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Der britische Premier David Cameron.
© AFP

Streit um Jean-Claude Juncker auf dem EU-Gipfel: Cameron zelebriert die Niederlage wie einen Sieg

Ein Erbe ist der britische Premier bis heute nicht losgeworden – die unmögliche Beziehung der Briten zu Europa. Nun tut David Cameron etwas, was es bei der EU noch nie gab: Er verlangt eine Abstimmung über Jean-Claude Juncker. Er verliert krachend. Oder etwa nicht?

Angela Merkel hat den Sieg der deutschen Mannschaft verpasst. Sie sei aber über das WM-Spiel informiert gewesen, hieß es aus ihrem Umfeld, während sie im belgischen Ypern an einer Gedenkfeier für die Toten des Ersten Weltkriegs teilnahm. Das Treffen am Vorabend des EU-Gipfels sollte wieder einmal unterstreichen, wie friedlich Europa seit dem Ersten Weltkrieg geworden ist. Stattdessen wird der Tag darauf zu einem Kampf, einem Kampf um Europa, mit Siegern und Verlierern. Und so kommt es, dass 100 Jahre, nachdem der britische Hauptmann John Geddes in den Flandernschlachten sein Leben gelassen hat, sein Groß-Großneffe als Verlierer vom Feld geht. Oder als Sieger. Der Neffe heißt David Cameron.

Zweieinhalb Stunden sitzen die EU-Regierungschefs am Donnerstagabend zusammen hinter den mächtigen Renaissance-Mauern des Rathauses der flämischen Stadt Ypern. Erst gibt es Schrimps-Kroketten mit Salat, dann Scholle und am Ende eine Creme aus belgischer Schokolade. Zwischen Hauptgang und Dessert meldet sich Cameron zu Wort. „Wir werden den neuen EU-Kommissionspräsidenten respektieren“, sagte der britische Premier. Es ist der einzige Satz während des ganzen Abends zu dem Thema, das Großbritannien und den Rest der EU zu entzweien droht. Der Name Jean-Claude Juncker fällt kein einziges Mal. Die 28 europäischen Staatspräsidenten, Premierminister und Kanzler wollen friedlich bleiben an diesem Tag.

Am nächsten Morgen trifft Cameron Angela Merkel morgens um neun für zehn Minuten zu einem Einzelgespräch. Bevor der Gipfel beginnt. Er sagt ihr, was er vorher bereits über Facebook und Twitter verbreitet hat. „Jean-Claude Juncker hat in seinem gesamten beruflichen Leben immer das Projekt vorangetrieben, die Macht von Brüssel zu vergrößern und die Macht der Nationalstaaten zu verkleinern. Er ist nicht die richtige Person, um die Organisation voranzubringen.“

Merkel ist in den vergangenen Wochen zu Camerons Vertrauter geworden

Die deutsche Kanzlerin war in den vergangenen Wochen zu Camerons Vertrauter geworden, so hatte er es offenbar verstanden. Sie war zum Besuch nach London gekommen, und auch wenn sie ihm dabei nicht viel versprochen hatte, interpretierte Cameron das als politisches Symbol. Sie hatte sich mit ihm und den konservativen Regierungschefs von Schweden und den Niederlanden getroffen, um eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. Vor allem hatte sie nach den Europawahlen gesagt: „Die ganze Agenda kann von ihm und von vielen anderen durchgeführt werden.“ Cameron wird das als Aufmunterung verstanden haben, Juncker öffentlich infrage zu stellen.

Außenseiter. Der britische Regierungschef David Cameron hat seine Niederlage wie einen Sieg verkauft. Foto: Pool/dpa
Außenseiter. Der britische Regierungschef David Cameron hat seine Niederlage wie einen Sieg verkauft. Foto: Pool/dpa
© dpa

David Cameron ist der Sohn eines Börsenmaklers. Er ist in Eton zur Schule gegangen und hat in Oxford studiert. Er macht wie so viele Briten mit seiner Frau Samantha und den Kindern Urlaub in Portugal, und als sein Sohn Ivan, der an zerebraler Kinderlähmung und schwerer Epilepsie litt, verstarb, war er vielen trotz seiner Oberschichtenaura sympathisch. Cameron, der sich einen „modernen, mitfühlenden Konservativen“ nennt und für die Homo-Ehe ist, hat versucht die Konservativen in Großbritannien von dem kalten Schatten Margaret Thatchers zu befreien.

Doch ein Erbe ist er bis heute nicht losgeworden: die unmögliche Beziehung Großbritanniens zu Europa. Im Rückblick auf die Maastricht-Verhandlungen schrieb der damalige Außenminister Douglas Hurd: „Wir hatten damals weder eine Wirtschafts- noch ein Europa-Politik.“ Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die EU ist für die Briten, für die sehr große Mehrheit der Briten, eine Frage von Wohlstand und Freiheit. Mehr nicht. „Jede Sakralisierung der europäischen Einigung ist den Briten fremd“, sagt der Historiker Dominik Geppert. Die britischen Parteien verlieren ihre Wähler in Massen an die europafeindliche United Kingdom Independent Party.

Cameron, der Juncker die Eignung für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten abspricht, war nicht gerade als feinfühliger Menschenkenner nach Brüssel gereist: Sein ehemaliger Sprecher Andy Coulson hat sich gerade im Zuge der Abhöraffäre der Murdoch-Medien in dieser Woche als Verbrecher erwiesen. Dafür gab Cameron im Parlament eine „volle und klare Entschuldigung“ ab und beteuerte, von den Abhöraktionen nichts gewusst zu haben.

David Cameron wollte in Brüssel zum Märtyrer werden.

