Spanien: Sieben Himmel für Allah
Christen veränderten die maurische Architektur. Andalusien hat einige Wunderwerke bewahrt. Und könnte das Erbe doch besser erschließen.
Das Bild gehört zu den Ikonen der Welt: Die Sierra Nevada leuchtet als weiße Wand gegen den blauen Himmel, und vor dieser alles überstrahlenden Wand steht die Silhouette der Alhambra, der Burg der Mauren. Diese Burg in Granada würde unter anderen Burgen nicht herausragen, wüsste man nicht, dass hinter ihren Mauern das schönste Beispiel islamisch-arabischer Kunst versteckt ist, das Europa kennt.
Was für ein Gegensatz: Karl V., in dessen Reich die Sonne nicht untergehen sollte, wollte auch auf dem Boden der Alhambra für die Ewigkeit bauen. Er presste in den Burgberg seinen Renaissancepalast, der gleich zwei Nachteile aufweist: Er passt nicht in die kleinteilige Architektur der Mauren, und er ist trotz seiner granitenen Wucht unvollendet geblieben. Gegen den Palast des mächtigen Kaisers erscheint die kleinteilige Welt der maurischen Anlage äußerst zerbrechlich. Es sind einfache, aus Ziegeln geformte Wände. Nur der viereckige Comares-Palast, ein noch nicht einmal in den Fluchtpunkten grade gemauerter massiger Turm, überragt die Innenhöfe mit ihren zahlreichen Gebäuden und Arkaden. Die Mauren verwendeten Ziegelsteine und Stuckaturen aus Gips – für den Verfall gibt es nichts Anfälligeres – während Granit Jahrhunderte überdauert. Aber betritt man einmal dieses Wunderwerk der Raumkunst, der Arkaden von durchbrochenen Hufeisenbögen und der Reliefs aus Ranken, Rhomben, Dreiecken und Rechtecken, so fällt das Erstaunen über die Vielfalt der Varianten umso mehr ins Gewicht, als der Islam bewusst auf Bilder verzichtet.
Die Wände ziert kufische Schmuckschrift, die Gewölbe prägt eine raffiniert gestaltete Geometrie von Sternen und herabhängenden Stalaktiten. Man begegnet einer Kunst, die keinen Anfang und kein Ende kennt und von der Ewigkeit Gottes auf eine ganz andere Weise kündet als die christliche, von Bildern, Figuren, Heils- und Märtyrermythen bestimmte Architektur. Vielleicht ist es ein Segen, dass es in Europa so wenige große Kunstwerke der Mauren gibt. So bewahrt die Seltenheit ihrer Gewölbekunst den Betrachter davor, sich ermüdet abzuwenden.
Welche Inspiration leitete die Mauren bei der Errichtung der Alhambra? Warum haben sie die Decken der beiden den Löwenhof flankierenden Säle der „Zwei Schwestern“ und des „Abencerragen“ als Gewölbe aus mehrfach gebrochenen Sternen gestaltet? Im Koran heißt es: „Segensreich ist der, der sieben Himmel übereinander geschaffen hat.“
Heute ist diese zerbrechliche Kunst der Alhambra durch den Ansturm der Massen gefährdet. Welterbe der Unesco und Touristenmagnet zugleich: In der Alhambra wird das Dilemma jeden Tag sichtbar: Die Spanier suchen den Kompromiss in einer Lenkung der Besucher. Die meisten Eintrittskarten sind nur noch im Vorverkauf zu erwerben – sie berechtigen nur zu einer festgelegten Stunde zum Eintritt. Ist diese Zeit verpasst, verfällt die Karte. Das ist für die spontanen Besucher zum Verzweifeln, sobald die wenigen frei verfügbaren Tageskarten vergriffen sind. Aber anders lassen sich die Massen durch die schmalen Gänge der Alhambra nicht durchschleusen.
