Tina Turners Heimatstadt: Talent hat Wurzeln
Nutbush ist ein Kaff am Highway 19 in Tennessee. Tina, dort geboren, hat dem Ort ein Lied geschenkt.
Die 19 ist kein mythenumranktes Asphaltband wie Route 66 oder Highway 61, die „Straße des Blues“, der Bob Dylan ein ganzes Album widmete. Die 19 beginnt im Nirgendwo in der Nähe von Brownsville, einer Kleinstadt im Westen Tennessees. Sanft fällt hier das Land ab, von den bewaldeten Hügeln der Appalachen bis zum Sumpf- und Schwemmland des Ol’ Man River. Baumwollsträucher wogen im Herbstwind – ein Meer aus Grün und Weiß. Wie viele Straßen im tiefen Süden der USA ist auch die 19 als Verbindung zwischen Plantagen entstanden – „when Cotton was King“, als das gesamte Wirtschaftssystem an der Baumwolle hing.
Ihre popkulturelle Bedeutung verdankt die 19 einem der wenigen Orte, durch die sie führt. Einem Kaff mit gerade mal 260 Seelen, dessen Name sich von den Nussbäumen und Sträuchern ableitet, die hier wild wachsen. Nutbush ist der Heimatort von Tina Turner; in „Nutbush City Limits“, ihrem Hit aus dem Jahr 1973, hat sie ihn besungen: „Church house, gin house, school house, outhouse. On highway number 19, the people keep the city clean.“ Michael Anthamattan grinst. Außenklos sind in Nutbush längst ein Relikt der Vergangenheit.
Auch Schule und Kneipe existieren nicht mehr. Bliebe die Kirche. Oder besser: die Kirchen. Beide nennen sich Woodlawn Baptist Church, die eine wird von Afroamerikanern besucht, die andere von Weißen. In Tennessee galten bis 1964 die sogenannten Jim-Crow-Gesetze, die eine Trennung der Rassen vorschrieben. Im Film „What’s love got to do with it“, der auf der Turner-Autobiografie „I, Tina“ basiert, wundert sich die junge Musikerin nach ihrem Umzug gen St. Louis, oben in Missouri, dass Schwarze und Weiße dort ein und dasselbe Restaurant besuchen, ja sogar gemeinsam an Tischen sitzen.
Im Gemischtwarenladen trafen sich früher die Fans
„Tina Turner ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie man Widrigkeiten überwindet“, sagt Michael Anthamattan, „wie man sich selbst treu bleibt, seinen eigenen Weg geht, und zwar mit Stil, Anstand und Würde.“ Seine Sicht auf die Sängerin muss man nicht teilen, denn Tina Turner ist, wie wir wissen, lange den Weg eines anderen gegangen, den von Ike Turner. Mit ihm, einem der großen Irren der Popgeschichte, war sie 16 Jahre lang verheiratet, er zog bis zur Trennung im Jahr 1976 die Fäden ihrer Karriere und verprügelte sie, wann immer ihm danach war.
Aber Michael ist Fan, ein großer, und als solcher darf er sein Idol natürlich überhöhen. Seit einer gefühlten Ewigkeit besucht er Nutbush, mehrmals im Jahr, meist mit Gleichgesinnten. Weil er sich seinem Idol hier so nah fühlt. Er ist durchs Fenster in die Flagg Grove School geklettert, Tina Turners Grundschule, als das kleine Holzhaus noch auf einem Feld stand und als Heuschober genutzt wurde. Heute ist es Teil des Heimatmuseums von Brownsville, dem West Tennessee Delta Heritage Center. Fans wie Michael haben Sammlerstücke gespendet, Tina Turner selbst ein paar Bühnenkleider.
Früher haben sich die Fans im Gemischtwarenladen in Nutbush getroffen, einem windschiefen Holzbau, der einmal weiß war, an dessen Sparren aber längst die Farbe abblättert. Überm Eingang ein Schild: „Welcome to Nutbush, Tennessee – Birthplace of Tina Turner“. Aber das Geschäft ist seit langem geschlossen. Dieses Nutbush hat sich schwergetan mit seiner berühmtesten Tochter. Kein Wunder, schließlich hat Tina Turner ihrer Heimat schon mit 16, nach dem Tod ihrer Großmutter, den Rücken gekehrt hat. Und in „Nutbush City Limits“ das Bild eines Städtchens gezeichnet, in dem das Leben im monotonen Rhythmus verläuft: unter der Woche wird geackert, freitags eingekauft und sonntags geht’s in die Kirche.
