Québec: "Wir sprechen Französisch und essen Roastbeef"
Zum 400. Jubiläum präsentiert sich Québec als Bindeglied zwischen den Kontinenten – und feiert seine kulturelle Vielfalt.
Laute Schreie hallen über den Platz. „Land! Land! Endlich Land!“ Der kräftige Mann mit Ziegenbart, Filzuniform und Dreispitz auf dem Kopf springt von seinem schaukelnden Boot auf festen Boden. Außer sich vor Freude hüpft er auf dem Pflaster hin und her, fällt schließlich vor dem Standbild seines Königs auf die Knie. Die Zuschauer auf dem kleinen Platz unweit des Flusses jubeln.
So ähnlich mag es sich abgespielt haben, am 3. Juli 1608. Damals landete der Entdecker Samuel de Champlain hier an der Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms, nur wenige Tagesreisen von der nordamerikanischen Ostküste landeinwärts. Im Auftrag des französischen Königs ließ er eine Siedlung errichten, die er nach dem Wort der Algonquin-Indianer für diese Flussenge „Québec“ nannte.
400 Jahre später spielt eine Straßentheatergruppe den historischen Moment in der Altstadt von Québec City am Place Royale nach. Das bunte Programm, mit akrobatischen Einlagen und Clownereien ironisch gebrochen, ist Teil eines Kulturspektakels, das noch bis in den Oktober hinein die Gassen und Plätze innerhalb und außerhalb der massiven Stadtmauern mit Leben füllt.
Die ersten Festungen der Pioniere sind heute nur noch Ruinen, Fundamente und Steinhaufen, auf denen heute das schlossartige Hotel Château Frontenac steht, umgeben von Kirchen, Steinhäusern aus vier Jahrhunderten und der alten Stadtmauer, die dem zum Unesco-Weltkulturerbe zählenden Ort einen für nordamerikanische Verhältnisse einzigartig geschlossenen und fast mittelalterlich anmutenden Rahmen gibt.
Was Abend für Abend unterhalb dieser Kulisse am Hafen stattfindet, ist jedoch alles andere als ein rückwärtsgewandtes Historienspiel. Sobald die Sonne verschwunden ist, dröhnen Maschinengeräusche über das Wasser, der Boden vibriert, gigantische Videoinstallationen und Maschinen erwecken die alten Kornspeicher gegenüber der Hafenpromenade zum Leben. Es folgt ein vierzigminütiger Parforceritt durch die Menschheitsgeschichte und die Entwicklung Québecs, geschaffen vom Regisseur Robert Lepage, hier geboren und einer der bekanntesten Künstler seines Landes. 600 Meter breit und 30 Meter hoch ist die aus Kornspeichern bestehende Leinwand, auf die er seine Multimedia- Collage projiziert, malerisch reflektiert im alten Hafenbecken, hin und wieder von einem vorbeiziehenden Boot unterbrochen.
Einen anderen Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Gegenwart unternehmen die Museen der Provinzhauptstadt, die mit einem guten Dutzend Sonderausstellungen das Jubiläum feiern. Herausragend ist ein Pariser Gastspiel, wie es Europäer in der alten Heimat selbst nie zu Gesicht bekommen: Der Louvre hat dem Québecer Nationalmuseum 271 Skulpturen, Gemälde und Kunsthandwerksschätze aus seinen Archiven geliehen, um die andauernde Verbindung mit Frankreich zu demonstrieren. Eine dezentere Demonstration fürwahr, als sie Charles de Gaulle lieferte, der 1967 bei einem Staatsbesuch in Kanada vor dem Rathaus von Montreal rief: „Vive le Québec libre! Vive le Canada francais!“ Das führte zur Verstimmung in der kanadischen Regierung und der damalige Ministerpräsident Lester B. Pearsen ließ den französischen Staatspräsident wissen, weder ein Kanadier noch ein Quebecer bedürfe der Befreiung.
