SPD-Fraktion: Andrea Nahles vor dem Sprung
Mindestlohn, Rente mit 63 - als Arbeitsministerin hat sie getan, was sie konnte. Dennoch droht der SPD am Sonntag eine historische Niederlage. Und Andrea Nahles muss sich entscheiden.
Wie wird man eigentlich etwas in der Politik? Ein Septembertag in Berlin-Mitte, Andrea Nahles erklärt ein paar Dutzend Schülern die Welt – ihre Welt. „Disziplin, Zähigkeit und Dranbleiben“ – das seien für erfolgreiche Politiker die wichtigsten Tugenden. Mindestens so wichtig wie der Faktor „Genie“.
Die Arbeitsministerin ist an diesem Mittag Gast der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und des Bundesverbandes deutscher Banken. Das Leitmedium des deutschen Bürgertums und die Banker-Lobby haben die „rote Andrea“ als Rednerin zur Siegerehrung des Wettbewerbs „Jugend und Wirtschaft“ geladen. Es sind noch elf Tage bis zur Bundestagswahl. Dann wird sich zeigen, wohin die 47-Jährige noch kommen kann mit Disziplin, Zähigkeit und Dranbleiben.
Nahles trägt bei ihrem Auftritt einen Hosenanzug in leuchtendem Lila, der Farbe der Bischöfe und der Emanzipation. Irgendwie passend für eine, die bekennende Katholikin ist und sich in der Männerwelt der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands nach oben gekämpft hat, ohne Angst vor Alphatieren. Den Agenda-Kanzler Gerhard Schröder schmähte sie als „Abrissbirne des Sozialstaats“, den SPD-Vorsitzenden Kurt Beck als „Buddha mit kurzer Lunte“.
Von der Schreckschraube zur Staatsfrau
Flapsig, unerschrocken, eigenwillig, so gibt sich Nahles auch in ihrer Rede vor den Schülern. Die applaudieren am Ende kräftig, manche johlen sogar. Auch die Banker klatschen Beifall. Sie wissen ja, dass die frühere Juso-Vorsitzende nach langem Marsch längst in der politischen Mitte angekommen ist.
Andrea Nahles als Ministerin – das ist auch die Geschichte eines sorgfältig geplanten Neuanfangs. Das Arbeits- und Sozialressort übernahm sie vor vier Jahren mit der festen Absicht, das Image der linken Flügelfrau loszuwerden. Staatsfrau statt Schreckschraube, Sacharbeit statt schriller Parolen – das war der Plan. Er ging auf. In vier Kabinettsjahren hat Nahles für sich und ihre Partei einiges erreicht. Sie brachte 39 Gesetze durch, darunter den Mindestlohn, von dem vier Millionen Menschen profitieren. Oder die Rente mit 63, die es langjährigen Beitragszahlern ermöglicht, ohne Abschläge in den Ruhestand zu gehen. Alles ohne große Schaukämpfe.
Viele hatten ihr das nicht zugetraut. Doch Nahles ging pragmatisch vor. Sie suchte bei allen großen Projekten die Nähe zur Kanzlerin und zum Finanzminister, zu Angela Merkel und Wolfgang Schäuble. Sich frühzeitig mit den richtigen Leuten abstimmen, um Hindernisse aus dem Weg zu räumen und Blockaden in der großen Koalition, wann immer möglich, zu vermeiden – das war ihre Methode. Nicht nur bei den eigenen Leuten, auch in der Union trug ihr das Respekt ein. Sogar Volker Kauder, der Fraktionschef und Merkel-Vertraute, soll sich verwundert die Augen gerieben haben.
Und doch bleiben am Ende von Nahles’ Amtszeit Fragen: Haben all die sozialdemokratischen Regierungsprojekte das Vertrauen in die SPD zurückgebracht? Konnte Nahles damit die Vorbehalte aus der Welt schaffen, die den Sozialdemokraten seit Schröders Reformpolitik noch immer das Leben schwer machen?
Die wichtigste Entscheidung ihres politischen Lebens
Sie hat getan, was sie konnte als Ministerin. Aber es genügt offenbar nicht: Glaubt man den schlechten Umfragewerten, dann bringt eine verlässliche sozialdemokratische Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik die Partei noch lange nicht wieder auf Augenhöhe mit der Union. Für Nahles muss das eine bittere Erkenntnis sein.
