckstück der Bahn, der am Wochenende wie ein zu groß geratener Klunker in der vereinten Hauptstadt herumstehen wird. „Können Sie mir erklären, wieso die gerade jetzt streiken? Wo in Niedersachsen die Ferien zu Ende gehen und meine Tochter nach Hause muss?“, brüllt ein Vater am Mittwochmorgen am Informationsschalter. Im Arm hält er sein 14-jähriges Mädchen fest, als müsse er es gegen eine feindliche Macht verteidigen. Der Bahn-Mitarbeiter auf der anderen Seite des Tresens, ein schmaler Mittzwanziger mit hängenden Schultern, fixiert den Bildschirm vor sich. Es ist nicht der erste genervte Fahrgast heute. Seit am Vorabend der Streik bekannt gegeben wurde, kennen die Kunden kein anderes Thema. „Die wollen einfach möglichst viele Menschen treffen“, sagt der Bahner zaghaft. Dann reicht er einen Ersatzfahrplan über den Tresen.
Einer ist selber wütend
Später wird er sagen, dass er beim letzten Streik Glück hatte, weil ihm gegenüber kein Fahrgast wirklich ausgetickt sei. Dass er von Kollegen aber schlimme Sachen gehört habe, dass brüllende Fahrgäste harmlos seien, dass schon mal einer über den Tresen gelangt habe. Der junge Mann wird auch erklären, dass er solche Situationen fürchte, dass er aber auch Verständnis habe. „Schließlich bin ich selber wütend.“
Egal ob an den Informationsschaltern oder im Reisezentrum, jeder, den man nach dem Bahnstreik fragt, sagt, er sei sauer, jeder sagt, er verstehe die Wut der Kunden. Verständnis für die Lokführer aber hat keiner. Ein Mitarbeiter im Reisezentrum kneift die Augen zusammen und flüstert: „Diese Hirnkranken ruhen sich auf unsere Kosten aus.“ Lauter sagt er dann, er wolle die Situation mit Humor nehmen. Und: „Wir müssen da gemeinsam mit den Kunden durch.“