Vom Strand zum Binnenland: So schön anders
Im Lieper Winkel am Achterwasser gibt sich Usedom gar nicht mondän, sondern überaus idyllisch. Ganz ohne Hotels und Bars.
Das also ist der Gipfel. Der Jungfernberg, der über alles verfügt, was einem Höhepunkt gebührt: einen ausgeschilderten Weg, eine Bank zum Verschnaufen und – natürlich – ein Gipfelbuch, verborgen in einer kleinen Blechkiste hinter der Rückenlehne. Dort kann jeder in den Eintragungen seiner Vorgänger schmökern. Die reichen vom knappen „Geile Sache! Super Aussicht“ bis zum Zitat „Geh aus, mein Herz, und suche Freud’…“ nebst diverser selbst gestrickter Lyrik. Und natürlich wird die eigene Aufstiegsleistung hervorgehoben: mit letzter Kraft und ohne Sauerstoffgerät. Der Jungfernberg also. Reichlich 18 Meter ragt er über den Meeresspiegel, die höchste Erhebung im Lieper Winkel. Dieser wiederum ist eine Halbinsel, die pilzförmig zwischen Achterwasser und Peenestrom in die Boddengewässer der Insel Usedom hineinwächst.
Wer das Binnenland auf der B 110 über die Zecheriner Brücke verlässt und schnurstracks in die Kaiserbäder fährt, lässt den Lieper Winkel sozusagen links liegen. Ob das richtig oder falsch ist, hängt davon ab, wie man sich seinen Küstenurlaub vorstellt. Faustregel: Wem der coole Cocktail in der Hotelbar besser schmeckt als das kühle Bier in der Dorfkneipe oder wer sich in hochhackigen Pumps wohler fühlt als in kopfsteinpflastertauglichen Wanderschuhen, der ist im Lieper Winkel verkehrt. Natürlich sind Ahlbeck, Heringsdorf oder Bansin nur einen Steinwurf entfernt. Doch zwischen dem Aufbruch im Hinterland und Platznehmen auf der Seebrücke kann – je nach Verkehr und Dauer der Parkplatzsuche – schon mal eine knappe Stunde liegen. Die Halbinsel taugt also nicht als (Not-)Lösung bei der Quartiersuche für den Urlaub am Ostseestrand. Solcherart Degradierung wäre zudem ungerecht.
Die Reize des Lieper Winkels überblickt man vom Jungfernberg aus: Ringsherum ist Wasser. Fast ringsherum, man ist ja auf einer Halbinsel. Zwar durfte ein breiter Schilfsaum wachsen, doch hier und da haben die Bewohner Breschen ins Grünzeug geschlagen. Zum Beispiel in Warthe, dort, wo Fischer Peter Wolf sein Boot liegen hat. Das heißt, eines seiner Boote, mit denen sich „Vadder“ Rudolf um die Reusen im Achterwasser kümmert. Peter selber fischt meistens im offenen Meer. Manchmal nimmt er sogar Gäste mit auf seinen Kutter. „Die gucke ich mir aber vorher genau an“, will er gesagt haben. „Nicht, dass sie unterwegs anfangen zu jammern.“ Unabhängig davon: Wer in einer von Wolfs beiden Ferienwohnungen wohnt, hat eine Art Fisch-Flatrate, garantiert fangfrisch.
Ein paar Buchten weiter findet sich in Warthe auch kleines Hafenbecken, in dem ein paar Boote und ein Wassertreter vor sich hindösen. Wer das Achterwasser erobern möchte, lockert einfach die Leine, steigt ein und schippert los. Neben den Namen des Gefährts ist der Preis an die Bordwand gepinselt. Fünf Euro die Stunde. Am Wassertreter ist über die Sechs irgendwann mal eine Acht gekritzelt worden. Die Miete steckt man am Ende des Törns in eine olle Kassette, die als „Kasse des Vertrauens“ am Tor festgeschraubt ist.