Fast dreißig Jahre lebt sie mit und für die SPD. Sie war Gründerin des ersten SPD-Ortsverbandes in ihrem Heimatort Weiler. Sie war Juso-Chefin, Bundestagsabgeordnete, stellvertretende Parteivorsitzende, Generalsekretärin. Sie hat zahllose Stunden in Gremiensitzungen zugebracht, hat gestritten um die großen Linien und die vielen kleinen Spiegelstriche, hat sich ein dichtes Netzwerk geschaffen, kennt alle und jeden in der Partei zwischen Flensburg und dem Bodensee.
Nun steuert diese SPD, die ihr Heimat und auch Familie ist, auf eine womöglich historische Niederlage zu. Und Nahles könnte bald vor der wichtigsten Entscheidung ihres politischen Lebens stehen.
Wie immer bei der SPD sind die Dinge kompliziert. Schon am Dienstag nach der Wahl, spätestens am Mittwoch, wählt die SPD-Bundestagsfraktion eine neue Spitze. Es geht um den wichtigsten Posten neben dem Parteivorsitz bei den Sozialdemokraten. Der Fraktionsvorsitz wird umso bedeutsamer, je weniger herausgehobene Positionen die SPD noch verteilen kann. Bei einem Wahlergebnis noch unter dem historischen Tief von 2009, als Frank-Walter Steinmeier 23 Prozent holte, dürfte es fast unmöglich werden, die SPD noch einmal als Juniorpartner in eine große Koalition zu führen.
Sie taugt nicht mehr als Feindbild. Nicht mal für Gerhard Schröder
Nahles weiß: Es gibt Momente, da genügen Disziplin und Zähigkeit nicht, da muss man ins Risiko gehen. Ihre Freunde sagen: Wenn Nahles in einer derart geschwächten SPD noch eine wichtige Rolle spielen will, dann muss sie nach dem Fraktionsvorsitz greifen. Auch auf die Gefahr hin, dass es schiefgeht.
Die Voraussetzungen sind eigentlich nicht schlecht. Schon lange verlangen die Frauen in der Fraktion einen Führungsposten, nun könnten sie einen bekommen. Auch die Unterstützung des linken Flügels ist Nahles traditionell sicher, die pragmatischen „Netzwerker“ schwärmen inzwischen regelrecht für sie. Und selbst die „Seeheimer“ vom rechten Parteiflügel lehnen die Ex-Juso-Chefin nicht mehr geschlossen ab. Nahles taugt nicht mehr als Feindbild – selbst für Gerhard Schröder nicht.
SPD-Parteitag Ende Juni in Dortmund, 13 Wochen vor der Wahl. Schröder spricht den Genossen Mut zu: Sie sollen verdammt noch mal kämpfen, so wie er früher, das ist die Botschaft. Es ist eine echte Schröder-Rede, leidenschaftlich, aber auch leicht spöttisch. Als er sich dann an Nahles, seine alte Widersacherin, wendet, horchen viele in der Halle auf.
„Andrea, ich muss dir sagen, mit dem Rentenkonzept seid ihr auf dem richtigen Dampfer“, lobt der Reformkanzler: „Aber ich hatte nicht immer erwartet, dass du das so toll machen würdest.“ Nahles muss lachen in diesem Moment, so wie viele andere in der Halle. In Wirklichkeit ist sie gerührt.
Und trotzdem kann es sein, dass Andrea Nahles kommende Woche nicht als Fraktionschefin in die neue Legislaturperiode startet, sondern als Arbeitsministerin nur noch auf das Ende ihrer Amtszeit wartet. An dieser Stelle kommt Martin Schulz ins Spiel. Der Kanzlerkandidat und SPD-Chef scheint fest entschlossen, den Fraktionsvorsitz für sich zu beanspruchen, wenn es das Wahlergebnis nur irgendwie erlaubt. Dahinter steht offenbar die Befürchtung, er könnte Autorität einbüßen, wenn er sich auf den Parteivorsitz beschränkt. Und geschwächte Politiker laufen immer Gefahr, auch ihre letzte Funktion zu verlieren.
