Der Enthüllungs-Blogger Eliot Higgins im Porträt: An vorderster Front
Früher war Eliot Higgins ein arbeitsloser Pedant, der nach einem Hobby suchte. Dann wies er den Einsatz von syrischem Giftgas nach und die Lügen über den Absturz von MH 17. Heute ist der britische Blogger ein weltweit gefragter Experte. Selbst das FBI hat schon bei dem Familienvater angeklopft.
Am Ende spielt es keine Rolle, dass dieses Sandsteingebäude in Leicester, Mittelengland, oder überhaupt in der analogen Welt liegt. Dass am Kopf eines langen, schmalen Ganges ein monatlich kündbares Büro ohne Eigenschaften liegt. Darin sitzt Eliot Higgins, ein 35-jähriges Jungsgesicht, eine Vorliebe für V-Ausschnitte, wie eine unwahrscheinliche Materialisation aus dem Internet. Sein Leben hat sich in den letzten zwei Jahren rasend schnell gewandelt. „Das sagen mir alle, aber es fühlt sich gar nicht so an“, sagt er.
Im Netz sei ja alles zu finden, heißt es über die sozialen Medien. Alle diese Spuren, die jeder hinterlässt! Dieses digitale Echo der Welt. Es müsste nur einen geben, der die Informationen zusammenbringt! Das ist der Seufzer der analogen Welt angesichts der Flut der Informationen im Netz.
Nun, Higgins hat es getan.
Er wies in Syrien als Erster den Gebrauch verbotener Streubomben nach und im August 2013 einen Saringas-Angriff. Er zeichnete zusammen mit einem Reporter der „New York Times“ die Wege von kroatischen Waffen in die Hände syrischer Rebellen nach. Er fand per Geo-locating, indem er die Topografie von Hügeln verglich, den Ort, an dem der amerikanische Journalist James Foley enthauptet wurde. Und keine besser recherchierte Geschichte über den Abschuss der malaysischen Maschine MH 17 über der Ukraine kommt mehr ohne seine Erkenntnisse über die verdächtige Bewegung einer russischen Buk-Rakete aus.
Plötzlich stand er selbst an der Nachrichtenfront
Der Privatmann Higgins hat sich schlagartig an die vorderste Front katapultiert: die Kriegsfront sowieso, aber auch die Nachrichtenfront und die Front im Kampf um Glaubwürdigkeit zwischen Bloggern und Journalisten.
2012, da war er gerade arbeitslos geworden, setzte sich Eliot Higgins auf seine cremefarbene Couch, deren Makellosigkeit und vollkommene Fleckenlosigkeit in krassem Gegensatz zum Chaos des Krieges stand, zu dem er recherchierte. Er saß mit dem Laptop auf den Knien daheim, zu seinen Füßen spielte seine kleine Tochter, aber mit dem Kopf befand er sich im Syrienkrieg der Gegenwart.
Es begann mit den Umstürzen in Libyen, erinnert sich Higgins, „quasi eine Live-Stream-Revolution“. Zum ersten Mal gab es Derartiges zu sehen, bis Gaddafi tot war. Nur dass die traditionellen Medien das damals gar nicht zu bemerken schienen. „Als ob es nicht existierte!“ Higgins konnte es kaum fassen. Er hatte das Gefühl, er konnte sehr schnell sehr viel mehr herausfinden als professionelle Journalisten. Eine riesige Leerstelle tat sich auf. Und weil sein ohnehin unbedeutender Arbeitsplatz als Finanzsachbearbeiter bei einer Wohnungsverwaltung für Flüchtlinge gerade abgewickelt wurde, hatte er Zeit.
Er sah im Mai 2012 das Massaker von Houla bei Homs, starke Bilder, Live-Blogs, „besser als Fernsehen“, mehrere lokale Sender stellten die YouTube-Videos oppositioneller Gruppen online. Hunderte Filme. Higgins sammelte die Kanäle, die ihre Videos zeigten. Wer Informationen wollte, musste keine Zeitung kaufen, er konnte sich einfach zuschalten. Legal, man musste dafür nicht einmal etwas hacken.
