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Schmuck. Der Marktplatz in Wurzen kann sich sehen lassen. In der Mitte, natürlich: ein Ringelnatzbrunnen.
© Stefan Berkholz

Wurzen: Zum Glück gab’s einen Dichter

Das sächsische Wurzen wirbt mit Ringelnatz – doch sein Geburtshaus steht seit Jahren leer. Warum die Kleinstadt trotzdem einen Besuch wert ist.

Irgendetwas stimmt nicht in Wurzen. Wurzen? Ja, Wurzen bei Leipzig. Selbsternannte Ringelnatz-Stadt. Überall blinkt einem das markante Antlitz entgegen, an der Autobahn bereits, Kilometer vorher schon, und als Logo auf sämtlichen Tourismusmaterialien; als Silhouette zwischen Blumenarrangements; als Medaille auf ungezählten Stelen im Städtchen; als Holzkopf auf einem Kinderspielplatz; als Brunnenfigur auf dem Marktplatz...

Es ist also bereits eine Menge Geld für Spielerchen verpulvert worden, doch der Kern des Ganzen modert vor sich hin: Das Geburtshaus Ringelnatz’ steht seit rund zwanzig Jahren leer. Es ist baufällig. „Die Wände sind feucht, das Dach undicht, die Fassade bröckelt“, heißt es in einem regionalen Zeitungsbericht vom August 2014.

Dabei hatte es so schön angefangen. Im November 1945 erhielt das Geburtshaus im Beisein der Schwester Ottilie eine Gedenktafel aus Holz. Die hängt heute noch dort, unversehrt, mit einem Verschen von Ringelnatz versehen, das zwar etwas frei und falsch zitiert ist, aber was macht das schon. Authentizität geht vor.

Dann kam die DDR und Ringelnatz war nicht so recht erwünscht. Und doch wurde das Haus seit 1983 im Erdgeschoss als Ringelnatzmuseum genutzt. Das ging bis 1992. Dann war Schluss im Geburtshaus, die Sammlung wurde ins Kulturgeschichtliche Museum verfrachtet. Seitdem ist es bei Bekundungen und leeren Worten für das Geburtshaus geblieben.

Seit der Wende wurde hier viel restauriert

Aber das niedliche Städtchen, eines der ältesten Sachsens, hat ja viel mehr zu bieten als Ringelnatz, wird dann gesagt. Stimmt. Zuallererst den 900jährigen Dom,in dem bereits 1542 evangelische Gottesdienste gefeiert wurden. Verblüfend ist die Innenausstattung, 1932 vom expressionistischen Bildhauer Georg Wrba vorgenommen. Gleich neben dem Dom befindet sich das Schloss (heute als Hotel genutzt). Noch längere Zeit nach der Reformation residierten hier katholische Bischöfe.

Ansehnlich sind auch die Stadtkirche aus dem 16. Jahrhundert, das Alte Rathaus am Marktplatz aus dem 19. Jahrhundert, „in schlichter Schönheit“, wie es heißt; ein kursächsisches Posttor von 1734. Durchaus schmuck wirkt also das Städtchen, in dem seit der Wende zahlreiche Häuser restauriert wurden. Es ist so etwas wie ein Vorort von Leipzig mit guter Anbindung an die Messestadt, es hat eine niedrige Arbeitslosigkeit und die Zeit als Nazihochburg ist wohl auch vorbei. Soweit scheint alles in bester Ordnung.

Und die Ringelnatz-Ausstellung im „Kulturhistorischen Museum“? Die bietet im „Ringelnatz-Kabinett“ eine kreuzbrave Chronik im Überblick, mit wenig Pep und einem Originalseesack. In den Vitrinen sind vor allem Kopien zu sehen, Fotos, Erstausgaben. Im Tourismusprospekt heißt es großspurig und fett gedruckt: „Das Museum beherbergt die deutschlandweit bedeutendste Ringelnatz-Dauerausstellung.“

Ringelnatz-Kabinett im Museum
Ringelnatz-Kabinett im Museum
© Stefan Berkholz

Auf den Spuren von Ringelnatz

Da ertönt vom hohen Norden ein Zwischenruf. Die Stadt Cuxhaven wirbt mit dem „einzigen Joachim-Ringelnatz-Museum Deutschlands“. Auch etwas vollmundig, gibt Erika Fischer, die Leiterin des Museums in Cuxhaven, zu. Und doch ist die dortige Schau sehr viel gediegener und umfangreicher als das, was in Wurzen zum Thema Ringelnatz geboten wird.

Warum Cuxhaven? Weil Ringelnatz dort einst, im Ersten Weltkrieg, als Mariner stationiert war und auf seinen Kriegseinsatz wartete. Zu verschiedenen Stationen hat die Stadt einen hübschen Prospekt „Auf den Spuren von Joachim Ringelnatz in Cuxhaven“ herausgegeben.