Schließlich wollen die meisten Besucher auch noch fotografieren und auf den Bildern von der Alhambra filigrane Säulenarchitektur, Brunnenzauber und Gewölbekunst einfangen, aber nicht Touristen, die mit ihren schrillen Freizeitkleidern die Sicht verstellen. Wie schön ist die Spiegelung der maurischen Kunst im Myrtenhof ohne die Japanerin mit aufgespanntem Sonnenschirm und ohne den voluminösen Bauch eines 50-jährigen Spaghetti- oder Pommesvertilgers. Die Besuchszeiten sind neuerdings für jede Gruppe so bemessen, dass niemand hetzen muss. Weniger Touristen, aber mehr Eindrücke von der Kunst. Das war die Devise für die Neuorganisation.
Die spanischen Führer geizen nicht mit Hinweisen auf die Geschichte. Karl V. wollte weder in der Alhambra noch in Córdoba dem Drängen der katholischen Bischöfe nachgeben, deutliche Zeichen des Sieges der Reconquista über die maurischen Kunstwerke zu setzen.
In Sevilla sind von der großen maurischen Moschee nur noch Reste zu besichtigen: der Orangenhof und das unvergleichlich schöne Minarett. Dieser Turm konnte erhalten bleiben, musste aber die Krönung durch einen christlichen Glockenturm hinnehmen. Der Glockenturm trägt eine bronzene Statue, die eine Wetterfahne hält. Nach dieser Wetterfahne heißt der ganze Turm Giralda. An die Stelle der maurischen Moschee wurde ein riesiger gotischer Kirchenbau gesetzt. Er wirkt in seiner Masse eher bombastisch als beeindruckend. Hier hat die Reconquista sich selbst ein Denkmal gesetzt: eine Machtdemonstration durch schiere Größe.
In Córdoba blieb die große Moschee nicht unversehrt. Noch heute wird die Moschee, Mezquita genannt, weltweit bewundert. Sie wurde in der Zeit von 785 bis 966 als Symbol der Macht des Kalifats von Córdoba errichtet. Ihre Anziehungskraft auf die Touristen verdankt sie einem Wald von 856 Säulen meist antiken Ursprungs. Sie tragen die sandsteinfarbenen Hufeisenbögen mit ihren roten Quadern und beeindrucken den Besucher durch klare Fluchtlinien und verwirrende Binnenperspektiven. Höhepunkt der Gewölbekunst ist das Abbild des Himmels über den beiden Gebetsnischen des Mihrab.
Die christlichen Eroberer wollten dieses Wunder der Raumarchitektur mit einer Kirche ihres Stils übertrumpfen. Das hatten die Stadtväter von Córdoba jahrzehntelang verhindert. Doch dann überredeten die Bischöfe den jungen Karl V. dazu, mitten in den Säulenwald der Moschee eine Renaissancekirche zu setzen. 63 Säulen wurden aus dem Wald der Moschee gebrochen. Bis heute ragt die an ihrer Stelle errichtete Kirche wie ein Fremdkörper aus dem Säulenwald heraus.
Seitdem wird die Mezquita Kathedrale genannt, und spanische Touristenführer wagen es auch im Jahr 2008 noch nicht, von der Moschee zu sprechen, obwohl die Touristen aus aller Welt nicht wegen der Renaissancekirche nach Córdoba pilgern, sondern wegen des Säulenwaldes der Mezquita. Darunter viele Muslime, deren Frauen Kopftücher tragen.