Eliot Higgins verglich die Bilder von geborstener Munition, suchte ihre Kennung, folgte täglich den Videos, die kämpfende Truppen ins Netz stellten, scannte Blogs und Facebook-Einträge, verfolgte Waffenbewegungen und Truppenzüge online. Wenn Kämpfer Bilder ihrer Truppe posteten, zoomte sich Higgins an das Kriegsgerät im Hintergrund heran. Unter dem Pseudonym „Brown Moses“ schrieb er einen Blog mit seinen Beobachtungen.
Er wurde zu relevant um ignoriert zu werden
Seine Erkenntnisse waren zu zahlreich, zu relevant und vor allem zu stichhaltig, um nicht bemerkt zu werden: vom britischen „Guardian“. Von der „New York Times“. Und natürlich von Kriegsreportern, die vor Ort ihr Leben riskieren, um an Informationen wie diese zu kommen.
Higgins hielt Kontakt zu „The Vulture Club“, einer Facebook-Plattform von Journalisten, die im Mittleren Osten ihre Kontakte, Visa und Übersetzer organisierte. Menschen, die im Fernsehen als Experten interviewt wurden, hatten plötzlich seine Informationen. Er wurde auch von den Leuten im Land gelesen, kam in Kontakt mit Syrern, und als er zur Identifikation von Waffen deren Abmessungen brauchte, trugen seine „Kontakte“ ganz analog das zersprengte Überbleibsel einer Munition mit nach Hause.
„Ich habe gesagt, seid vorsichtig – sie sagten, wir behalten es draußen auf dem Balkon.“ Dann legten sie für den Blogger in Leicester ein Maßband an das Metall. Higgins kann kein Arabisch, er hat keine spezifische Ausbildung, hat weder Politik noch Journalismus studiert – aber er wurde in kürzester Zeit zum Waffenexperten. Auch deshalb, weil man Bilder ohne Sprachkenntnisse vergleichen kann. „Es gibt Leute, die sagen, es liege daran, dass mein Vater in der Royal Airforce war, aber das stimmt nicht.“ Das Interesse rühre auch nicht von „World of Warcraft“, dem Computer-Rollenspiel, das er lange obsessiv gespielt hat. Er habe damals einfach ein Hobby gebraucht.
Detailarbeit: Wie aus Einzelmeldungen eine Geschichte wird
Nachdem er 2013 in Syrien die Verwendung von Streubomben nachgewiesen hatte, wollten alle wissen, wer hinter dem Pseudonym „Brown Moses“ stand und wer sich hinter dem Bild eines schreienden Papstes von Francis Bacons verbarg, den Higgins als Online-Avatar für seinen Blog benutzt hatte. Es reichte offenbar nicht, dass der Pulitzer-Preisträger C. J. Chivers ihn pries. Dass er ein ernst zu nehmender Partner für Recherchen der „New York Times“ geworden war.
Er entschied sich, eine reale Person zu werden. Innerhalb einer Woche besuchten ihn vier Sender zu Hause, die alle das gleiche Bild in die Welt schickten: „Mr. Mom“, wie CNN ihn nannte, den arbeitslosen Couch-Surfer, der sich tagsüber um seine Tochter kümmert, während die Frau in einer Filiale der Post arbeitet. Über ihm ein riesiges, gerahmtes Hochzeitsbild.
Aber seine Frau hat er doch wohl nicht auch … ? „Doch. In einem Chatroom.“ Nuray kam aus Istanbul, wollte Englisch lernen. Ihretwegen hat er die Computerspiele sein gelassen. Wenig später konnte plötzlich eine Privatperson mit öffentlich zugänglichem Material geheimdienstlich und völkerrechtlich relevante Hinweise geben. Das Besondere war: Higgins hatte keinen Glückstreffer gelandet. Das Ergebnis entsprang einer Methode.
