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Überwiegend in Handarbeit gefertigt. Die „Gecko Eyes“ – 20 Meter lang und vier Meter breit – bietet viel Privatsphäre für die Flussreisenden.
© Gerald Penzl

Unterwegs im Mekongdelta: Und immer dampft die Nudelsuppe

Das Mekongdelta dehnt sich aus über 40 000 Quadratkilometer. Mit der „Gecko Eyes“ lässt es sich befahren – und vietnamesischen Alltag erleben.

Chang strahlt. Stolz wie Oskar sitzt er hinter dem Steuer und lenkt seinen Kleinbus über die Can Tho Bridge. „Ein technisches Wunderwerk“, sagt er strahlend, „vor vier Jahren eröffnet, über zweieinhalb Kilometer lang und wohl die spektakulärste Brücke in Vietnam.“ Ein Schwenk auf die rechte Fahrbahnseite eröffnet uns freien Blick auf den Hâu River. Er ist einer von neun riesigen Mekongarmen, die mit ihren unzähligen Kanälchen und Verästelungen die horizontlosen Reisfelder des Deltas wie ein Spinnennetz zerfasern. Tief unter uns pflügen Dschunken und alte Frachter durch die schlammbraunen Wogen. In guter Tradition zu den Ahnen haben die Crews den Schiffen zwei Drachenaugen auf den Bug gemalt. Sie fungieren als eine Art Schutzgeist, die mit ihrem Blick alle bösen Flussungeheuer vertreiben.

Am Hotel Ninh Kieu stoppt Chang. „Hier sind wir“, sagt er und deutet auf ein rund 20 Meter langes, in monatelanger Handarbeit aus dunklem Tropenholz gefertigtes Schiff. „Das ist die ,Gecko Eyes‘. Sozusagen eure navigable Eintrittskarte in die Irrgärten des Deltas.“ Derweil fleißige Hände unser Gepäck in der Kajüte verstauen, serviert man uns aus der Küche duftende, mit exotischem Gemüse und dünnen Fischfiletscheiben frisch zubereitete Nudelsuppe. Nach diesem ersten Kontakt mit den kulinarischen Genüssen der Region nimmt Kapitän Chieu Kurs auf den Hâu River.

Bei Cai Von biegt er in einen schmalen Seitenkanal und wirft vor einem windschiefen Brückchen Anker. Gemeinsam mit der Crew montiert er das Steuerhäuschen ab. Ich sitze auf dem Sonnendeck, runzele die Stirn und frage mich, welchem Zweck denn diese Übung dient. Chang grinst und klärt auf und sagt: „Das ist das Geheimnis der ,Gecko Eyes’.“ Während die meisten Flussschiffe viel zu hoch für die kleinen Übergänge in den Nebenarmen sind, zerlegen wir einfach das Pilothouse. Und passen so gut wie überall durch.

Mit dem ersten Hahnenschrei kommt Leben in die „Gecko Eyes“

Zwanzig Minuten später ist der Kapitän wieder auf dem Posten. Mit gekreuzten Beinen sitzt er auf dem Boden des Sonnendecks, lächelt buddhistisch gelassen und manövriert seine achtzig (!) Tonnen schwere Flusslady mit einem Lilliputsteuerrad in der Hand Richtung Osten. Rechts und links von ihm hat sich die Crew niedergelassen und genießt den Rundumblick auf den Alltag am Wasser. Reisfelder ziehen vorbei. Aus Wellblech und Bambus gezimmerte Stelzenhütten säumen das Ufer, aus einigen klingt Musik. Frauen stehen kniehoch in den Fluten, schrubben Wäsche oder baden ihre Sprösslinge.

Bei Tan Than kreuzt eine mit Wassermelonen beladene Barke unseren Kurs. In ihrem Schraubenwasser schaukelt ein Garküchen-Bötchen, die junge Vietnamesin an der Pinne sieht uns und steuert auf uns zu. „Ein Stück frittierten Elefantenkopffisch?“, fragt sie und deutet auf die dampfenden Töpfe vor ihren Füßen. „Nein, danke.“ Doch wir mögen sie nicht ganz ohne ein Geschäft ihrer Wege ziehen lassen. Kurz entschlossen ordern wir zwei Dosen Bier. Sie strahlt, wischt die Dosen sorgfältig ab und packt sie in einen kleinen Plastikbeutel. Diesen reicht sie uns mit einer Grazie, als wären wir Söhne des Himmels und das schnöde Gerstengebräu ein kostbarer, aus dem Morgentau der Lotosblume gebrühter Göttertrank.

Schon mit dem ersten Hahnenschrei kommt Leben in die „Gecko Eyes“. Chang bruzzelt in der Kombüse, Hilfsmatrose Tai hebt den Anker, prüft mit einer langen Bambusstange die Wassertiefe und ruft dem Käpt’n seine „Schätzholzlotung“ zu. Der zirkelt das Schiff millimetergenau durch den Kanal, weicht dahintreibenden Inseln aus dickstieligen Wasserhyazinthen aus und nimmt schließlich den Tien River unter den Kiel. Kurz darauf kommen rußschwarze Steinkuppeln in Sicht. „Das sind Ziegeleiöfen“, erklärt Chang, „davon gibt es hier Hunderte.