Angela Merkel hat sich gegen den britischen Premier David Cameron in der Personalie Jean-Claude Juncker durchgesetzt.
Angela Merkel hat sich gegen den britischen Premier David Cameron in der Personalie Jean-Claude Juncker durchgesetzt.
© dpa

Beim Gipfel-Mittagessen im Brüsseler Ratsgebäude „Justus Lipsius“, das Schokoladenmillefeuille mit Aprikosen ist noch nicht abgetragen, schreitet Cameron zur Attacke. „Das ist ein trauriger Tag für Europa“, sagt er. Die Nominierung von Juncker für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten sei ein „gefährlicher Präzedenzfall“ und habe „keinerlei Legitimität im Vereinigten Königreich“.

Was Cameron dann tut, hat es seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1957 noch nie im Rat der Regierungschefs gegeben: Der Brite verlangt eine Abstimmung. 26 Regierungschefs votieren mit Ja, zwei mit Nein. Ungarns Premierminister Viktor Orban stellt sich ebenfalls offen gegen Juncker. Cameron wusste bereits vorher, dass er auf den Ungarn zählen kann. Am Abend zuvor in Ypern hatte Orban ihm noch einmal versichert, dass er fest an seiner Seite steht. Verhindern können die beiden den Luxemburger aber auch mit vereinter Kraft nicht mehr. Für die erforderliche Sperrminorität hätten mindestens vier Regierungschefs gegen Juncker die Hand heben müssen.

David Cameron zelebriert die Niederlage wie einen Sieg

Es ist eine krachende Niederlage für Cameron. Doch er zelebriert sie wie einen Sieg. Das Abstimmungsergebnis müsse notiert, amtlich protokolliert und veröffentlicht werden, verlangt der Brite. Er will als strahlender Verlierer nach London zurückkehren. Die vielen EU-Gegner in seinem Land und in seiner Partei sollen begreifen, dass er, Cameron, alles Menschenmögliche gegen die Nominierung Junckers getan hat. Offenbar hofft der Premier, auf diese Weise politisch unbeschadet aus der Sache herauszukommen, seine Popularität eventuell sogar noch zu steigern. Denn noch bevor das Referendum über Europa ansteht, muss Cameron die Wiederwahl gewinnen. Das ist ihm im Moment wichtiger als alles andere. Eine nachvollziehbare britische Europa-Politik ist noch immer nicht erkennbar.

Noch in den letzten Tagen haben mehrere Regierungschefs versucht, Cameron in der Juncker-Frage zum Einlenken zu bewegen. Der niederländische Premier Mark Rutte rief Anfang der Woche in der Downing Street an. Bundeskanzlerin Merkel telefonierte mehrfach mit Cameron. Auch die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt will Cameron nicht allein lassen. Demonstrativ spaziert sie am Donnerstagabend gemeinsam mit dem Briten über den Marktplatz von Ypern. „Es ist offenkundig, dass wir ein starkes Großbritannien in der EU brauchen“, sagt die dänische Sozialdemokratin am Freitagmorgen. „Wir müssen jetzt die Wunden heilen, um Großbritannien ins Spiel zurückzubringen“, verlangt sie. „Ein EU-Austritt Großbritanniens wäre ein großes Drama für uns“, heißt es in holländischen Regierungskreisen. Es waren vor allem die Niederländer gewesen, die Anfang der 70er Jahre für den britischen Beitritt zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gekämpft hatten. Ohne die Briten seien sie der deutsch-französischen Dominanz hilflos ausgeliefert, fürchteten die Niederländer damals. „Und das tun wir auch heute noch“, sagt ein EU-Diplomat.

Die Frage, ob Jean-Claude Juncker gut für die EU ist, spielte kaum eine Rolle

David Cameron wollte in Brüssel zum Märtyrer werden, weil in dieser Rolle die Differenz zwischen Sieg und Niederlagen verschwimmt. Angela Merkel wollte Juncker erst nicht als Kommissionspräsidenten, schließlich hat sie ihn doch gewählt. Hat sie damit gewonnen? Jean-Claude Juncker wollte eigentlich, so heißt es, lieber Ratspräsident werden. Dann wurde er irgendwie Spitzenkandidat, Sieger der Europawahlen – und persönliches Feindbild der Euro-Kritiker. Juncker, hatte der niederländische Finanzminister und Euro-Gruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem einmal gesagt, sei „ein verstockter Raucher und Trinker“. Nun ist er als Kommissionspräsident nominiert. Hat er damit gewonnen?

Die Frage, ob Jean-Claude Juncker gut für die Europäische Union ist, spielte in den vergangenen Wochen kaum eine Rolle. Was er vorhat, war von ihm nicht zu hören. Über der EU hängt stattdessen der drohende britische Austritt wie ein Damoklesschwert. Das große Nachdenken darüber, wie man die Insel halten und wieder an die EU heranführen kann, hat bereits begonnen. „Deshalb müssen wir schauen, dass wir bei den inhaltlichen Fragen eines hohes Maß an Gemeinsamkeit erreichen. Ich denke, hier können wir mit Großbritannien sehr gute Kompromisse finden“, hatte Merkel bereits vor dem Gipfel gesagt. Jetzt ist sie bereit, den Briten einen herausgehobenen Posten in der nächsten EU-Kommission zu geben. Macht das David Cameron am Ende doch zum Sieger?

Europa hat heute einen niedrigeren Blutdruck als vor 100 Jahren. Und damit sind die Siege kleiner als vor 100 Jahren, die Niederlagen auch. Vielleicht so klein, dass der Unterschied zwischen Sieg und Niederlage, erst im historischen Rückblick deutlich wird.

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