In den Rocky Mountains: Schnee kennt keine Grenzen
Colorado feiert sein größtes Skigebiet: Vor fünfzig Jahren wurde Vail gegründet. Von einem Tiroler.
Die Schneeraupe ruckelt den Berg hinauf, im feuerwehrroten Aufbau kullern Wasserflaschen und Skistöcke umher. Die Gäste wischen die beschlagenen Fenster frei, draußen gleißt der Schnee. Es ist bitterkalt in Colorado. Minus 23 Grad wurden am Morgen gemessen, in Fahrenheit. Minus 30 Grad Celsius werden uns gleich da draußen, hinter den Skibergen von Keystone, in die Glieder fahren. Wir können es kaum erwarten.
Kat-Skiing heißt diese Sportart. Schneeraupen bringen Skifahrer abseits der Pisten ins Tiefschneegebiet, so etwas wie Heliskiing für Arme. Wobei man allzu knapp bei Kasse auch nicht sein sollte, eine mehrstündige Ausfahrt kostet pro Person 240 Dollar. Unbezahlbar ist dennoch das Entdeckergefühl: im Schlepptau der Ski-Guides Spuren in frischen Schnee zu legen. Als wären wir die ersten Skifahrer in Colorados Bergen. Als wären wir Earl Eaton und Pete Seibert, „finder and founder“, Finder und Gründer von Vail, dem wohl bekanntesten Skigebiet zwei Stunden Autofahrt vom Flughafen Denver entfernt.
Bevor Lifte die Berge hinaufführten, holperte vor 50 Wintern auch Pete Seibert mit einer Kristi-Kat durch das künftige Skigebiet, dem Vorläufer heutiger Schneeraupen. Dass diese aussah wie ein Panzer, muss Seibert nicht gestört haben. Er und andere Gründungshelden von Vail gehörten der in Amerika legendären 10th Mountain Division an, vergleichbar den deutschen Gebirgsjägern. Diese trainierte in Colorado in Camp Hale, nur ein paar Bergketten entfernt, bevor sie in Italien in den Bergen der Emilia Romagna mit der Riva Ridge Operation das Ende des Zweiten Weltkriegs einläutete.
Auf mehr als 3000 Meter Höhe hält die Schneeraupe an. In den Rocky Mountains liegen schon viele Orte höher als der Gipfel der Zugspitze. Doch Jetlag-Delirium und dünne Luft können dem Hunger nach Skifahren nichts anhaben. Zunächst. Wir folgen den Skilehrern, stürzen steile Pulverschneehänge hinab, um schon bald hechelnd über den Skistöcken zu hängen. Tief atmen, weiterfahren. Keystone, Breckenridge, Beaver Creek und Vail selbst gehören zu den Vail Resorts, einem Verbund von Skigebieten, Hotels und Restaurants. In diesem Winter nun feiert sich Vail: 50 Jahre Skigebiet.
Pete Seibert junior, 58 Jahre alt, erinnert sich gut an die Zeiten, als hier alles begann, als sein Vater und ein paar Kumpels, Geschäftsfreunde und Skiverrückte aus Schafweiden ein Skigebiet machten. Die Gründungslegende geht so: An einem Tag im März 1957 befestigten Seibert und Eaton Klebefelle an ihren Ski und schnürten einen namenlosen Berg hinauf. In sieben Stunden machten sie knapp 1000 Höhenmeter. Oben zeigte sich, was wahrscheinlich noch kein Skifahrer zuvor gesehen hatte und was Seibert später als eine ganze Serie von Hängen, als „ein baumloses Universum von grenzenlosem Pulverschnee“ bezeichnete. Beide hatten sich als Weltkriegsveteranen beim Skifahren in Aspen getroffen. Sechs Jahre später hatten sie ihr eigenes Skigebiet abgesteckt.
„I hob an jeden gsogt, you must buy land“
Die Aufbruchstimmung, auch nach dem gewonnenen Krieg, muss beispiellos gewesen sein. Skibegeisterte und, besonders wichtig, Geldgeber strömten in die Region. Als hätte ein weiterer Goldrausch eingesetzt. War in einem Tal hinter Breckenridge 1887 der größte Goldklumpen Colorados gefunden worden, ein „Tom’s Baby“ genannter, sechs Kilo schwerer Nugget, so sollte nun der Schnee für Geldsegen sorgen. Doch erst einmal musste investiert werden. Pete und Earl, die skiverrückten Ex-Soldaten, trafen auf ihren dritten Mann, den „funder“, den mit der Geldidee.
George Caulkins kannte sich mit Erdöl aus, er importierte aus diesem Geschäft die Finanzierung. Sie wollten rund hundert Anteile für je 10 000 Dollar verkaufen. Dafür gab es je ein Grundstück in einem praktisch unbesiedelten Tal, umgeben von Wald und Nichts – und vier Skipässe auf Lebenszeit, für Lifte, die erst noch gebaut werden sollten. Eine gewagte Idee, die eher nach Hütchenspiel als nach seriösen Geschäften klingt, heute kaum vorstellbar.