Raum und Zeit zum Atemholen
Wer nicht in See stechen möchte, genießt im Hafen die Frühlingssonne; Strandkörbe und ein Dutzend bunt zusammengewürfelter Bänke animieren als Multi-Sitzgruppen dazu. Idyllische Unperfektheit. Stehen gebliebene Zeit. Und absolute Stille. Das ist der Lieper Winkel. Und all das potenziert sich außerhalb der Saison. Wer nicht in der Hochsaison kommt, schert sich auch kaum ums Wetter. Der sucht etwas. Den Luxus von Raum und Zeit und Atemholen.
Was nicht heißt, dass die Halbinsel allem anderen Luxus abgeschworen hat. Die für den hotelfreien Lieper Winkel typische Übernachtungsform sind Ferienhäuser. Meist waren es heruntergekommene Bauernhöfe oder Fischerkaten, die – von finanzkräftigen Unternehmern gekauft – äußerlich ihr altes Aussehen zurückbekamen und innen mit allem Komfort ausgestattet wurden. In Rankwitz fällt das Landhotel Lieper Winkel auf: brauner Backstein, weißes Holz; zum Hof hin ein moderner Anbau, alles Ferienwohnungen. Dort pinselt Karl-Heinz Treckmann die Gartenmöbel aus der Winterruhe, kritisch beäugt von seinem Hund Sam. Treckmann verwaltet rund zwei Dutzend nagelneuer Unterkünfte, nennt sich „Mädchen für alles“, eine Art Mittelding zwischen Hausmeister und Hoteldirektor. Jetzt im Frühling hat er noch Zeit für ein paar Handgriffe mehr und auch für ein Schwätzchen.
Der Zugereiste kennt inzwischen offenbar jeden Einheimischen der Handvoll Dörfer auf der Halbinsel. Und so weiß er zu empfehlen, wo man hingehen und wen man unbedingt kennenlernen muss: Zum Beispiel in den Tante-Emma-Laden an der Eiche, wo „Püppi“ – alias Gudrun Oberländer – von Erdbeerkonfitüre der Nachbarin über gelesene Liebesromane bis zu frischen Brötchen und der aktuellen Zeitung alles feilbietet und umverteilt, was der Mensch so braucht. In das Bonbonglas, das schon für die Alten des Dorfes eine süße Kindheitserinnerung ist, dürfen die kleinsten Kunden noch heute greifen. Zum Pilzeessen schickt Treckmann seine Gäste auf die andere Straßenseite in den Gasthof Rankwitz, zum Fischschmaus in den Alten Kahn nach Warthe. Souvenirs kaufen, so rät er, sollte man in der Keramikwerkstatt Dannegger in Morgenitz.
Wann die Saison wirklich lebhaft wird, hängt auch vom Wetter ab. „Es geht los, wenn die Anlage trocken ist“, verspricht Ferdinand Middeke, der Gastwirt des Storchennest, der in Reestow eine sogenannte Swin-Golf-Anlage betreibt, so eine Art Golf für jedermann, ohne Training, ohne Etikette. Womit er sonst noch lockt: Bratheringe, Kuchen mit eigenem Obst, selbst angesetzten Likör… Vom Wetter hängt auch ab, ab wann Bernd Reschke, der Kapitän des Ausflugsschiffchens „Alte Liebe“ zu einer mittäglichen Achterwasserrundfahrt aus dem Rankwitzer Hafen ausläuft, seinen Passagieren von Schifffahrt und Fischfang erzählt oder Seemannslieder abspielt.
Selbst wenn der Frühling kalt und stürmisch ist, gibt es im Lieper Winkel Ziele für kleine Ausflüge: Die gewaltige Suckower Eiche zum Beispiel, die bereits 1298 als Landmarke erwähnt wurde und die noch heute, inzwischen mit einem knorrigen abgestorbenen Drittel, am Eingang zur Halbinsel wacht. Oder die Kirchlein mit ihren rund ums Jahr geöffneten Türen. Zum Gotteshaus von Liepe führt ein von alten Linden überdachter Weg. Ein paar Touristen lehnen ihre Räder an die Friedhofsmauer und treten durch die offen stehende Tür. Einer liest vor: „Die Kirche in Liepe – ein turmloser Bau – wird 1216 erstmalig erwähnt. Sie ist damit die erste bezeugte Dorfkirche der Insel….“
Erstaunlich viel, womit man sich in der Stille des Lieper Winkels eine lange Weile beschäftigen kann. Ganz ohne Langeweile.