Unterwegs auf dem Elberadweg: Wo man das Träumen lernen kann
Zwischen Lenzen und Dömitz verliebt man sich in stille Landschaften. Kaum Urlauber sind unterwegs auf dem Elberadweg. Dabei war die Flut hier gnädig.
Es gibt immer Gewinner und Verlierer. Gewinner der Elbeflut vom Juni sind zweifellos die Vögel. Ihnen hat das Hochwasser Fettlebe in den Auen beschert. Ein Storch piekt den Schnabel in die sumpfige Wiese, wirft dann sekundenschnell den Kopf zurück und lässt den fetten Happen im langen Hals runterrutschen. Vermutlich war es ein Frosch. Auch anderes Kleingetier in den Elbtalauen muss ums Leben fürchten. Zu viele Störche staksen umher, etliche Reiher warten reglos auf Beute, Krähen und Wildgänse tun sich gütlich auf den sattgrünen Wiesen. Bis knapp unter die Deichkante stand das Wasser hier im westlichsten Zipfel Brandenburgs und hat sie nahrhaft gedüngt.
Hoteliers und Gastwirte am Elberadweg haben dieser Tage viel Zeit, dem munteren Treiben auf den Wiesen zuzusehen. Denn: Gäste sind rar. Auch der gediegene „Alte Hof am Elbdeich“ in Unbesandten hat, anders als sonst um diese Jahreszeit, noch freie Zimmer. Oben am Radweg lockt ein lustiges Schild vergeblich zur Einkehr auf die einladend gemütliche Hofterrasse. Auf dem Deich strampelt kaum jemand vorbei.
„Viele Gäste haben ihren Urlaub aufgrund der Hochwassermeldungen abgesagt“, erzählt Annett Senst, die den „Alten Hof“ gemeinsam mit ihrem Mann Dirk Wolters vor drei Jahren gekauft hat. Dabei sei bei ihnen gar nichts passiert. Der Deichbruch bei Fischbeck in Sachsen-Anhalt und die entlastende Flutung der Havelpolder hatten die Situation entschärft. Trotzdem: Feriengäste und Kurzurlauber sind weggeblieben. „Wochenlang kam keine Buchung rein“, sagt Annett Senst. So kommt es, dass es im Ländereck Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen noch beschaulicher ist als sonst. Und man sich stündlich mehr verlieben kann in diese bilderbuchreife Region.
Der Landgasthof in Unbesandten ist der ideale Standort für Erkundungen. Im Nu ist das Rad auf den Deich geschoben und dann bleibt nur die Frage, links lang oder rechts lang? Wir entscheiden uns am ersten Tag für links und bleiben damit in der brandenburgischen Prignitz. 22 Kilometer sind es bis Lenzen. Schnell abgefahren ist das nicht. Denn immer wieder will man anhalten, absteigen und in Muße um sich schauen. Wundersam, mit Büschen, Bäumen und Flachwasser dekoriert, breitet sich die Auenlandschaft aus. Dahinter strömt die Elbe ruhig in ihrem Bett und tut so, als sei nichts gewesen in diesem Frühsommer. Selten kommen Radfahrer entgegen – und zumeist grüßen sie freundlich. Hier, so scheint’s, beginnt jeder Mensch innezuhalten und seinen Gedanken nachzuhängen.
Trinkpause am Ortsschild von Wootz, einem dieser typischen Mini-Weiler mit ein paar Bauernhäusern. Ein älterer Mann sitzt auf einer Bank. „Darf ich mich mal aufdrängen?“, fragt er. Aber bitte. Er zeigt mit dem Finger hinüber zum anderen Elbufer. „Da drüben liegt Gorleben“, sagt er. Und schiebt hinterher: „Dort war ich Polizist, aber auf der anderen Seite.“ Auf der anderen Seite? „Na, auf der Seite der Demonstranten“, erklärt er. Und dass er gesehen habe, wie die jungen Männer vom Bundesgrenzschutz auf die friedlich Demonstrierenden einprügelten. Schrecklich sei das gewesen. Er könne das bis heute nicht vergessen und entschuldigt sich, dass er das jetzt mal wieder „loswerden“ wollte.
Wenige Kilometer weiter, in Mödlitz, steht eine Backsteinkirche direkt hinterm Deich. Rundherum ein Friedhof mit liebevoll bepflanzten Gräbern und sorgfältig geharkten Wegen. Jeden Sonnabend um 14 Uhr kann man die Kirche besichtigen. Schade, dass heute Montag ist. Sonst könnten wir den Sarg von Gijsels van Lier betrachten, der im 16. Jahrhundert die Schäden des Dreißigjährigen Krieges zu beseitigen suchte und sich, selbst wohlhabend, auf die Seite der Bedürftigen schlug. Ein niederländischer Admiral fürs Volk, der im Testament seinen Begräbnisort im armen Mödlitz mit den Worten bestimmte: „Ick will bi miene Burckes slopen“ (Ich will bei meinen Bauern ruhen).
