Schottland-Kreuzfahrt: Steile Treppe für Neptun
Schottland vom Wasser aus kann spannend sein, auch ohne eine Spur vom Ungeheuer Nessie.
Schiffe haben es Struan angetan. Sobald sich eines über den Meeresarm Loch Nevis dem Küstenort Inverie nähert, eilt er gemeinsam mit seinem Vater hinunter zum Anleger und hilft, das Boot am Pier zu vertäuen. Ein Schiff ist immer noch eine kleine Sensation für den Neunjährigen – und auch die einzige Möglichkeit, den 80-Einwohner-Ort, in dem Struan mit seinen Eltern und seiner Schwester Anna lebt, zu erreichen oder auch mal der Ruhe und Einsamkeit zu entfliehen. Nach Inverie auf der Halbinsel Knoydart im Nordwesten Schottlands führt auch eine Kreuzfahrt der besonderen Art.
Weder auf Autostraßen noch auf dem Schienenweg ist dieser Zipfel der Welt zu erreichen. Struans Vater Ian hat diesen Wohnort bewusst gewählt. Als Soldat in der britischen Armee musste er ein unstetes Leben führen. „Ich bin viel in der Welt herumgekommen“, erzählt der 68-Jährige: „Kenia, Singapur, Zypern und zwei Jahre Iserlohn im Sauerland waren meine Stationen.“ Danach wählte Ian die Abgeschiedenheit. Gut 20 Jahre lang betrieb er in Inverie den entlegensten Pub des britischen Festlands, „The Old Forge Inn“.
Trotz der isolierten Lage ist das Dorf eine multikulturelle Gemeinde: Deutsche, Holländer, Belgier, Polen und Neuseeländer zählen zu den Bewohnern, die wie Ian Robertson und seine Frau Jackie von der grünen, friedlichen Landschaft fasziniert waren. Es gibt nicht einmal ein Mobilfunknetz. „In Inverie leben alle, weil sie es wollen, nicht weil sie müssen“, meint Ian. „Einmal im Monat geht es zum Großeinkauf nach Inverness an die Ostküste. Drei bis vier Stunden mit dem Auto quer durch die Highlands. Dort übernachten wir, genießen etwas Kultur und arbeiten unsere Einkaufliste ab.“
Der Kaledonische Kanal ist eine Touristenattraktion
An diesem Nachmittag hilft Struan unserem Schiff beim Anlegen, der „Lord of the Glens“. Das blau-weiße Schiff im Stil einer Jacht ist vor fünf Tagen in Inverness im Kaledonischen Kanal gestartet. „Zwischen 1803 und 1822 ließ der schottische Ingenieur Thomas Telford den Kanal bauen, der die Nordsee mit dem Atlantik verbindet und Schiffen die lange Fahrt um Schottlands stürmischen Norden ersparen sollte“, erklärt Bordreiseleiterin Konstanze Tack: „Zur Zeit der ,Highland Clearance‘, als Menschen aus dem schottischen Hochland vertrieben wurden, damit die Großgrundbesitzer mehr Platz für ihre Schafzucht hatten, diente das Bauprojekt auch der Schaffung neuer Arbeitsplätze.“
Nur ein Drittel der knapp 100 Kilometer langen Wasserstraße ist künstlich angelegt worden. Sie verbindet die vier Seen Dochfour, Ness, Oich und Lochy miteinander. Die Höhenunterschiede werden mit 29 Schleusen ausgeglichen. Doch die erhoffte wirtschaftliche Bedeutung blieb aus. Heute ist der Kaledonische Kanal eine von Schottlands Touristenattraktionen.
Auf den sogenannten Lochs kann es bei Regen und Wind schon mal hoch hergehen wie auf einem stürmischen Meer, hatte Kapitän Anthony Reading beim Begrüßungsdinner beiläufig erwähnt. Doch am nächsten Mittag fallen keine dicken Regentropfen vom Himmel, sondern Sonnenstrahlen lassen Sterne auf dem blauen, spiegelglatten Wasser tanzen. Mit sechs Knoten (elf Kilometern pro Stunde) steuert Reading die „Lord of the Glens“ über den rund 230 Meter tiefen und zweitgrößten See Schottlands: Loch Ness.
Wo bleibt Nessie?
„Auf 36 Kilometern haben wir jetzt Gelegenheit, Nessie zu sehen“, scherzt Bernd aus München. Er steht auf dem vorderen Aussichtsdeck und sucht mit seinem Fernglas den See ab. Im Jahre 565 soll „das Ungeheuer von Loch Ness“ das erste Mal gesichtet worden sein. Ein Jahrtausend lang blieb es dann verschwunden. Inzwischen wurden etwa 4000 Sichtungen registriert. Größtenteils von der Ruine Urquhart Castle aus, die sich soeben an Steuerbord gegen den Horizont abzeichnet. Plötzlich ein kurzes Rucken. Aber offenbar haben sich nur die Schiffsmotoren verschluckt.