Den Lehm dazu liefert der Mekong. Befeuert werden die Öfen mit Reisstroh.“ Nach der obligaten Besichtigung einer Manufaktur nimmt unser Schiff Kurs auf das Städtchen Sa Dec. Am Kai huldigen ein paar Dribbelknirpse den Fußballgöttern. Als sie uns von Bord gehen sehen, ist der Ball vergessen. „Foto! Foto!“, rufen sie. Was tun? Ignorieren geht nicht. Also, Kamera raus, klick, klick. Der Blick aufs Display macht die Rasselbande überglücklich. Und: Keiner der Dreikäsehochs hält die Hand auf, will Geld, etwas Süßes oder einen Stift.

Kambodscha ist nah

Augen am Bug.
Augen am Bug.
© Gerald Penzl

Wir hieven schließlich die Fahrräder von Bord und radeln zum Cao-Dai-Tempel. „Caodaismus ist eine skurrile Religion“, sagt Chang schmunzelnd am Eingang der bonbonbunten Gebetsstätte. „Ihre Protagonisten haben Buddha, Konfuzius, Jesus Christus, Mohammed und Laotse in einen Topf geworfen, mit Lenin, Jeanne d’Arc und Victor Hugo gewürzt und das Ganze zu einem Geisterglauben aufgekocht.“ Der Caodaismus ist eine noch relativ junge Religion. Im Jahr 1926 wurde sie im Süden Vietnams gegründet, mit Geisterbeschwörungen und Gebeten werden religiöse Akte in prunkvoll ausgestatteten Tempeln vollzogen.

Zwei Schiffsstunden von dem bunten Tempel entfernt liegt Xeo Quyt. Auf den ersten Blick präsentiert sich der Ort als verwunschenes, im Halbdunkel des Dschungels dahindämmerndes Naturjuwel. Doch die Idylle trügt. Schon nach wenigen hundert Metern im Kanu warnt ein Totenkopfschild vor Minen und Blindgängern. „Seht ihr den Bunker dort?“, fragt Chang. Wir greifen zum Fernglas. Doch außer wild wucherndem Urwald ist nichts zu sehen. „So ist es den Amerikanern im Vietnamkrieg auch gegangen“, sagt Chang, „trotz der großen Militärbasis gleich um die Ecke haben sie von der geheimen Kommandozentrale des Vietcong hier nichts gewusst.“

Nun, ganz so war es wohl nicht. Die Truppen Südvietnams und der Amerikaner wussten sehr wohl um die Existenz dieses Lagers und griffen es auch regelmäßig aus der Luft und mit Bodentruppen an. Durch einfallsreiche Verstecke im dschungelartigen Wald sowie mit Unterstützung der lokalen Bevölkerung gelang es den kommunistischen Führern, den Angriffen zu entkommen und von hier aus am Sturm auf Saigon teilzunehmen. Heute ist die Gegend ein Freiluftmuseum und Schutzgebiet. Bei einer Tour mit kleinen Sampans durch winzige Kanäle im Wald oder eine kleine Wanderung inmitten der Natur besichtigen Touristen heute die Kommandozentrale, Höhlen und Verstecke.

Ultramoderne Glas-Beton-Futurismen und tausendjährige Spiritualität

Kapitän Chieu hat sich selbst übertroffen. Ohne Wenn und Aber hat er bis tief in die Nacht hinterm Steuer gesessen und unser schwimmendes Luxusetablissement bis vor die Tore von Chau Doc, der Grenzstadt zu Kambodscha, navigiert. Nun sitzen seine Passagiere entspannt mit einem Glas Wein auf dem Vordersteven. Leise schmatzen die Wellen gegen den Bug. Auf den Booten vor uns schaukeln Männer in Hängematten. Bunte Wäsche flattert im Wind, und von den Bambushütten am Ufer weht helles Kinderlachen herüber. Über allem liegt die feuchtschwere Süße der Tropen. Den Tatendrang der Menschen lähmt sie nicht. Mit der ersten Morgensonne über den Ausläufern der kambodschanischen Damrei-Berge kommen Boote und Holzfrachter in Fahrt, schon herrscht wieder Gewusel auf dem Fluss.

Chang ruft per Handy ein Sampan-Taxi und tuckert mit uns zum Markt. Dort kauft er Obst und Gewürze. Wir löffeln noch eine Nudelsuppe mit Minze und Meeresfrüchten und radeln dann an Reisfeldern und Dörfern vorüber zum Sam Mountain, dem heiligen Berg südlich der 150 000-Einwohner-Stadt. Mit 230 Metern ist er zwar eher ein Westentaschen-Olymp, doch die Pracht der Tempel und der Blick in die Ferne belohnen den Besucher, der den Aufstieg in rund 20 Minuten bewältigt.

Kambodscha ist nah. Angkor Wat, die weltgrößte Tempelanlage, erhebt sich allerdings zehn Schnellbootstunden nordwestlich. Ho Chí Minh City, die quirlige Acht-Millionen-Metropole am Saigon River, fiebert 250 Kilometer südöstlich ihren neuesten Bruttosozialproduktrekorden entgegen. Zwischen den ultramodernen Glas-Beton-Futurismen dort und der tausendjährigen Spiritualität des Sam Mountain hier liegen noch drei Tage an Bord der „Gecko Eyes“. Eine herrliche halbe Ewigkeit.

Die buddhistischen Mönche unten im Tempel der ehrenwerten Frau Xu kennen den Begriff nicht. Für sie gibt es nur den Kreislauf der Wiedergeburt und das Erlöschen des Seins und Werdens durch die Erleuchtung und das Nirvana. „Hey, Langnase“, holt mich Chang aus meinen Träumen ins Hier und Jetzt zurück, „wir müssen los! Der Tra-Su-Wald und die Tigerinsel warten! Also, ab aufs Bike!“

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