Kombiniert mit Besuchen in den anderen Museen der Stadt, kann man die bemerkenswerten Ungleichzeitigkeiten bestaunen, die die Entwicklung Europas und Nordamerikas in jenen 400 Jahren seit der Ankunft Samuel de Champlains prägten. Die Porträts von Frans Hals zum Beispiel, Anfang des 17. Jahrhunderts entstanden, reflektieren die Lebenslust des holländischen Bürgertums und zelebrieren die Schönheit reiner Kunst zu einer Zeit, als Samuel de Champlain und seine Männer nur mit Not die gnadenlosen kanadischen Winter überlebten, sich pragmatisch mit örtlichen Indianerstämmen verbündeten und deren Schlachten mitkämpften, sich verzweifelt gegen wiederkehrende britische Attacken wehrten und trotz harscher Lebensbedingungen die ersten europäischen Expeditionen bis tief hinein in jenes wilde Land unternahmen, das später zu Kanada und den Vereinigten Staaten von Amerika wurde.
In dem Park, in dem das Québecer Nationalmuseum heute mit seinen Schätzen aus dem Louvre Besuchermassen anlockt, wurden einige der blutigsten Schlachten jener für Nordamerika so entscheidenden Jahre geschlagen. Hier, zwischen dem Kunstmuseum und den im europäischen Mittelalterstil gebauten Stadtmauern, liegt die sogenannte Abraham-Ebene, ein grüner Park, in dem sich heute Familien zum Picknick treffen und Jugendliche mit Lagerfeuern und Bierkisten das Wochenende feiern. 1759 wurden an dieser Stelle die französischen Herrscher über Stadt und Region von den Briten vernichtend geschlagen, wovon das Museum am Park anschauliche Schilderungen bietet.
Dass es neben Briten und Franzosen auch viele andere Kulturen sind, die das heutige Québec mitgeschaffen haben, reflektiert spielerisch eine interaktive Ausstellung in einem neuen Pavillon, der als Hauptquartier der 400-Jahrfeier an der Hafenpromenade errichtet wurde. Die Installation „Passengers“ nimmt den Besucher mit auf eine virtuelle Flugreise, bei der man Dutzende von Québecern persönlich kennenlernt und per Video ihren Familiengeschichten zuhören kann. Man trifft auf Frankokanadier und Engländer, aber auch Nachfahren der indianischen Ureinwohner, der ersten chinesischen Arbeitsmigranten sowie Neu-Québecer aus Haiti und anderen Teilen der Welt.
Wer durch die Straßen Québecs schlendert, sieht an fast jedem der gut erhaltenen und oft aufwändig restaurierten Gebäude Spuren dieser wechselvollen Geschichte. So wie die Stadtmauer und die bis heute vom Militär genutzten Festungsanlagen der Zitadelle wurden auch etliche Wohnhäuser in ihrer ursprünglichen Form im 17. oder 18. Jahrhundert von Franzosen erbaut. Dann drückten die britischen Herrscher ab 1759 der Stadt und den Bewohnern ihren Stempel auf, bevor Québec ab 1867 durch die Gründung Kanadas und die offizielle Anerkennung als Provinz wieder mehr Selbstständigkeit bekam und französische Lebensart erneut auch offiziell die Oberhand gewann. „Wir sprechen Französisch und essen Roastbeef, wir trinken Milchkaffee am Morgen und Tee am Nachmittag“, fasst die junge Québecerin Roxanne St. Pier die Auswirkungen der Geschichte zusammen.
Auch wenn die meisten der rund 500 000 Stadtbewohner Québecs zweisprachig aufwachsen und Besuchern gegenüber in der Regel gerne auch Englisch sprechen, überwiegen die französischen Spuren im Alltag der Stadt deutlich. Die meisten Restaurants servieren anspruchsvolle, französisch inspirierte Küche, zum Mittagessen gehört auch an Wochentagen Wein, in der Markthalle am Hafen und in den Feinkostläden gibt es eine exquisite Auswahl an Käse, man begrüßt sich – im Gegensatz zu den reservierten Anglokanadiern – mit Küsschen auf die Wange. Und hin und wieder schaukelt durch die Stadttore ein Auto, wie man es in Nordamerika so gut wie nie sieht: ein Citroen 2 CV, eine „Ente“.
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