Florida: Trau dich zum Alligator
Florida ist die Heimat tausender Riesenechsen. Im Themenpark kommen sie Besuchern hautnah. Doch hinter dem Spaßkonzept steckt Artenschutz.
Von oben sieht man Muskelmasse mit Zacken darauf. An den Seiten überaus kräftige Beine, die in unangenehm ausschauenden Klauen enden. Kein Zweifel: Es kostet schon allein angesichts dieser Attribute des Tieres Überwindung, sich auf einen Alligator zu setzen. Immerhin, ein verlässliches schwarzes Klebeband hält das Maul des Reptils fest verschlossen. Und einer der Wahnsinnigen, die hier arbeiten, sitzt froh lächelnd im Sand und versichert, das sei doch ein Riesenspaß.
Der Instinkt sagt: Es ist keine gute Idee, mit einer Panzerechse Körperkontakt aufzunehmen. Zumal es auch irgendwie politisch nicht korrekt erscheint, sich auf einem solchen Tier niederzulassen. Doch Tim sagt: „Go for it.“ Also: sehr tief in die Hocke gehen; in extremer Kniebeuge vorsichtig auf den eigenartigen Rücken sinken; das zugeklebte Maul umfassen. Dann hoffen, dass der Fotograf endlich abdrückt. Mühsam wieder aufstehen, natürlich unter fröhlichem Johlen der auf ihren Schnappschuss wartenden Zuschauer.
Der Fototermin nach der Show ist der Höhepunkt des Besuchs in Gatorland, das für tausende Alligatoren und andere Wildtiere auf 110 Acres, also 44 Hektar See- und Uferlandschaft, das Zuhause ist. Selbst für Zentralflorida darf der Park als ein Ballungsgebiet dieser Spezies betrachtet werden. Zudem ist Gatorland der älteste Themenpark der Region, die vor allem von Einrichtungen der Disney Company dominiert wird.
Niemals einen Alligator füttern
Die kernigen, unerschrockenen Männer, die hier ihre Köpfe in weit aufgerissene Alligatorenrachen stecken und ähnlichen Unfug treiben, sind allerdings bei allem Spieltrieb in erster Linie um Information bemüht. Tim Williams ist einer von ihnen. Er arbeitet seit mehr als 20 Jahren im Park. Als junger Mensch fing er Klapperschlangen, denen zur Herstellung von Antiserum Gift entnommen wurde. Später arbeitete er auf einer Alligatorenfarm, bevor er 1991 zu Gatorland wechselte.
Hier klären er und andere „Country Boys“, die Alligatoren lieben, die Besucher über die Tiere auf, füttern sie gewissermaßen mit allem, was zu den Ungetümen wissenswert erscheint. Das Wichtigste: Niemals einen Alligator füttern. Denn der wird danach nie wieder jagen, sondern vor einer Haustür auf die nächste Zuwendung warten. „Ein gefütterter Alligator ist ein toter Alligator, denn sobald er Menschen ein Problem macht, wird er erschossen. Das ist sehr traurig.“
Zur Paarungszeit im Mai laufen einem nicht selten Alligatoren buchstäblich über den Weg. Und zwar dort, wo man am wenigsten mit ihnen rechnet: auf Parkplätzen und Terrassen, auf Schnellstraßen, in Gärten und – natürlich – an Swimmingpools. Sogar in Häusern sind schon welche aufgefunden worden. Sie hatten sich durch größere Hundeklappen Eingang verschafft. „Sie suchen die Liebe oft an den falschen Orten“, weiß Tim Williams. Das sorgt für schlimme Schrecksekunden und macht es schwer vorstellbar, dass die Reptilien in Florida in den 1980er Jahren fast ausgestorben waren.
Im August kann man die Riesenechsen jagen
Heute ist kein besonders großes Glück nötig, um sie in freier Wildbahn zu erleben. Sie liegen im Kanal neben der Straße auf Sanibel Island an der Golfküste, auf dem Gelände des Kennedy Space Centers am Atlantik oder vor allem in der Mitte des „Sonnenscheinstaats“, in den Feuchtgebieten der mehr als 10 000 Quadratkilometer umfassenden Everglades.
Tatsächlich gibt es in Florida so viele der Riesenechsen – rund zwei Millionen –, dass sie im August (mit Lizenz) gejagt werden dürfen. Trotzdem hat Gatorland mit seinen Alligatoren, zwei der extrem seltenen Florida Panther und jeder Menge Schlangen – darunter ein Haus voller ausgesetzter ehemaliger Haus-Pythons – nichts an Attraktivität verloren. Immerhin 400 000 Menschen kommen jedes Jahr, um die Tiere aus der Nähe zu beobachten, auf ihnen Platz zu nehmen, vor allem jedoch, um mehr über sie zu erfahren.
