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Am Wasser gebaut. Was im „Kranhaus“ auf den Tisch kommt, schmeckt vorzüglich.
© dpa/p-a

Brandenburg: Visionäre am Strom

Früher radelten viele an Wittenberge einfach vorbei. Nun mausert sich die Elbestadt – mit originellen Quartieren und Lokalen.

Was für ein Schock! Da kommt man aus Rühstädt, dem schnuckeligen europäischen Storchendorf, wo 44 Nester auf Backsteinhäuschen sitzen und der Blick in blühende Bauerngärten schweift, und dann das: halb zerfallene Gebäude, eingeschlagene Fensterscheiben, rings um den Singer-Uhrenturm, Relikt der einst florierenden, längst abgewickelten Nähmaschinenwerke. Eine Brache, die Zartbesaitete geradewegs in die Depression befördern kann. Nur wenige Kilometer trennen Rühstädt von Wittenberge, aber der Kontrast könnte größer kaum sein. Mit „arm und alles andere als sexy“ lässt sich der erste Eindruck von der Elbestadt zusammenfassen. Von den einst etwa 32 000 Einwohnern ist fast die Hälfte weggezogen.

Doch gibt es Menschen, die das nicht schreckt. Die darin vielmehr eine spannende Herausforderung sehen. Oliver Hermann zum Beispiel, der Bürgermeister von Wittenberge. Er sieht durchaus eine Zukunft für seine Stadt. Die soll in Kultur und Tourismus liegen. „Wir versuchen jetzt, die Stadt zur Elbe hin zu entwickeln“, meint Hermann. „Bislang hat sich Wittenberge immer vom Fluss weg orientiert, die Elbe wurde nur als Transportweg wahrgenommen.“ Nun gelte es, das touristische Potenzial zu nutzen. Rad- und Kanufahren kann man hier, das Biosphärenreservat Elbtalaue liegt vor der Tür, demnächst soll eine Uferpromenade entstehen.

Was dort schon lange steht, ist das „Kranhaus“, einer der gastronomischen Leuchttürme der Prignitz. Es ist das älteste Speicherhaus am Platz und sollte nach der Wende abgerissen werden. Dann versuchten sich mehrere Betreiber an dem Kleinod, bis Küchenchef Knut Diete antrat. Er ließ sich von der zweifelhaften Aura Wittenberges nicht beirren und kochte sich beharrlich in die obere Liga der Brandenburger Küchenchefs. Dabei schwingt er nicht nur gekonnt den Kochlöffel, er ist auch ein Kommunikationsgenie.

Ehrwürdig, die Ölmühle, anno 1856.
Ehrwürdig, die Ölmühle, anno 1856.
© picture alliance

„Da hier ja immer Gardasee-Stimmung herrscht, serviere ich Ihnen erst mal einen Prosecco“, empfängt er mit verschmitztem Lächeln seine Kundschaft. Und betätigt sich sogleich als eine Art Gästeflüsterer, der einem die kulinarischen Wünsche von der Zunge abliest. „Na, wonach steht uns denn heute der Sinn? Sind wir vielleicht ein bisschen verspielt? Wie wäre es mit Zander, der mit Birnen und Gorgonzola gratiniert wird? Oder hätten Sie den Fisch lieber mit Pfifferlingen und geräucherter Gänsebrust?“

Längst hat sich bis nach Hamburg herumgesprochen, dass man im Kranhaus gut essen kann. „Für viele ist es sogar ein Reiseanlass“, weiß Uwe Neumann, Tourismuschef der Prignitz. Ein weiterer Reiseanlass ist die Alte Ölmühle, die ein Stück weiter am Ufer steht. Ein riesiger, denkmalgeschützter Komplex aus rotem Backstein. Zum Teil ist er noch zerfallen und in beklagenswertem Zustand, andere Teile sind vorbildlich saniert – und haben sich binnen kurzer Zeit zum Besuchermagneten entwickelt.