Wurzen hingegen bietet eine Ringelnatzgrundschule, eine Ringelnatz-Apotheke, einen Ringelnatz-Brunnen und eine Ringelnatzstraße selbstverständlich auch, etwas abseits gelegen zwar, aber verkehrsberuhigt. Man kann nicht alles im Zentrum haben. Alljährlich findet der „Ringelnatzlauf“ statt, über zehn oder auch nur fünf Kilometer, im kommenden August sogar schon zum 5. Mal. Wurzen überbietet sich förmlich an Einfällen, um den Namen Ringelnatz zu nennen.

Wurzen ist eher ein Nebenschauplatz

Eintritt verboten. Geburtshaus des Dichters
Eintritt verboten. Geburtshaus des Dichters
© Stefan Berkholz

Und Wurzen als Geburtsort? Wie hat sich Ringelnatz eigentlich darüber geäußert? Dazu muss man zur Literatur greifen. Im Gedicht „Dresden“ von 1927 erwähnt der Dichter seine Geburtsstadt in zwei Zeilen: „Übrigens: Wurzen liegt nicht weit daneben / Die Stadt, wo meine Mutter mich gebar.“ Und als er seine Geburtsstadt im Juli 1932 wiedersieht, trägt er in sein Tagebuch ein: „Wurzen!?!?! – ach du liebe Zeit! Mein Wurzen. Dann etwas Leipzig. Dann räusperte ich mich und fuhr nach Berlin.“

Joachim Ringelnatz, das heißt: Hans Gustav Bötticher, wie er ursprünglich hieß, lebte ganze viereinhalb Jahre in Wurzen, vom August 1883 bis zum März 1888. Im ersten Stock befand sich die Wohnung. Dann zogen die Eltern nach Leipzig. Dann zog es den Jungen auf hohe See und schließlich nach München (1909–1930), Berlin (seit 1930 bis zu seinem Tod im November 1934) und in die weite Welt.

Wurzen ist also eher ein Nebenschauplatz, in dem der berühmte Dichter als Kleinkind lebte. Und Ringelnatz, als berühmt gewordener Stegreifdichter und Kabarettist, erinnerte sich auch nicht so recht. Und wenn, dann nicht unbedingt wohlwollend. Immerhin schenkte er der Stadt zu Ostern 1932 eine Autogrammkarte. Die ist in der Ausstellung auch zu sehen.

Auch ohne den Dichter einen Abstecher wert

Vom Nachlass aber: nichts. Der Hauptteil verbrannte ohnehin im Krieg. Den privaten Nachlass besitzt der Sohn aus zweiter Ehe, Norbert Gescher, in Berlin. Und das Literaturarchiv in Marbach verwahrt weitere Teile des Originalmaterials.

Wurzen hat sich mit Leihgaben und ein paar Ankäufen zu begnügen, lässt das Geburtshaus aber seit Jahren verfallen. „Ringelnatz ist ohne Zweifel eine Marke“, bekannte der Sprecher der Standortinitiative Wurzen im September 2003 ganz unverblümt. Und Ulrich Heß hielt damals „eine Perspektive von zehn bis zwölf Jahren für realistisch, um die Sache einigermaßen rund zu machen“. Davon hat sich bisher nichts realisiert. Vor zwei Jahren wurde ein Konzept für das Geburtshaus erarbeitet. Fördermittel sind beantragt, doch die Stadt ist klamm. Es geht wieder nicht voran.

Gewiss, Wurzen hat mehr zu bieten als Ringelnatz. Doch warum macht die Stadt vor allem mit Ringelnatz Reklame? Warum lockt sie Besucher in erster Linie mit diesem Namen ins Städtchen? Schaut man genauer hin, dient Ringelnatz nur als Symbol, als Marke, als Werbemaßnahme. „Ringelnatz ist das, was uns von anderen Städten unterscheidet“, wurde vor rund zehn Jahren als Parole ausgegeben. Doch wegen Ringelnatz muss man in dieses Städtchen nicht kommen. Wer hindurchspaziert, erkennt: Es ist auch ohne den Dichter einen Abstecher wert.

Tipps für Wurzen

ANREISE

Mit Bahn oder Bus bis Leipzig. Vom Bahnhof Leipzig mit der S-Bahn in einer guten Stunde nach Wurzen.

ÜBERNACHTUNG
Schloss Wurzen, DZ ab 90 Euro mit Frühstück, EZ ab 62,50 Euro, Telefon: 0 34 25 / 85 35 90, Internet: schloss-wurzen.de

EINKEHR

La Grotta (mit Freisitz), Pizza und mehr, günstige Preise, Badergraben 2a

MUSEUM
Kulturhistorisches Museum mit Ringelnatz-Sammlung, Domgasse 2, dienstags bis freitags von 10 – 13 Uhr und von 14 – 18 Uhr, Wochenende 11 – 16 Uhr.

AUSKUNFT
Wurzen Info, Domgasse 2, Telefon: 034 25 / 92 60 00

Stefan Berkholz

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