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AfD-Chef Bernd Lucke
© dpa

Europawahl: Alternativen gibt es immer

Die CDU hat das schlechteste Ergebnis bei Europawahlen seit 1979 eingefahren, und der Sieger des Abends heißt AfD. Die neue Partei hat sich nun endgültig etabliert. „Jetzt kommen die anderen nicht mehr an uns vorbei“, sagt einer. Über den Abend in den Parteizentralen.

Bernd Lucke will nicht lange warten. Kaum ist die erste Fernsehprognose gelaufen, hüpft er auf die Bühne im Berliner Maritim-Hotel. „Brüssel, wir kommen!“, steht auf einem blauen Transparent, das an der Seite hängt. Erst mal aber kommen mehr als ein Dutzend Kinder auf die Bühne. Nicht nur die fünf des AfD-Chefs, sondern alle Kinder der nun siegreichen Europakandidaten. Lucke macht deren Auftritt zum Programm: „Das, was wir tun, das tun wir für unsere Kinder“, ruft er in sein Mikrofon. „Deshalb haben wir sie auf die Bühne gebracht.“ „A-f-D, A-f-D“ schallt es ihm aus dem Saal entgegen.

Bernd Lucke wirkte nicht siegestrunken

Lucke wirkt befreit, aber er spricht in einem gemäßigten Ton. Wie einer, der nach langer Arbeit endlich seine Ernte einfährt. Nicht wie einer, der siegestrunken ist. „Diese Arbeit mache ich in der Gewissheit, dass es uns unsere Kinder irgendwann danken werden“, sagt er. Doch einen kleinen Seitenhieb auf die politische Konkurrenz kann er sich nicht verkneifen: „Es ist Frühling in Deutschland. Manche Blumen blühen auf, andere verwelken“, ruft er. Alle im Saal wissen, wer damit gemeint ist. Schon zuvor hatten sie laut gejubelt, als zunächst die leichten Verluste der Union erkennbar wurden und später die Zahl 3 vor der FDP-Prognose stand.

Für die Partei selbst ist die 7 die magische Zahl. Als sie nach einer Stunde von einem Sender verkündet wird, stürmen die meisten vom Büffet zurück in den Saal. „Jetzt kommen die anderen nicht mehr an uns vorbei, die Parteien und die Medien“, sagt einer und hebt sein Bierglas in die Höhe. „Endlich, jetzt wissen alle, dass wir keine Nazis sind“, sagt ein anderer im dunkelgrünen Anzug.

Ein paar Kilometer entfernt, im Konrad-Adenauer-Haus, herrscht Ratlosigkeit. Intern wurde die neue Konkurrenz von rechts zwar durchaus registriert, als Angriff auf das bürgerliche Kernmilieu der Merkel-Partei. Aber die CDU-Spitze setzte im Wahlkampf darauf, die AfD durch Ignorieren möglichst klein zu halten. Selbst am Wahlabend will im Konrad-Adenauer-Haus keiner den Namen der Partei in den Mund nehmen, die der Union immerhin knapp eine halbe Million Wähler abgenommen hat. „Wir sind in Deutschland klar stärkste Kraft, trotz neuer Konkurrenz durch andere kleine Parteien“, sagt Spitzenkandidat David McAllister, als er gemeinsam mit Generalsekretär Peter Tauber auf die Bühne tritt.

Dabei ist es genau diese „andere kleine Partei“, die an dem Abend bei den CDU-Anhängern in der Parteizentrale zum ersten Mal so etwas wie eine emotionale Reaktion provoziert. Es ist kurz nach 18 Uhr, als AfD-Mann Lucke für seine Partei reklamiert, „die neue Volkspartei“ zu sein. Da geht ein Raunen durchs Atrium des Konrad-Adenauer-Hauses, und man weiß nicht genau, ob die „Oho“-Rufe belustigt oder beleidigt sind.