Wo verstecken sich alle?
Einige Strampelminuten später wartet „Charon“ am Wegesrand. Hu, was tut denn dieser eiserne, totenkopfgesichtige Gruselmann hier? 1994 wurde diese Skulptur des Künstlers Bernd Streiter aufgestellt. Charon, so erklärt ein Schild, ist ein mythischer Fährmann, der die Seelen der Verstorbenen ins Reich der Schatten bringt. Als schöner Kontrast weist ein „Haltepunkt Natur“ auf jahrhundertealtes Überleben hin. 150 Meter vom Deich entfernt, mitten in den Elbauen, steht sie: die Eiseiche. Ein dicker, knorriger Baum mit Dutzenden Verästelungen. Im Juni muss er tief im Wasser gestanden haben, die Ränder am Stamm reichen bis knapp unter die tiefgrüne Blätterkrone. Wie viele Hochwasser hat diese Eiche wohl schon erlebt? Und keine Flut konnte ihr etwas anhaben.
Kurz vor Lenzen steht ein ehemaliger Wachturm mitten auf dem Deich. Über eine Wendeltreppe gelangt man ins enge Kabuff der Grenzsoldaten – mit Aussicht über die Flusslandschaft. Bis zur Einrichtung der Sperrzone 1952 gab es an dieser Stelle die Gaststätte „Elbschlösschen“. Wer jetzt einkehren möchte, kann die Fähre hinüber ins niedersächsische Pevestorf nehmen – oder, wie wir, nach Lenzen radeln. 1900 Einwohner hat der Ort, aber wo verstecken die sich? Fachwerkhaus steht neben Fachwerkhaus, manche von ihnen warten noch auf ihre Restaurierung, andere sind schon prima in Schuss. Zahlreiche Läden stehen leer. Über einem prangt in schwarzen Lettern der Name „Georg Schadow“. Was wurde hier mal verkauft? An der Ecke befindet sich eine Apotheke, aus dem 16. Jahrhundert. Auch sie wartet noch auf Wiederbelebung.
Etwas ratlos schieben wir die Räder durch den Ort. Im Geschäft einer Asiatin könnten wir Hüte, Mützen und allerlei Tand erwerben. Und sonst? Im sorgsam sanierten „Stumpfen Turm“, einst Teil der Stadtmauer, ist die Touristeninformation. Sie hält einen „Stummen Stadtführer“ bereit, eine Broschüre, die Lenzen „in zwanzig Stationen“ erklärt. Da ist etwa die St. Katharinenkirche mit ihrer wertvollen Orgel, das sorgsam restaurierte Rathaus mit der kuriosen Ein-Zeiger-Uhr und natürlich die Burg. Ein Schmuckstück. Im Inneren befindet sich das Heimatmuseum und informiert über die Schlacht von Lenzen, beeindruckend dargestellt in einem Zinnfiguren-Diorama.
Immer wieder war Lenzen von Hochwasser bedroht. In der Ausstellung des Naturschutzbundes Deutschland (Nabu) prangt ein Zitat von Bertolt Brecht: „Der Fluss wird gewalttätig genannt, aber das Flussbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig.“ Aus dem Elbehochwasser 2002 haben Umweltexperten dann die Lehren gezogen. Das Naturschutzgroßprojekt „Lenzener Elbtalaue“ wurde nach und nach umgesetzt. Auf einem Abschnitt von gut sieben Kilometern wurde der Deich ins Hinterland verlegt und so eine Überflutungsfläche von 420 Hektar gewonnen. Der alte Deich blieb stehen, wurde aber an sechs Stellen geschlitzt. 2009 war alles fertig – und auch deshalb ist die Stadt Lenzen im Frühsommer dieses Jahres trocken geblieben.
Torsten Jacob, Leiter des Stadtbetriebs Lenzen, schwärmt von den Elbtalauen. Auf 220 Quadratkilometern leben rund 4800 Menschen, „ein Verhältnis wie in Finnland“, weiß er. Und weil es ein Biosphärenreservat sei, stehe kein einziges Windrad herum. Nur Lenzen profitiert augenscheinlich wenig von seiner traumhaften Umgebung. Zu lange lag die Stadt im Sperrgebiet, die wenigen verbliebenen Bewohner kamen nur mit amtlichen Stempeln rein und raus. Selten ziehen neue Einwohner her. „Wer“, fragt Jacob, „will hier ein Haus restaurieren, wenn er es später nicht vermieten kann?“ Und wenn ein potenzieller Investor höre, dass es 70 Kilometer sind bis zur nächsten Autobahn, winke der gleich ab. Die für Besucher herrliche Abgeschiedenheit ist für Lenzen ein Problem. Die Gesamtschule am Ort wurde 2004 geschlossen. „Die wenigen Kinder, die es hier noch gibt, stehen morgens um sechs Uhr an der Bushaltestelle", sagt Jacob. Einfach traurig sei das.