Karl V. hat die erzwungene christliche Architektur später als barbarischen Eingriff in ein Wunderwerk gegeißelt. Sein Einspruch fand Aufnahme in die Geschichtsbücher: „Hätte ich gewusst, was das hier war, hätte ich nie gewagt, den alten Bau anzutasten. Ihr habt zerstört, was in der Welt einmalig war, und etwas hingestellt, was man überall sehen kann.“
Heute noch könnte man in Córdoba manches gutmachen, wenn sich die Kirche zur behutsamen Wiederherstellung der maurischen Architektur entschließen würde. Dann könnten zwölf statt nur drei große Holztore mit filigranen Lichtdurchbrüchen das Halbdunkel der Mezquita aufhellen. Aber neun dieser Tore sind zugemauert und zu Seitenkapellen umgestaltet worden. Seitenkapellen, die mit der Zeit teilweise den Charakter von Abstellkammern angenommen haben.
Historiker streiten darüber, ob die barbarischen Eingriffe der spanischen Eroberer mehr zerstört als bewahrt haben. Das Wort barbarisch ist durchaus angemessen, weil zum Zeitpunkt der Eingriffe die Araber gegenüber den Spaniern die höhere Kultur und die fortschrittlichere Wissenschaft repräsentierten. Andererseits bewahrten die Christen durch ihre Aneignung die maurischen Bauten in Granada wie in Córdoba vor dem Verfall oder totalen Abriss.
Auch nach dem Sieg über die Mauren ist die arabische Kunstfertigkeit nicht erloschen. Nach der Reconquista beauftragte der christliche Herrscher Peter der Grausame arabische Architekten und Kunsthandwerker mit dem Bau des Alcázar, des Palastes im Herzen von Sevilla. Eine kuriose Situation: Die Christen feierten den Sieg der Reconquista, und die Mauren schmuggelten in kufischer Steilschrift den Satz in den neuen Palast: „Es gibt keinen Sieger außer Allah.“
Es entstand ein neuer Stil in seiner Mischung aus arabischen Elementen mit denen der Renaissance. Dieser Stil ist unter dem Namen Mudejar in die Kunstgeschichte eingegangen. Er ist in Sevilla am reinsten in der Casa Pilatos zu besichtigen, einem Palast unweit des Altstadtviertels.
Noch ein weiteres Erbe haben die Mauren hinterlassen: die berühmten spanischen Gärten mit einem unvergleichlichen Reichtum an Blumen und Wasserspielen. Auch für die Schönheit dieser Gärten sind der Alcázar und die Casa Pilatos in Sevilla sowie in Granada der Generalife herausragende Beispiele.
Wer durch die Ebene des Guadalquivir fährt, den gelben Lößboden und die weiten Felder und Weiden vor Augen, der ahnt, dass die Reconquista nicht nur ein Glaubenskrieg gewesen ist. Die Spanier eroberten zugleich neues Ackerland und den bedeutenden Handelsplatz Sevilla. Die Mauren, die in Granada, Toledo, Ronda und Sevilla Altstadtviertel von außerordentlichem Reiz hinterlassen haben, wurden an den Rand der großen Ebene vertrieben. Die weißen Gebirgsdörfer, die heute zu Touristenmagneten geworden sind, waren ihre letzte Zuflucht. Was sich damals abgespielt hat, kommentierte der belgische Historiker Henri Pirenne in seiner „Geschichte Europas“ so: „Es war ein heiliger Krieg im vollen Sinne des Wortes: Das Ziel war nicht die Bekehrung, sondern die Ausrottung oder doch die Vertreibung der Mohammedaner.“
In Ronda erinnern maurische Bäder an die Vergangenheit. Ronda ist auf gewaltigen Felsbarrieren entlang einer tiefen Schlucht errichtet worden. Der Blick von dem Felsmassiv in die Ebene ist immer faszinierend, ob im Frühjahr, wenn rundum das erste Gelbgrün der Bäume an den Steilhängen in der Sonne leuchtet, oder im Herbst, wenn das Land braun verbrannt ist und im Licht der niedrig stehenden Sonne warm aufleuchtet. Im Herbst kehrt der Schnee auf die Berge der Sierra Nevada zurück, und in Granada ist wieder die Ikone Spaniens vor weißem Hintergrund zu besichtigen.
Uwe Schlicht
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