Wenige Minuten zuvor, als die ersten Prognosen auf den Bildschirmen zu sehen sind, herrscht komplette Stille. Die Union ist zwar stärkste Kraft in Deutschland geworden, hat aber ihr schlechtestes Europawahlergebnis seit 1979 erzielt. Nach Jubeln ist den CDU-Gästen nicht zumute. Die Sektgläser, die vorher verteilt worden sind, bleiben unberührt. Erst später am Abend kehrt wieder die Jubel-Routine für die Kameras ein. „Wir haben die Wahl ganz klar gewonnen, und damit hat Angela Merkel diese Wahl auch ganz klar gewonnen“, ruft McAllister den Anhängern im Konrad-Adenauer-Haus zu. Die beklatschen pflichtgemäß ihren Spitzenkandidaten, auch wenn vermutlich niemand so recht weiß, warum. Im Wahlkampf jedenfalls hatte die CDU vor allem auf die beliebte Kanzlerin gesetzt.

Seehofer versuchte nicht einmal mehr, das Desaster schön zu reden

Dass die Union bei der Europawahl nicht die überragenden 41,5 Prozent der vergangenen Bundestagswahl erzielen würde, war klar. Aber die Verluste sind am Ende doch deutlicher ausgefallen als befürchtet – vor allem wegen des Einbruchs der CSU in Bayern. CSU-Chef Horst Seehofer versuchte nicht einmal mehr, das Desaster schön zu reden. Das Wahlergebnis sei eine „herbe Enttäuschung“.

Die CSU hatte einen anderen Weg als die große Schwesterpartei gewählt, um mit dem neuen Gegner AfD zurechtzukommen. Seehofer hatte ausgerechnet den Euro-Kritiker Peter Gauweiler zum stellvertretenden Parteichef wählen lassen. Die CSU sollte damit auch für jene Wähler attraktiv bleiben, die den Euro-Kurs der Kanzlerin ablehnen. Doch offenbar durchschauten die Wähler das taktische Manöver mit dem Parteirebellen. Die CSU verlor so viel Stimmen, dass die AfD mit ihren rund sieben Prozent auf Bundesebene die Schwesterpartei der CDU überflügelte. Zudem hat Luckes Partei sich breiter aufgestellt und neben dem Eurothema den Einsatz für konservative gesellschaftliche Werte sowie den Kampf gegen angeblichen Sozialmissbrauch durch Zuwanderer nach vorne gestellt.

Das Prädikat "konservativ" gehört nicht mehr allein der CDU

Dass die CSU in Not geriet, muss auch Merkel alarmiert haben. Jedenfalls vollzog sie drei Tage vor der Wahl einen bemerkenswerten Schwenk. Gegenüber einer bayerischen Zeitung schlug sie Töne an, die von SPD und Grüne als rechtspopulistisch scharf kritisiert wurden. „Europa ist keine Sozialunion“, erklärte die Kanzlerin. Sie wolle „Hartz IV nicht für EU-Bürger zahlen, die sich allein zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten“. Doch auch das Schutzversprechen der Kanzlerin beeindruckte die AfD-Sympathisanten nicht mehr, die lieber gleich das Original wählten.

Das AfD-Ergebnis wird auf für Debatten in der Union sorgen

Vermutlich werden daher nicht nur in der CSU, sondern auch in der CDU Debatten beginnen, was bei dieser Wahl schief gelaufen ist. Das gute Abschneiden der AfD dürfte dazu führen, dass sich all jene CDU-Politiker wieder lautstark zu Wort melden, die schon lange unter dem Selbstbewusstsein und der Medienpräsenz der SPD leiden und von der eigenen Kanzlerin ein scharfes Profil der Union verlangen. Zumal die liberalen Wunschpartner mit rund drei Prozent so schlecht abgeschnitten haben, dass die Aussichten weiter schwinden, die FDP könnte es wieder in den nächsten Bundestag schaffen. Da hilft es auch nichts, dass Parteichef Christian Lindner versichert, es habe niemand mit einer schnellen Erholung gerechnet.

Im Willy-Brandt-Haus bricht Jubel aus, als die ARD in ihrer ersten Prognose um 18 Uhr die Verluste der Union verkündet. Den Erfolg der AfD begleiten die Sozialdemokraten dann mit lauten Buhrufen. Doch da sitzen die Mitglieder der engeren Parteiführung noch in ihrem Sitzungssaal im fünften Stock. So viel unverhohlene Schadenfreude wie die eigene Parteibasis würden sie angesichts des Dämpfers für Angela Merkels Union vor Fernsehkameras niemals zeigen.