Und da leisten die Männer um Tim Wilkens ganze Arbeit. Denn für den auch heute noch familiengeführten Park steht die Wissensvermittlung um Floridas Tierwelt insgesamt immer noch im Vordergrund. Übrigens ist der größte Teil des Geländes ein Brutsumpf. Und da Alligatoren auch Nesträuber wie Waschbären und Opossums auf dem Speisezettel haben, die also die Umgebung meiden, können hier auch Wasservögel ungestört ihre Nester bauen.
22 Jahre „before Disney“
Was im Gatorland passiert, dient allerdings nicht allein der Belehrung und Belustigung der Besucher, sondern auch der Forschung. Bereits seit Ende der 1970er Jahre kooperiert der Park mit der University of Florida und der Florida Wildlife Commission. Dabei geht es vor allem um den Fortbestand der Tiere in freier Wildbahn. Der Besucher bekommt auch durchaus den Eindruck, dass die Alligatoren die Hege und Pflege annehmen, dass sie die mit ihnen veranstalteten gemäßigten Zirkusstückchen locker wegstecken.
Der Park ist nach eigener Darstellung sogar der bisher einzige Ort auf der Welt, an dem Alligatoren in Gefangenschaft erfolgreich mit Hilfe von künstlicher Befruchtung vermehrt werden konnten. Schließlich wurde Gatorland 1949 als „Florida Wildlife Institute“ eröffnet. Eine Zeit, die in dieser Region als das Jahr 22 b. D. bezeichnet wird: 22 Jahre „before Disney“. Schließlich eröffnete die Walt Disney Company am 1. Oktober 1971 hier bei Orlando sein „Magic Kingdom“ als erstes Teilprojekt des Walt Disney World Resort. Und damit begann in Florida wahrhaftig eine neue Zeitrechnung.
Das Gebiet rund um Orlando, eine mit heute 230 000 Einwohnern an sich recht übersichtliche Stadt, die dank Vergnügungsparks (und ihres Kongresszentrums) 115 000 Hotelzimmer auszulasten weiß, wurde durch Disneys Expansion zu einem Epizentrum des Tourismus. Das im kalifornischen Anaheim erfolgreiche Unternehmen strebte an die Ostküste, bevorzugte aber das Hinterland, um Wirbelstürmen aus dem Weg zu gehen. Zugleich wurde ein Klima gesucht, in dem tropische Pflanzen gedeihen würden. Und natürlich wurde jede Menge Platz benötigt. Die Antwort auf alle Erfordernisse bündelte Orlando, zuvor vor allem bekannt für seine Orangenplantagen und Rinderfarmen. Heute ist jeder Parkplatz der vier Disney-Parks größer als das Original an der Westküste, und zahlreiche andere Riesenrummelplätze etablierten sich.
Außerhalb von St. Cloud grünt es
Selbst die Bibel wird hier durch einen Themenpark erklärt: „Holy Land Experience“ heißt ein im Februar 2001 bei Orlando eröffneter christlicher Themenpark samt Bibelmuseum. Zu den Attraktionen des von einem baptistischen Pastor jüdischer Herkunft gegründeten Parks gehört auch eine sechsstöckige Nachbildung des Zentralteils des Tempels von Jerusalem.
Wir sind neugierig auf mehr. St. Cloud ist die letzte Siedlung südöstlich der Stadt, die mit rund 35 000 Einwohnern mehr ist als eine Kreuzung mit Tankstelle. Nun verschwinden die Zeugnisse moderner floridianischer Bauwut. Die Landschaft wird grün: Zypressen, Orangenbäume, Magnolien, Pinien und der Park „Forever Florida“. Dort wird die Natur so erhalten, wie sie einstmals die europäischen Siedler vorgefunden haben mögen – mitsamt halbwilder „Cracker Cows“ und „Cracker Horses“, Nachkommen jener Kühe und Pferde, die im 16. Jahrhundert auf den Schiffen der Spanier hierherkamen.
Der sogenannte Florida Trail, der die puderweißen Strände von Pensacola im Nordwesten des Bundesstaats mit den Keys ganz im Süden verbindet, verläuft durch diese relativ ursprüngliche Landschaft. Relativ – denn die uralten Bäume sind auch hier verschwunden, seit in den 1930er Jahren das Geschäft einer nahe gelegenen Sägemühle florierte.
Vom Fischotter über Schwarzbär bis zur Korallenschlange
Der Arzt William Broussard und seine Frau Margaret, die 1969 aus Louisiana nach Florida kamen, kauften die Ranch, die das Herzstück von Forever Florida wurde. Ihre vier Kinder wuchsen hier auf; Sohn Allen David wurde Biologe und träumte von einem Schutzgebiet für das Ökosystem Zentralfloridas, das stark unter wachsender Bevölkerung und reger Bautätigkeit litt. 1990 starb er mit gerade 29 Jahren nach einer Herztransplantation. Im Jahr darauf begründeten seine Eltern eine nach ihm benannte Stiftung. Sie erweiterte das Schutzgebiet rund um die Farm, bis es fast 2000 Hektar Wald, Sumpf und Flusslandschaft umfasste.