"Ich gebe zu, ich bin ein Pedant", sagt er
Higgins hat einen Hang zum Rechthaben, spricht schnell, auf dem Bildschirm flackern nun die Seiten auf: Syriatracker. Videokanäle. Waffenreste. „Ich gebe zu, ich bin ein Pedant.“ Es ist ihm vollkommen klar, dass seine Persönlichkeitsstruktur hier ihre ideale Verwendung gefunden hat. Als er wieder ein Jobangebot bekam, für das er das Bloggen hätte aufgeben müssen, protestierten seine Leser, weshalb Higgins stattdessen die Webseite namens Bellingcat gründete, „Citizen Investigative Journalism“, investigativer Journalismus von und für Bürger. Per Crowdfunding hatte er am 15. August mehr als 50 000 Pfund zusammen. Das sollte für die nächsten sechs Monate reichen. Auf Bellingcat posten mehrere ehrenamtliche, internationale Mitstreiter regelmäßig staubtrockene Einträge mit nachrichtendienstlicher Sprengkraft. Mit an Wissenschaft grenzender Transparenz nennen Higgins und seine Rechercheure jede Quelle und die Schlüsse, die sie daraus ziehen. Auf diese Weise ist jeder in der Lage, eines anderen Arbeit zu ergänzen.
„Früher war ich sehr ruhig und scheu“, sagt Higgins. Nun hatte er ein Glückskonzept gefunden für jemanden, der neugierig, pedantisch und schüchtern war. Er steigerte sich rein. Seine ganze Zeit ging für Recherchen drauf. Seine Frau fragte: Wann kriegst du endlich Geld für deine Arbeit?
Denn Arbeit war es. Ihr Mann war sich für kein Detail zu schade. Sind Gewinde an den Flugkörpern? Die deuten auf flüssige Befüllung. Anderswo setzt er den Verlauf einer Rauchfahne ins Verhältnis zu Windrichtung und Sonnenstand. Die Schattenwürfe benutzt er für Verortungen der Kamera, von der aus gefilmt wurde. Er kombiniert Einschlagsorte mit dem spezifischen Radius der verwendeten Flugkörper und schließt davon auf den Frontverlauf. Mit diesen Methoden erstellt er eine Karte des von den Rebellen erkämpften Gebietes in Syrien, die, so sagt Higgins, genauer gewesen sei als eine Karte des Weißen Hauses.
Zugleich entbrannte er für Crisis Net: eine Seite, die aus den Meldungen aus Krisengebieten, etwa zu Ebola, eine Karte generiert. Aus der Punktwolke der Einzelmeldungen sozialer Medien würde so im Idealfall ein kohärentes Gesamtbild entstehen, was natürlich auch für kriegerische Konflikte möglich ist.
Google lud ihn ein, das FBI fragte bei ihm an
Higgins wurde von einem Thinktank nach Washington eingeladen. Google Ideas lud ihn zu der Konferenz „Investigathon“ nach New York, weshalb er sein Lampenfieber besiegte und analog einen Vortrag hielt. „Die sind so freundlich, dass man schon nicht mehr weiß, ob es sarkastisch ist.“
Was eigentlich kein Wunder ist. Denn Higgins löst Googles größtes Problem: den Vorwurf, gierig und unnütz private Daten aufzuhäufen und zu speichern. Higgins, die Erlöserfigur, verwendet nämlich die geballten Informationen für das Gute und gibt der Sammelei endlich einen Sinn. Programme wie Google Panoramio, die zu Fotos einen Haufen Metadaten speichern, dienen ihm zur Aufklärung.
Im Sommer gab er beim britischen „Guardian“ ein Seminar für investigative Recherche. Mit Human Rights Watch hat er zusammengearbeitet. Das FBI, sagt Higgins, habe einmal zu Hause bei ihm an die Tür geklopft, weil sie Angst hatten, eine Anfrage per E-Mail könnte eventuell in die falschen Hände geraten. Es kam die Zeit, als der erfolgreiche Blogger nicht mehr „Mr. Mom“ sein wollte. Dieses gesichtslose Büro in Leicester ist deshalb als Zeichen von Professionalisierung zu verstehen. Higgins hat längst den schreienden Papst durch ein ernstes Foto von sich selbst ersetzt. Die ersten grauen Haare suggerieren Seriosität. Er verwarf sein Pseudonym Brown Moses, das ihm rassistische Beschimpfungen eingebracht hatte und doch nur ein Zitat aus einem Frank-Zappa-Song war, und nutzt seinen Klarnamen.