Denn das strategische Ziel Sigmar Gabriels, die gemeinsame Arbeit in der großen Koalition zum Erfolg zu führen und damit langfristig das Vertrauen der Wähler in seine Partei zu stärken, tangiert das Ergebnis des Wahlabends kaum. Dafür braucht der Sozialdemokrat auch weiterhin ein gutes Verhältnis zu Angela Merkel. „Wir sind stolz auf das, was wir erreicht haben“, verkündet der Parteichef zwar eine halbe Stunde später von der Bühne herab: „Wir sind wieder da. Wir legen zu.“

Doch gleichzeitig heißt es aus dem Umfeld der Parteispitze, die SPD wolle im Regierungsbündnis mit der Union wegen ihres Zuwachses nun „nicht auf dicke Lippe machen“. In der Koalition eigene Akzente setzen – das bleibt Gabriels Programm, ohne dass er das Gefüge der Koalition durch lautes Auftrumpfen stören würde.

Endlich gibt es wieder was zum Feiern bei der SPD

Spitzenkandidat Martin Schulz wird im Willy-Brandt-Haus minutenlang mit „Martin-Martin-Martin“-Sprechgesängen gefeiert. Die lassen auch nicht nach, als Gabriel zur Eile mahnt: „So Leute, der Martin muss zum Flugzeug.“ Aber die wollen noch ein bisschen lärmen, wenn es denn endlich einmal wieder etwas zu Feiern gibt in der SPD-Zentrale.

Laut Gabriel ist das vor allem ein persönlicher Erfolg von Schulz. Und tatsächlich war seine Popularität ein wichtiger Faktor für den Zuwachs seiner Partei. „In 28 Staaten mehr als 200 Wahlkampftermine zum Teil vor Zehntausenden von Menschen zu machen, ich hab’ so was noch nicht erlebt“, lobt Gabriel.

An die Adresse der Kanzlerin mahnt der SPD-Chef, nur ein Spitzenkandidat, der auch zur Wahl gestanden hat, könne nächster EU-Kommissionspräsident werden. Dazu kommt es auf die Mehrheit an - zunächst auf die im Europäischen Parlament, aber auch auf die der Staats- und Regierungschefs. „Ich werde mich ab heute Abend auf diese Aufgabe konzentrieren, diese Mehrheit zu gewinnen“, kündigt Schulz an.

Die aber reklamiert auch die Union für ihren Kommissionschef-Kandidaten. „Jean-Claude Juncker ist auf gutem Weg, Kommissionspräsident zu werden", sagt McAllister fast zur gleichen Zeit im Konrad-Adenauer-Haus. So unversöhnlich die Positionen scheinen, so kompliziert das Werben um die Stimmen der neu gewählten EP-Abgeordneten auch werden dürfte: Dass das Ergebnis der Wahl des Kommissionschefs die große Koalition ernsthaft ins Schleudern bringt, ist derzeit eher unwahrscheinlich.

Lucke wird in Brüssel bald seine erste Bewährungsprobe zu bestehen haben

Im Maritim-Hotel steht Luckes Frau Dorothea zwischen ein paar Parteianhängern, während ihr Mann Interviews gibt. Dorothea Lucke ist Volkswirtin, sie arbeitet von zuhause aus. In den vergangenen Wochen hat sie immer wieder mal Journalisten durch das Eigenheim in Winsen an der Luhe geführt. Mit der Absicht, zu zeigen, dass die Partei nicht von einem Rechtsradikalen geführt werde. Sie habe sich nicht ausmalen können, welche Angriffe es auf ihren Mann geben werde, als dieser vor einem Jahr in die Politik gegangen sei, sagt sie: „Aber ich nehme die Dinge eben so, wie sie kommen.“

Die Familie sei bereit, nach Brüssel zu ziehen, wenn dies nötig sei. Die jüngste Tochter der Luckes ist 13 Jahre alt. In Brüssel wird ihr Mann schon bald seine erste Bewährungsprobe als Berufspolitiker zu bestehen haben. Er will zusammen mit den britischen Konservativen eine Fraktion bilden. Das wäre der Ritterschlag für die AfD. Und eine Schmach für die CDU. Angela Merkel soll in dieser Sache schon Gespräche mit dem britischen Premier David Cameron geführt haben, um das zu verhindern. Denn dann könnte sie das Prädikat „konservativ“ auch in Deutschland nicht mehr exklusiv in Anspruch nehmen.

Fabian Leber, Cordula Eubel, Hans Monath

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