What’s love got to do with it?
Spurensuche in Nutbush. Das Haus auf der Pointdexter Road, in dem Tina Turners Eltern lebten, existiert nicht mehr. Ebenso wenig die Farm der Großmutter auf der St. Peter Road. Kein Hinweisschild, nirgends. Stattdessen baufällige Häuser, überall. Glaubt man Tina Turners Autobiografie, dann muss ihre Kindheit glücklich gewesen sein. Abgesehen vom Dauerstreit der Eltern, der schließlich zur Trennung führte. Abgesehen auch vom Herbst, wenn die Schulen für einen Monat schlossen, die Kinder zur Baumwollernte abkommandiert wurden, zu einer harten Arbeit unter der brennenden Sonne.
In der Woodlawn Baptist Church, der schwarzen, empfängt uns Roberta King, eine weißhaarige Frau. Dies war Tina Turners Gemeinde als junges Mädchen, hier hat sie im Chor gesungen. Der Film „What’s love got to do with it?“ beginnt mit einer Szene in dieser Kirche, in der die kleine Ana Mae Bullock, wie Tina Turner mit Geburtsnamen hieß, ein religiöses Lied im Stile der Blues-Ikone Bessie Smith intoniert – sehr zum Missfallen der Chorleiterin, die das Mädchen kurzerhand vor die Tür setzt. Eine Draufgängerin, schon von klein auf, so die Botschaft. Nur leider reine Erfindung, sagt Roberta King.
Sie muss es wissen, denn Roberta King ist eine ehemalige Schulfreundin der Sängerin und eine entfernte Cousine. „Tina war immer voller Energie“, erinnert sie sich. „Sie war eine gute Schülerin und schon damals eine tolle Sängerin. In allem, was sie gemacht hat, wollte sie die Beste sein.“ Während Tina Turner zu einem der Stars der turbulenten 60er Jahre aufstieg, von Pop-Tycoon Phil Spector produziert wurde und mit den Rolling Stones auftrat, hat Roberta King erlebt, wie das Jahrzehnt der politischen und kulturellen Veränderungen an Nutbush vorbeigezogen ist. Bis weit in die 70er Jahre gab es hier noch separate Restaurants und Arztpraxen für Schwarze und Weiße.
Bill Rawls ist Bürgermeister - kein einfacher Job
El Ranchito im Zentrum von Brownsville ist ein besserer Imbiss und das kulinarische Glanzlicht der Stadt. An einem der Holztische sitzt Bill Rawls Junior, ein hochgewachsener Mann mit gewinnendem Lächeln. Ein wenig erinnert der Bestattungsunternehmer in dritter Generation an den Barack Obama des Jahres 2008, der „Change“, Veränderung, versprach und die Zuversicht verkörperte, die Veränderungen auch durchzusetzen.
Bill Rawls ist seit einigen Monaten Bürgermeister von Brownsville und damit auch von Nutbush, das verwaltungstechnisch zu der Kreisstadt gehört, und der erste Schwarze überhaupt in diesem Amt. Es ist kein einfacher Job, den er angetreten hat. Vom Anbau der Baumwolle können nur noch ein paar Großfarmer leben. Toyota hatte mal ein Zulieferwerk in Brownsville, aber es ist längst geschlossen. Ebenso die Fabrik von Tupperware ganz in der Nähe. Ökonomisch wird es darum gehen, neue Industrien anzusiedeln. Und in der Rassenfrage um Aussöhnung. Tina Turner hat es in „Nutbush City Limits“ schon richtig formuliert, findet Bill Rawls: „A one-horse town, you have to watch what you’re putting down …“ – in einem verschlafenen Nest, in dem Schwarz und Weiß nebeneinanderher leben, musst du aufpassen, was du sagst ...
Vielleicht ist dies auch die Erklärung für die Vorbehalte gerade der schwarzen Bevölkerung gegenüber Tina Turner. Weil sie keine von ihnen ist, nicht ihre Geschichte teilt, die jüngere zumindest. Dabei könnte Turner doch ein leuchtendes Beispiel sein, so jedenfalls sieht es der Bürgermeister: wie sie nach Ike noch einmal bei null angefangen hat. Und dann das Comeback, mit 43 Jahren, das bis heute als das größte der Popgeschichte gilt.
Tom Noga
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