Anerkennung bekommt er reichlich, bezahlen will ihn niemand
Die Welt ist alles, was der Fall ist, sagte Wittgenstein. Higgins versteht nicht, warum Institutionen und Gerichte soziale Medien ignorieren. Freiwillig. Auch wenn sie es mit den besten Gründen und aus lauteren Motiven tun: Dass in Deutschland die Auswertung von Windschutzscheibenkameras als Gerichtsbeweis in Verkehrsdelikten verboten ist und die Recherche von Ämtern nach Ferienwohnungen im Netz, findet Higgins irre. „Es ist doch da!“
Und was da ist, ist Realität. Warum stellt jemand sich dümmer, als er sein könnte? Polizei, Unis, Medien, Gerichte, Regierungen – er sieht sie alle abgehängt. Mit Gesetzen verbieten sie sich selbst, mehr zu wissen.
Für Higgins ist die Verifizierung von Material aus dem Netz vor allem ein methodisches Problem, das er löst, indem er zum Beispiel für eine Aussage Bildbeweise aus mehreren Perspektiven sammelt. Es fiel ihm nicht schwer, nachzuweisen, dass Putins Verteidigungsministerium auf der Pressekonferenz nach dem Absturz der MH 17 über der Ukraine die Unwahrheit gesagt hatte: Ein Raketentransport, den sie an einer bestimmten Stelle verorteten, war ganz woanders gewesen. Das angebliche Beweisbild war retuschiert.
Man kann sich gut vorstellen, dass einige Leute über die Erkenntnisse des Bloggers nicht erfreut sind. „Das Internet ist voller Idioten“, sagt Higgins dazu nur. Aber bedroht fühlt er sich nicht. Auf seinem Twitter-Account sind jetzt Warnungen zu lesen, er solle auf sich aufpassen. Bislang gab es allerdings nur Cyberattacken, denen er mit einer Cyberverteidigung begegnen konnte. Einen Tag war ich offline wegen einer Attacke von Pro-Islamischer-Staat-Leuten. „Ich bin kein unbekannter Blogger mehr“, sagt Higgins. Er hat einen Kokon der Aufmerksamkeit um sich gesponnen. 30 000 Follower würden sein Verstummen bemerken. Sein Netzwerk aus Wissenschaftlern, Unternehmen, Nachrichtendiensten und Journalisten ist spezialisiert, aufmerksam und weltumspannend.
Der "Ein-Mann-Nachrichtenagentur" geht das Geld aus
Aber dem Mann, der sich selbst eine „Ein-Mann-Nachrichtenagentur“ nannte, geht schon wieder das Geld aus. „Ich bekomme jede Menge Anerkennung, aber keiner will mich bezahlen.“ Am liebsten wäre er Projektmanager für eine ganze Horde von Leuten, die nach seinen Methoden die Rätsel dieser Erde lösen, von der Terrorbekämpfung über Geldwäsche bis zur Korruption. Er würde seine ehrenamtlichen Rechercheure gerne bezahlen.
Die Verbreitung seiner Techniken hält er für die wichtigste Aufgabe – und zugleich das tragfähigste Konzept für sein weiteres Leben. „Ich suche nicht nach einem Job – ich suche nach Geld.“ Der lustlose Schüler und Student ohne Abschluss weiß jetzt, dass Bellingcat seine Identität ist. Zwar gilt er noch als merkwürdiger Einzelgänger, aber zugleich als Pionier, der den Journalismus revolutioniert. Quasi im Vorbeigehen rehabilitiert er die Glaubwürdigkeit eines ganzen Mediums.
Trotzdem bewirbt er sich gerade erfolglos um Stipendien. Sie sagen ihm dann, die Angebote gelten für Wissenschaftler, aber ein Wissenschaftler sei er ja nicht. Sie gelten für Journalisten, aber ein Journalist sei er auch nicht. Wer er eigentlich sei? Etwas Geld bekam er, um seinen Blog ins Arabische übersetzen zu lassen. Aber ansonsten ist Higgins ein Mann zwischen den Stühlen, der mit dem Geld aus Vorträgen und Workshops seine Familie über Wasser hält. Wie jeder Engländer zahlt er Raten für sein Haus, vor drei Monaten wurde das zweite Kind geboren.
Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.