Margaret Broussard erzählt im Film, der im Besucherzentrum gezeigt wird, die Geschichte ihres Kindes, dessen erstes Wort „Bird“ (Vogel) war und das sich für jede Spezies Floridas begeisterte, vom Fischotter über Schwarzbär und Panther bis zur Korallenschlange. Danach können die Besucher auf dem „Canopy Cycle“, einem fahrradähnlichen Gestell, an Drahtseilen von Baumkrone zu Baumkrone gleiten und Vögeln gewissermaßen in die Augen schauen. Als Alternative gibt es eine Tour in einem offenen Riesenlastwagen, der mit elf Stundenkilometern durch die Landschaft schaukelt.
Nancy, eine weißhaarige Frau mit den breiten Vokalen und der unwiderstehlichen Freundlichkeit des Südens, steuert das Gefährt vom Farmland ins Schutzgebiet. Sie zeigt auf einen grauen Flecken am Rand eines Tümpels: ein Alligator. Es ist ein ungewöhnlich kühler Tag, daher haben die Tiere keine Energie, um zu jagen, sondern bleiben in ihrem Versteck. Dabei gehen sie so nachlässig vor, wie man sein kann, wenn man ab Erreichen einer gewissen Größe ohne Feinde durchs Leben kommt: Sie legen sich in einen Tümpel oder ins Gras und warten dösend auf wärmeres Wetter. Doch nicht immer sind sie so träge: „An heißen Tagen sieht man sie wie Delfine nach Reihern springen.“
Niemand steigt jetzt aus
Nancy deutet auf einen gestreiften Schwanz neben dem Weg (Alligator!) und macht ihre Gäste auf Fisch- und Blaureiher aufmerksam. Die Rotte Wildschweine, die plötzlich auf dem Pfad auftaucht, ist nicht zu übersehen. Auch sie sind Abkömmlinge von Tieren, die die ersten Siedler mitbrachten, aber aggressiver als jene ersten spanischen Hausschweine. Im Dickicht aus Säbelpalmen und Giftefeu zeigt Nancy den Besuchern ein paar junger, noch nicht halbjähriger Alligatoren.
Sie sehen aus wie zu groß geratene Eidechsen und könnten fast niedlich sein, wüsste man nicht, dass ihre Mutter keine zwei Meter entfernt im Wasser unter dicker Entengrütze liegt. Nur ihre Augen sind zu erkennen. „Alligatoren gehören zu den wenigen Reptilien, deren weibliche Tiere ihren Nachwuchs schützen“, weiß Nancy. Niemand steigt jetzt aus.
In den Seengebieten Zentralfloridas geht das schon deshalb nicht, weil die zumeist per Luftkissenboot erkundet werden. Rund 1500 Alligatoren leben im 50 Kilometer südlich von Orlando gelegenen Lake Cypress und dem umliegenden Netz von Kanälen. Einige von ihnen messen bis zu fünf Meter. Ihnen möchte man beim Schwimmen eher nicht begegnen. Über dem See fliegen weiße Ibisse und graue Kormorane auf, am Himmel kreist ein Adler. Schwarze Wasserhühner huschen durchs Schilf.
Noch ein Schnappschuss mit Baby-Alligatoren
Diesseits des Bootsstegs mahnt ein Schild des „Wild Florida Airboats and Wildlife Park“, Schlangenbeobachtungen zu melden, und ein Guide weiß: „Nach dem Biss einer Korallenschlange haben Sie sieben Minuten Zeit, sich in Behandlung zu begeben. Nach dem Biss einer Klapperschlange sogar eine halbe Stunde.“
Wie beruhigend. Seit vier Jahren starten hier die Bootstouren von „Wild Florida“, seit zwei Jahren werden in Gärten oder Pools gefundene Alligatoren aufgenommen. 45 Tiere liegen in einem eingezäunten See, alle wurden der Polizei als „Belästigung“ gemeldet.
In dem kleinen Park können Besucher Baby-Alligatoren mit zugeklebten Mäulern herzen und sich mit zahmen Papageien fotografieren lassen. Jenseits der Wege funkelt zwischen Bäumen und gelbgrünem Schilfdickicht das Wasser des Sees. Keine Dreiviertelstunde von Orlando und seinen schrill-bunten Themenparks zeigt sich die Landschaft Floridas wie vor 50 Jahren. Oder wie vor 500.