Wer will hier auch fort
Und der Tourismus? Jacob winkt ab. Die Fahrradtouristen ließen kaum Geld da, sagt er. Aber wo sollten sie es ausgeben, wenn es keine Läden gibt und außer der Burg kaum Einkehrmöglichkeiten? Vielleicht küsst Lenzen mal jemand wach, mit Ideen und nun ja, mit etwas Geld. So wie in Dömitz im angrenzenden Mecklenburg, wo sie, wie der Lenzener Bürgermeister bemerkte, „einen Investor haben“.
Dorthin radeln wir am nächsten Tag. Also von unserem Quartier rechts am Deich entlang. Am Hafen mit den schön restaurierten Backsteingebäuden gibt es ein Hotel mit Panoramacafé. Etliche Besucher kommen an diesem Nachmittag herauf, trotzdem sind viele Tische frei. „Die Folgen der Flut“, sagt der Kellner betrübt. „Wir haben 30 bis 40 Prozent weniger Gäste.“ Trotzdem wirkt der Ort, kaum größer als Lenzen, quicklebendig. Geschäfte sind geöffnet, darunter das ehemalige Kaufhaus am Slüterplatz mit kuriosem Angebot. Antikes und Krempliges gibt es, Ölbilder, Kleider, Spielzeug und Bücher. Vielanker Bier wird ausgeschenkt – hinter dem Brauhaus steckt der Investor – , und Auerochsenbratwurst kostet 2,50 Euro.
Marina Möller leitet die Touristeninformation. Die 62-Jährige ist die Seele der Auskunftsstelle und ganz vernarrt in ihren nach der Wende erblühten Ort. „Im Dömitzer Panoramacafé verkaufen sie 1,4 Tonnen Kaffee im Jahr, Tendenz steigend“, sagt sie stolz. Und den Touristen würde im Ort viel geboten. Zuallererst natürlich die Festung, in der einst Fritz Reuter einsaß, dazu das gesamte Stadtbild, „noch wie im 16. Jahrhundert“.
„Wenn Sie in Dömitz hinter die Kulissen schauen, sieht es dort auch nicht anders aus als bei uns“, hatte der Lenzener Bürgermeister etwas beleidigt gesagt. Auch in Dömitz existieren noch marode Häuser, manches steht leer. Marina Möller lächelt milde. „Wir hatten 370 Rückübertragungen im Ort, häufig an Erbengemeinschaften, die sich bis heute nicht einigen konnten“, erklärt sie. Trotzdem sei Dömitz verhältnismäßig gut dran. Neun verschiedene Radtouren könne man vom Ort aus starten. Und mit der Fähre hinüberfahren nach Hitzacker. „Anfangs witterten die Niedersachsen durch uns unliebsame Konkurrenz“, sagt Marina Möller. Doch längst zöge man an einem Strang. „Wir schicken uns die Gäste gegenseitig“, sagt sie und lächelt zufrieden. Auch die Lenzener aber haben doch eine Fähre und ein niedersächsisches Gegenüber. „Ja“, sagt Marina Möller, „die haben Dannenberg.“ Aber dort seien die Menschen eben auch „etwas eigen“. Unterscheiden sich Brandenburger eigentlich von Mecklenburgern? „Die Brandenburger halten uns für verträumter und sich selbst für leistungsfähiger“, sagt Marina Möller. Sie trügen die Nase ein wenig hoch. „Tja“, fügt die Mecklenburgerin verschmitzt hinzu – und überlässt die Besucherin ihren Gedanken.
Zurück im „Alten Hof am Elbdeich“ bestellen wir das Abendessen. Schnittlauchkartoffelsüppchen und Filet vom Schlei in Orangenmeersalzsud an geraspeltem Fenchel. Köstlich. Chefin Senst ist gelernte Köchin. Ein Paar aus Dortmund befestigt die Räder am Auto. „Wir müssen leider zurück“, sagt der Mann, „aber im nächsten Frühjahr kommen wir sicher wieder her.“ Wie die Störche, die bald gut genährt zu ihrem Fernflug starten.
Ist es nicht traurig, wenn sie fort sind? „Ach wo“, sagt Annett Senst. „Bald kommen ja die Kraniche. Und wenn Sie im Winter am Deich entlanggehen, hören Sie die Singschwäne.“ Die Natur im Wandel der Jahreszeiten eben. Am Himmel fliegen Wildgänse in Formation. „Viele von denen bleiben ganzjährig bei uns“, sagt Annett Senst. Wer will hier auch fort, denken wir. Und möchten ewig bleiben.