Madagaskar: Und Gott strafte den Baobab
Madagaskars Westen bereist selten ein Tourist – trotz Naturwunder und freundlicher Menschen. Mit den Ahnen sollte man sich jedoch gut stellen.
Der Himmel weint. Das ist eigentlich für diese Jahreszeit nicht vorgesehen – die Regenperiode sollte auf Madagaskar erst im November beginnen. Aber vorgestern ist in Miandrivazo der angesehene Geschäftsmann Rabuba gestorben, erzählt Steuermann Legai. Jetzt trauert die Erde, trauern die Ahnen im Jenseits, und so wundert es niemand, dass heute ein sanfter Regen niedergeht. Tabakfelder, Grasdachhütten, die steile Abbruchkante des Ufers – alles ist in mildes Grau getaucht.
Die Passagiere auf der „Lakanabe“ nehmen es gelassen. Die Menschen am Ufer winken ja trotzdem. Weiße Lemuren schwingen sich auch jetzt in den Jackfruchtbäumen geradezu tollkühn von Ast zu Ast. Und die Zebu-Buletten, die Köchin Baku auftischt, sorgen für einen geglückten kulinarischen Auftakt der Reise.
Gelegenheit, Gelassenheit zu lernen, haben die Gäste einige Male an diesem Tag. Gleich zu Beginn erfahren sie, dass es an Bord keine Toilette gebe, sondern alle zwei, drei Stunden eine Pinkelpause an Land. Der Steuermann wirft den Motor an und manövriert vorsichtig über den knietiefen Fluss Tsiribihina – um gleich gegen einen dicken Ast am Ufer zu donnern, so dass eine der tragenden Eisenstützen knickt. Kapitän Fafa, der 50-jährige Mitbesitzer der „Lakanabe“, besieht sich den Schaden kurz, schüttelt den Kopf – und schon macht sein Stirnrunzeln wieder dem gewohnt strahlenden Lächeln Platz. Auf Unwägbarkeiten haben sich die Reisenden jetzt eingestellt. Üblicherweise besuchen Ausländer auf Madagaskar die Königsstadt Ambohimanga nahe der Hauptstadt Antananarivo, die Strände auf Nosy Be und mindestens einen der vielen Nationalparks. Die sieben aber zieht es in den weniger bereisten Westen der Insel.
Zwei Tage und zwei Nächte wird die Flussfahrt bis nach Belo Tsiribihina dauern. Abends macht das Schiff an einer Sandbank fest. Die Männer bauen Zelte auf, an Bord kreist eine Flasche Rum, am Horizont spucken Buschfeuer rotglühende Lohe. Und Reiseführer Solo, gelernter Sportlehrer, erzählt von dem großen Fest, zu dem die 76 Angehörigen seiner Familie aus aller Welt anreisen, um die Ahnen aus ihren Gräbern zu holen, sie in Seidentücher zu wickeln, einmal durchs Dorf zu tragen und dann wieder zu begraben. Mit den Ahnen, dämmert es den Reisenden, sollte man es sich nicht verderben auf Madagaskar.
Am nächsten Morgen weitet sich der Fluss. Inseln aus Wasserhyazinthen treiben vorbei, ein Eisvogel schießt blau glitzernd über den Fluss, in rot gebänderten Felswänden hängen Kolonien von Flughunden wie schwarze Schimmelflecken.
Die Passagiere fläzen sich am Oberdeck in die Polstergarnitur, plaudern und grüßen zu den Kanus hinüber, die die „Lakanabe“ überholt. Meist sitzen ein oder zwei Touristen darin und lassen sich von Ruderern über den Fluss chauffieren. Natürlich haben sie größere Chancen, sich Krokodilen oder Lemuren unbemerkt zu nähern, doch Überraschungen bieten Fluss und Ufer schließlich auch den Motorisierten: ein Zikadengewitter, einen Flamingoschwarm, den rauschenden Wasserfall mit seiner wunderschönen Naturbadewanne, die die Dusche an Bord ersetzt. Bei einer Familie, die einen Lemuren als Haustier hält, deckt die Köchin sich frisch ein: frei laufende Hühner, garantiert biologisch ernährt.