Die Chance, einen Blick auf Nessie zu erhaschen, bietet schließlich nur der Souvenirshop in Fort Augustus. Spannender im verschlafenen Nest ist allerdings die Wassertreppe mit fünf hintereinandergereihten Schleusen. Jede von ihnen hebt oder senkt das Wasser des Kanals um exakt 2,4 Meter. Eine Stunde dauert die komplette Durchfahrt. Während die Gäste sich auf den Weg ins „Robert-Louis-Stevenson“-Restaurant zum Drei-Gänge-Dinner begeben, hat die „Lord of the Glens" direkt hinter der „Himmelsleiter“ festgemacht.
Das 1985 in Griechenland gebaute Schiff wurde später für den Kaledonischen Kanal aufgemotzt. 27 geräumige mahagoni- und cremefarbengetäfelte Zweibettaußenkabinen verteilen sich über drei Decks. Im obersten Stock gibt es die „David-Livingstone-Lounge“ mit Bar und Panoramablick. Zwei kleine Aussichtsdecks befinden sich am Bug und Heck. Freundlich und unkonventionell ist die 18-köpfige international zusammengesetzte Mannschaft.
Eintauchen in die Welt der Clans
Am folgenden Morgen startet die „Lord of the Glens“ zur zweiten Etappe durch den Kanal. Zwischen Loch Oich und Loch Lochy manövrieren Kapitän Reading und sein Erster Offizier James Forbes das Schiff konzentriert durch eine 2,5 Kilometer lange, schmale Baumallee, die Laggan Avenue. Kiefern, Eschen, Erlen, Birken, Weiden und Vogelbeerbäume säumen den Kanal über weite Strecken. Rhododendren und Glockenheide entfalten ihre lila Blütenpracht im vom Golfstrom geprägten Klima. Bei Banavie nahe Fort William schält sich Großbritanniens höchster Berg aus einer Wolkenwand, der 1343 Meter hohe Ben Nevis. „Neptun’s Staircase“ mit acht hintereinanderliegenden Schleusenkammern ist noch einmal eine Präzisionsaufgabe für die Crew.
In Corpach öffnet sich die letzte Doppelschleuse. Über den Loch Linnhe schippert der „Herr der Schluchten“ Richtung Atlantik. Der Touristenort Oban ist das Tor zu den Inneren und Äußeren Hebriden. Auf der Insel Mull tauchen wir ein in die Welt der Clans. „Clan bedeutet Kinder und kommt vom gälischen Wort Clann“, weiß Konstanze Tack: „Ab dem 12. Jahrhundert schlossen sich im bergigen Hochland größere Gruppen zusammen, die über den Familienverband hinausgingen.“
Seit mehr als 700 Jahren ist das „Duart Castle“ Hauptsitz des MacLean Clans. Fichten und Farne, die so hell leuchten, als habe jemand unter ihnen ein Licht angeknipst, prägen das Eiland. Schafe und zottelige Hochlandrinder dösen auf mit weißen Gänseblümchen und gelben Butterblumen übersäten Weiden. Gut 30 See- und Steinadlerpaare soll es hier geben, aber heute verstecken sie sich.
Ein „Caledonia Best“ zum Sonnenuntergang
Nach der abendlichen Vorstellung des Programms für den nächsten Tag durch die Bordreiseleiterin entscheiden die Passagiere einstimmig, die Insel Eigg nicht anlaufen zu lassen. „Einst gehörte das Eiland wie viele andere Hebriden-Inseln Großgrundbesitzern. Nach diversen Eigentümerwechseln kauften die Inselbewohner das Land, das seitdem vom ’Isle of Eigg Heritage Trust’ verwaltet wird“, so Konstanze Tack: „Dieses Ereignis wird einmal im Jahr mit viel Bier und Whisky gefeiert, so dass alle Einwohner volltrunken sind.“
Also schaukelt die „Lord of the Glens“ am nächsten Morgen an Muck, Eigg und Rum vorbei nach Canna, dem kleinsten Eiland der Inselgruppe der „Small Isles“ (kleine Inseln).
Eine Kirche, eine Kapelle, ein keltisches Kreuz, wenige Bauernhöfe, Kaninchen, Schafe, Rinder, ein Postamt mit roter Telefonzelle, ein Café, feinster, heller Sandstrand, dümpelnde Fischerboote und ganz viel Grün – das ist Canna. Auf der Rückfahrt entlang der Insel Skye springen zwei Delphine neben dem Bug aus dem Wasser. Seehunde räkeln sich auf einer Sandbank.
Als sich das Schiff der Halbinsel Knoydart nähert, warten Struan und sein Vater bereits am Hafen von Inverie. Einer der philippinischen Matrosen wirft ihnen das Tau zu. Mit leuchtenden Augen fängt es Struan auf und legt es um den Poller am Kai. Wie die meisten Dorfbewohner spazieren die Passagiere der „Lord of the Glens“ nach dem Abendessen zum „Old Forge Inn“. Und bestellen, wie es sich gehört, ein „Caledonia Best“. Jetzt, kurz bevor die Sonne hinter den grasgrünen Bergen am Loch Nevis untergeht, schmeckt es einfach am besten.