Herbes Pils und vollmundiges Spezial, dazu deftige Gerichte

„Schaukelschiff“. Christian Uhligs Kunst in Wittenberge.
„Schaukelschiff“. Christian Uhligs Kunst in Wittenberge.
© picture alliance

Das Gebäudeensemble geht auf einen weiteren Visionär zurück, von dem die Stadt in ihrer Geschichte offenbar immer wieder welche hat: den Berliner Kaufmann Salomon Herz, der 1823 das Grundstück am Elbufer erwarb und dort eine Ölmühle errichtete. Lein, Raps und anderes Mahlgut wurde hier zu Petroleum, Schmier- und Speiseöl verarbeitet und über die Elbe bis nach Rumänien, Russland und Indien verschifft.

Als Großaktionär der Berlin-Hamburger und der Magdeburg-Halberstädter Eisenbahngesellschaft sorgte Herz auch dafür, dass eine Bahnlinie von Magdeburg nach Wittenberge führte. Als 1856 ein Großfeuer die Fabrik zerstörte, wurde sie moderner wieder aufgebaut. Mithilfe der Herz’schen Stiftungen entstanden zudem kostenlose Unterkünfte für betagte Arbeiter sowie ein städtisches Waisenhaus. Bis ins 20. Jahrhundert hinein florierte der Betrieb.

„Lange Zeit war sie die größte Ölmühle Europas“, erklärt Lutz Lange, der sich vor einigen Jahren mit seiner Genesis GmbH des Areals angenommen hat. Erst nachdem während des Zweiten Weltkriegs Engpässe bei der Rohstoffversorgung die inzwischen als „Märkische Ölwerke AG“ firmierende Fabrik in wirtschaftliche Schwierigkeiten brachte, stellte sie 1945 den Betrieb ein. 1949 wurde die Produktion des VEB Märkische Ölwerke Wittenberge wieder aufgenommen und bis 1991 weitergeführt. Danach wurden die Produktionsstätten abgerissen, die übrigen imposanten Backsteingebäude unter Denkmalschutz gestellt.

Einen Komplex von diesen Ausmaßen zu übernehmen und wirtschaftlich zu betreiben, erfordert viel Mut, Geschick und – ja, wiederum eine Vision. Die hat Lutz Lange allem Anschein nach. Erst eröffnete er 2009 in einem der Speichergebäude eine Schaubrauerei, wo in glänzenden Kupferkesseln das sogenannte Herzbräu – herbes Pils, vollmundiges Spezial und ein Dunkles – entsteht. Dazu werden passende deftige Gerichte gereicht, zum Beispiel: Biergulasch vom Schwein mit Rosenkohl und Kartoffelklößen oder Haxe mit Bayrischkraut, Kartoffelknödeln und mittelscharfem Senf. Dann wurde aus dem Uferturm, an dem früher die Schiffe entladen wurden, eine Strandbar mit Café, wo im Sommer Liegestühle, Strandkörbe und ein Beachvolleyballfeld aufgebaut werden.

Schließlich nahm 2011 das Hotel in der ehemaligen Fabrikantenvilla den Betrieb auf. Wohnliche Zimmer mit historischem Flair, Vier-Sterne-Komfort und Elbblick – diese Mischung funktioniert, auch wenn die Umgebung noch nicht herausgeputzt ist. Oder vielleicht gerade deshalb? „Wir sind selber überrascht, wie groß der Zuspruch ist“, meint Lange. „Vor allem hatten wir nicht damit gerechnet, dass einige Gäste auch relativ lange bleiben.“

Die einen machen von den Leihrädern Gebrauch und radeln mal nach Lenzen, mal nach Rühstädt oder in Richtung Havelberg, die anderen steigen ins Kanu. Und im Sommer kommen natürlich unzählige Besucher zu den Elblandfestspielen, die die Alte Ölmühle als Kulisse haben.

Neueste Errungenschaft ist der Hochseilkletterpark, den Lange in einem der denkmalgeschützten Türme eingerichtet hat. Im gegenüberliegenden Pendant entsteht derweil eine Tauchhalle. Bei dem Mann kommt eben immer wieder der Sport durch, der lange sein Hauptbetätigungsfeld war. Und vielleicht ist es nicht verkehrt, wenn jemand, der so etwas in Angriff nimmt, weiß, was es heißt, einen langen Atem zu haben.

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