Zwischen Särgen aus Palisanderholz liegen Schädel und Knochen
Am letzten Morgen an Bord hat die Erde ihre Trauer über den Verlust des Herrn Rabuba überwunden. Flaschengrün glänzt der Fluss, die Mangobäume schimmern in düsterem Metallic, weiße Reiher strahlen wie frisch gewaschen. Schon laufen am Ufer zwischen den Häusern von Belo Tsiribihina mehr Menschen durcheinander, als der „Lakanabe“ während der vergangenen zwei Tage begegnet sind. Kapitän Fafa erklärt zum Abschied, dass er und seine Leute ihre Ahnen bitten werden, die Fremden weiterhin zu beschützen.
Ein Beistand, den diese gebrauchen können. Die 100 Kilometer ausgewaschener Buckelpiste nach Norden haben es in sich: Staubig sind die Termitenhügel, staubig die Dornenbüsche, staubig leuchtet die untergehende Sonne. Aus gutem Grund ist der Westen der Insel nur wenig bekannt: Man muss ihn sich hart erarbeiten!
Auf die Ahnen ist jedoch Verlass. Sie sorgen dafür, dass Wagen und Insassen durchgeschüttelt und -geklopft, dennoch heil den Fluss Manambolo erreichen. Da ist es nur zu angebracht, ihnen am nächsten Morgen Dank abzustatten. In Einbäumen staken Ruderer Nababani und Ranger Njara die Besucher übers Wasser. Überhängende Felsen aus gelbem Sandstein säumen das Ufer. Von den Bäumen baumeln Bromelien, Farne und Orchideen, aus dem Wald dringen Rufe, die an einen cholerischen Truthahn erinnern: Ein Lemur plaudert mit der Welt.
Hoch oben in einer Felsspalte haben die Alten ihre letzte Ruhe gefunden: Zwischen offenen kleinen Särgen aus verwittertem Palisanderholz liegen menschliche Schädel und Knochen, dazwischen Tuchfetzen, vermodernde Geldscheine und eine leere Flasche – Überreste von Opfergaben. Es sind Gräber der Vazimba, eines ausgestorbenen Volkes. Nababani sprüht einen Schluck Wodka darüber, spricht respektvoll mit den Seelen und bittet sie, Fotos zu erlauben. Das gehe in Ordnung, lassen sie wissen – auch würden sie die Reisenden weiter sicher geleiten.
Und wieder ist diese Unterstützung der Altvorderen willkommen – im nahen Nationalpark Tsingy de Bemaraha. „Mitsingi“ heißt „Auf Zehenspitzen gehen“ – also sich höchst vorsichtig bewegen. Aufmerksamkeit ist bei so vielen Spalten und wackligen Steinen allemal angebracht. Durch Höhlen und Rinnen windet sich der Weg, durch Schluchten, in denen Wurzeln von Flamboyantbäumen baumeln wie Wasserleitungen. Graue Orgelpfeifen ragen ringsum empor, Spitzbogen reiht sich an Spitzbogen, ein vollendetes gotisches Ensemble hat die Natur geschaffen. Vor 200 Millionen Jahren erstreckten sich hier die Korallenriffe eines Ozeans. Erdbeben haben sie gehoben, Wind und Regen ausgewaschen und übrig geblieben ist ein steinernes Meer gleichmäßig gerippter Zacken und Zähne, manche mit Graten so scharf wie Sägemesser, andere von spitzen Hüten bedeckt.
Die Fahrt zurück nach Süden, nach Morondava, dauert einen Tag. Zur Linken und Rechten ragen bauchige graue Säulen wie afrikanische Ausrufezeichen in den Himmel. Gott sei verärgert gewesen über den unersättlichen Baobab, heißt es, weil er sich das Recht herausnahm, mehr Wasser zu speichern als andere Bäume. Zur Strafe zog er ihn aus der Erde und steckte ihn verkehrt herum wieder hinein – so dass das wirre Wurzelwerk jetzt seine Krone bildet.
Jeder der Affenbrotbäume ist beeindruckend – doch dann tauchen die Stars auf: der mehr als 800 Jahre alte heilige Baobab; die ineinander verschlungenen Liebenden Baobabs; und schließlich die Baobab-Allee. Japaner mit Gesichtsmaske haben Stative aufgebaut, Spanierinnen streiten lauthals über die richtige Belichtung, ein Schwede blitzt tapfer in die letzte Sonne des Tages – und pünktlich, als sei er bestellt, rasselt zwischen den Baumriesen ein Zebu-Karren daher, gehüllt in eine staubige rot-goldene Aura. Was für ein Bild, was für ein Abschied vom Wilden Westen Madagaskars – auf die Ahnen ist halt Verlass.
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