Es funktionierte. Wenn auch im ersten Januar mal an einem Tag nur sechs Lifttickets verkauft wurden. „I hob an jeden gsogt, you must buy land“, sagt Pepi Gramshammer, 80 Jahre alt, von allen nur Pepi genannt. Gramshammer, gebürtiger Tiroler, war zu seiner Zeit in Österreich einer der schnellsten Skirennfahrer, aber zu einem Stammplatz im Nationalteam hat es nie gereicht. Bis heute trägt er einen Schmerz im Herzen. „Aussigworfen hams mi ausm Team, i hob ois gwunna ghabt – Chamonix, Kandahar“, sagt der alte Mann in aufloderndem Zorn und blitzend blauen Blicken.
Er sitzt auf der Eckbank im Gasthof Gramshammer, in „Pepi’s Stube“. Gramshammer redet gern mit den Gästen. Doch man merkt, er ist in keiner Sprache mehr richtig zu Hause. Er mischt Tirolerisch und Englisch mitten im Satz, mitten im Wort. Aber in Vail, da ist er dahoim. Die Schmach von damals quittiert der junge Gramshammer mit Auswandern. Er geht in die USA, wird Skilehrer, Profi-Skifahrer, gewinnt vieles und auch viel Geld. Jemand lockt ihn 1961 nach Vail, er bleibt.
Er habe das Potenzial sofort erkannt: „This is a great skiing place.“ Nur einmal hinauf auf den Berg, „da hab i gwusst, des wird wos, da hob i gor net denkn miassn“. Er kaufte „vui Grund“. Sie wollten ein Skisportgeschäft eröffnen, er und Sheika, seine Frau, gerade in Aspen kennengelernt und gleich geheiratet, Sheika, trotz des exotischen Namens Villacherin. Model sei sie gewesen. In Paris und New York. Es gibt Fotos von ihr, da versteht man, wie er ihr verfiel. Tänzerin in Vegas war sie auch. Sie ist noch immer an seiner Seite, unwirsch bringt sie neue Besucher zur Eckbank. „Zammen hamma ois derrissen“, sagt Pepi, und sieht in der grantelnden Dame noch das Pin-up-Girl von früher.
Raus auf die Piste
Wenn Gramshammer nicht über das österreichische Skiteam schimpft, ist er ein milder, alter Mann. „Die Leit warn olle so nett“, sagt er wieder und wieder. Jeder habe ihm geholfen, alle wollten, dass er bliebe in dem Tal oberhalb des Eagle Rivers. Ein Sportgeschäft konnten sie nicht eröffnen. Es gab schon eines, also bauten sie ein Hotel. Genauer: einen Gasthof. Auf das Wort legt er Wert. Und auf den Tiroler Adler, den er an die Fassade hat malen lassen und der rot in die Fußgängerzone von Vail glänzt. Pepi, was ist das Tolle hier in Vail? Der Schnee sei so besonders „weil’s so koid is“. Das mache den Champagne Powder, sagt Pepi. „We have very good schnow.“ Heimweh? Nein, niemals.
Dem Vail von damals war anscheinend eine magnetische Anziehungskraft zu eigen. Viele, die kamen, blieben. Viele würden vielleicht auch heute bleiben wollen. Aber zu Pepis und Petes Zeiten kostete ein kleines Haus 45 000 Dollar. Heute werden Einfamilienhäuser in Vail für neun Millionen Dollar verkauft.
Wir fahren zu den Backbowls, der Rückseite des Skigebiets, hier wird nichts präpariert. Hier sei immer noch alles so, sagt Pete Seibert, „wie mein Vater es damals gesehen hat“. Seibert fährt mit uns im Lift. Er ist Immobilienmakler, aber ab und zu muss er mal raus, auf die Piste. Die neue Gondel – mit Sitzheizung und W-Lan – ist der beste Einstieg, um schnell in die Backbowls zu gelangen, ins Blue Sky Basin. Wahrlich ein „baumloses Universum von grenzenlosem Pulverschnee“. Hinter uns und vor uns nichts als skitaugliche Hänge, endlose Buckelpisten, am Ende Waldabfahrten, Schneisen. Hier könnte man weinen vor Glück. Und vor Schmerz in den Oberschenkeln.
Riesig erscheint das Skigebiet. Und doch. In einem Lift zeigt Seibert mit dem Skistock in eine natürliche Schneise im Wald. Dort seien manchmal Skifahrer unterwegs. Wenn er einen Wunsch für Vail frei hätte: „Daraus sollte man eine Piste machen, und einen Lift dazu."
Und im Skigebiet des Goldgräberstädtchens Breckenridge, das von Denver aus am schnellsten zu erreichen ist, werden in diesem Sommer Holzfäller anrücken. Ein weiterer Berg wird erschlossen, Peak 6 soll im kommenden Winter das Gebiet um 163 Hektar Piste und zwei Lifts erweitern. Was tun, wenn die Interstate 70, eine der wichtigsten Ost-West-Straßen der USA und chronisch verstopft, den Ansturm nicht mehr schafft? Auch dafür haben die Vail Resorts Ideen in der Schublade: für einen Hochgeschwindigkeitszug von Denver nach Westen. 1976 sollten die Olympischen Winterspiele nach Colorado kommen – aber die Bürger stimmten aus Umweltschutz- und Kostengründen dagegen. Dessen ungeachtet lautet die Devise in den Skiresorts bis heute ganz olympisch: höher, größer, weiter.
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