Sich offen gegen Schulz stellen? Das würde sie gerne vermeiden
Für Nahles wie für Schulz geht es also um viel – und die Weichen könnten schon am Wahlsonntag im Willy-Brandt-Haus gestellt werden. Dann nämlich kommen in der Parteizentrale alle zusammen, die in der SPD etwas zu sagen haben: die Landesvorsitzenden, die Ministerpräsidenten, die engere Führung der Partei und der Fraktion, die Bundesminister. Sie haben dann nur noch ein Thema: Wie soll es weitergehen, und mit wem?
Sobald im fünften Stock der Parteizentrale am Wahltag die ersten Zahlen der Meinungsforscher eingehen, ist das Machtspiel eröffnet. Die Unterstützer von Nahles wissen: Sie müssen ihre Favoritin dann schnell als Fraktionschefin ins Gespräch bringen. Auch Schulz steht unter Zeitdruck. Für ihn gilt die Formel: Jeder Prozentpunkt, den seine Partei über Steinmeiers historischem Tief von 2009 liegt, erhöht seine Chancen, als SPD-Chef weiterzumachen, und stärkt seinen Anspruch auf das Fraktionsamt.
Nahles gegen den SPD-Vorsitzenden? Schon einmal gab es eine solche Konfrontation. Im Oktober 2005 widersetzte sich die damalige Wortführerin der Parteilinken dem Parteichef Franz Müntefering. In einer Kampfkandidatur setzte sich Nahles gegen dessen Kandidaten für das Amt des Generalsekretärs durch. Müntefering trat zurück, Nahles stand als Königsmörderin da – eine Entwicklung, die sie noch heute bedauert. „Das war nicht so gut, das würde ich heute nicht mehr machen“, sagt sie den Schülern bei der Preisverleihung, als sie gefragt wird, worauf sie am wenigsten stolz sei in ihrem politischen Leben.
Das klingt nicht so, als wolle sie nach dem Wahltag den offenen Machtkampf mit Schulz suchen. Andererseits: Wer die Ministerin in diesen Tagen beobachtet, erlebt eine konzentrierte, entschlossene Politikerin, die sich ihrer Machtfülle in der SPD bewusst zu sein scheint. Und die sich auf Augenhöhe mit der Kanzlerin sieht.
Ins Abibuch schrieb sie: Ich werde Hausfrau oder Kanzlerin
Anfang September, Generaldebatte im Parlament, es ist die letzte Sitzung der Legislaturperiode. Nahles ist als Arbeitsministerin der großen Koalition an der Reihe, aber sie sucht die Konfrontation mit Merkel. Die CDU-Chefin hat im Wahlkampf Vollbeschäftigung versprochen. „Ein schönes Ziel“, sagt Nahles, aber dann müsse man „auch den Mut haben, verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit anzupacken“. Stattdessen habe die Union das Programm für mehr öffentliche Beschäftigung und Teilhabe blockiert. „Sie und Herr Schäuble haben es wirklich geschafft, mich am langen Arm verhungern zu lassen“, ruft Nahles. Große Freude in der SPD-Fraktion. Nahles habe eine „Bewerbungsrede“ für die SPD-Führung gehalten, sagen Sozialdemokraten später. Die Kanzlerin auf der Regierungsbank quittiert die Attacke mit einem Kopfnicken, das sowohl Spott als auch Anerkennung bedeuten kann.
Eines Tages Kanzlerin zu werden – Nahles kokettiert seit Langem mit dieser Vorstellung. Schon in ihrer Abi-Zeitung schrieb sie, sie wolle „Hausfrau oder Bundeskanzlerin“ werden. Auch bei Nahles’ Auftritt vor den Schülern und den Bankern spielt das Thema Kanzlerschaft eine Rolle. „FAZ“-Herausgeber Holger Steltzner erinnert daran, dass bei der Preisverleihung im Jahr 2005 eine gewisse Angela Merkel die Lobrede auf die Sieger des Schülerwettbewerbs gehalten hatte, kurz darauf die Bundestagswahl gewann – und Kanzlerin wurde.
Danach sehe es bei Nahles eher nicht aus, stichelt der „FAZ“-Mann. Die kontert sofort. „Dann komme ich in vier Jahren vorsichtshalber noch mal wieder“, sagt Andrea Nahles.