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© Visum

Namibia: Nächster Halt: Düne 45

Im "Wüsten-Express" langsam durch Namibia. Das Land überrascht - nicht allein durch seine gewaltigen Ausmaße.

Ottilie hat ihren Verkaufsstand direkt auf dem Bahnsteig aufgebaut. Ihr Angebot ist recht übersichtlich. Es umfasst zwei Plastiktöpfchen mit Lutschern, ein Einmachglas voller Lakritzbonbons und eines mit Gummibärchen. Die Händlerin wartet vergeblich auf Kundschaft. Der Wartesaal im kleinen Bahnhof von Windhuk ist öd und leer. Dabei zählt Namibias Hauptstadt offiziell 250 000, inoffiziell sogar mehr als eine halbe Million Einwohner. In diesem Land fährt fast niemand mit dem Zug, heißt es. Außer ein paar Touristen.

Die besteigen ab und zu die regelmäßig eingesetzten Sonderzüge. Doch auch die knapp vier Dutzend Besucher aus Europa, die eben in zwei Bussen herangekarrt wurden, haben kein Interesse an Ottilies improvisiertem Kiosk. Nervös gehen sie am „Desert Express“ entlang, den sie für eine zwölftägige Rundreise durch das südwestafrikanische Land gebucht haben. Hektisch vergleichen sie die Namen der Waggons mit der Beschriftung ihrer Kofferschildchen. „Meerkat“, „Springbok“, „Oryx“ und „Kokerboom“ heißen die vier Schlafwagen, die je sechs Abteile mit jeweils drei Betten, eigener Dusche, Waschbecken, WC, Klimaanlage und Tresor umfassen. Mit auf die Reise gehen ferner ein Salon-, ein Bistro- und ein Konferenzwagen, in dem geraucht werden darf. Ein Waggon ist für das Begleitpersonal, einer für Gepäck und Generator. Auf keinen Fall zu vergessen: das rollende Restaurant, das nach der Welwetschia mirabilis, einer nur hier vorkommenden archaisch anmutenden Pflanze, benannt ist.

Irgendwann rumpelt die Bahn los, hält noch einmal kurz an, rollt weiter und nimmt gemächlich Fahrt auf. Das rhythmische Klopfen der Räder, das Stampfen der Lokomotive, das Klappern der Bettscharniere, die leise ächzende Holzverkleidung des Abteils – so klingt fortan die Melodie unserer Reise. Im Speisewagen herrscht bereits Hochbetrieb. Schließlich sind die Gäste seit dem frühen Morgen auf den Beinen, und lange vor Fahrtantritt hatte man ihnen außergewöhnliche kulinarische Spezialitäten in Aussicht gestellt: Carpaccio vom Springbock, Zebrasteaks, Schnitzel vom Strauß, Filets von der Oryx-, der Kudu- und der Elen-Antilope. Dazu kann man sich von George, dem einheimischen Barmann, feine Weine aus Südafrika oder nach deutschem Reinheitsgebot gebrautes Bier aus namibischer Produktion servieren lassen.

Trotz aller Annehmlichkeiten – der „Desert Express“ ist kein Luxuszug. Und das Programm der kommenden Tage alles andere als eine Erholungstour. Umso erstaunlicher, wer sich zur Teilnahme entschlossen hat: hauptsächlich Ruheständler, davon etliche in bereits vorgerücktem Alter, pensionierte Lehrer, Ärzte auf dem Altenteil, aber auch Handwerker und Angestellte. Viele von ihnen haben wohl nicht damit gerechnet, dass auf dieser Reise beinahe täglich um sechs Uhr früh der Wecker klingelt und bei den regelmäßigen Ausflügen in die staubig- heiße Natur erhebliche körperliche Strapazen in Kauf zu nehmen sind. Für alle Eventualitäten ist jedoch Horst Bunte, der Bordarzt, dabei.

Der „Desert Express“ ist kein Schnellzug. Mit höchstens 50, meistens aber wesentlich weniger Stundenkilometern schnauft er über die rumpeligen namibischen Gleise, so dass am Ende der Reise gerade einmal 2264 Schienenkilometer zurückgelegt sein werden. Viel mehr wären auch kaum möglich, denn das gesamte Schienennetz Namibias umfasst nur wenig mehr als 3000 Kilometer. Wohl auch aus diesem Grund wird die Fahrt häufig von ausgedehnten Standzeiten unterbrochen. Nachts, so versichert die Reiseleitung gleich zu Beginn, stehen die Räder gelegentlich still, damit die Gäste ruhig schlafen können.

Wer dennoch kein Auge zutut, kann sich am stets wolkenlosen Himmel erfreuen, nach dem „Kreuz des Südens“ Ausschau halten, die grandiosen, von sanftem Mondlicht beschienenen Landschaften betrachten. Auch tagsüber wird einem die Zeit im „Juwel der Wüste“, so der andere, weniger irreführende Name des „Desert Express“, nicht lang. Wie auf einer Kinoleinwand ziehen Steppen, Gebirge, ausgetrocknete Flusstäler, Lehmpisten und wenige, kaum befahrene Asphaltstraßen an den Panoramafenstern vorbei. Namibias Landschaften wirken menschenleer und viele Dörfer wie ausgestorben. Mit zwei Einwohnern pro Quadratkilometer zählt das Land zu den am dünnsten besiedelten der Erde. Auf einer mehr als doppelt so großen Fläche wie Deutschland leben nur gut zwei Millionen Menschen.

Um unmittelbaren Kontakt mit der namibischen Realität zu bekommen, muss man den Kokon seines Zugabteils verlassen. Dazu bietet sich am nächsten Morgen Gelegenheit. Unweit der Grenze zu Südafrika erreichen wir Hoolog, eine ehemalige Wasserstelle. Zwei Busse warten bereits. Sie bringen uns in einer knappen Stunde nach Hobas, ebenfalls kaum mehr als eine Haltestelle mit Toiletten und einem Andenkenladen. „Sonnenhut und Sonnencreme nicht vergessen! Und immer schön Wasser trinken!“, ermahnt uns Inge, unsere Reiseführerin. Ohne Eile spaziert ihre Gruppe bis an den Rand des Fish-River-Canyons. Die 160 Kilometer lange, bis zu 27 Kilometer breite und stellenweise 500 Meter tiefe Schlucht, das weltweit zweitgrößte Erosionstal nach dem Grand Canyon, zählt zu den bedeutendsten Naturwundern Afrikas.

Nach einem Abstecher in den Köcherbaumwald bei Keetmannshoop geht es im Zug zunächst zurück nach Norden. Dann mit dem Bus ab Mariental stundenlang Richtung Namib-Wüste. Wo der Tsauchab-Fluss im rostroten Sand versiegt, ohren- und augenlose Maulwürfe sich durch den lockeren Untergrund wühlen und morgens die Nebeltrinkerkäfer bei einem Kopfstand das Hinterteil in die Luft strecken, um die Tautröpfchen über ihren Rücken direkt in den Mund fließen zu lassen, verbringen wir zwei Nächte in der luxuriösen Sossusvlei-Lodge.

Während des abendlichen Wüstenpicknicks, beim Anblick des ungeheuer sternenreichen namibischen Firmaments, verstummen sogar jene Herrschaften aus der Gruppe, die sonst öfter mal etwas zu bemängeln haben. Am Morgen danach jedoch meckern sie gleich wieder los, über den kühlen Fahrtwind oder den Staub, den die offenen Jeeps bei der Fahrt durch die Namib, die älteste Wüste der Welt, aufwirbeln. Dabei führt die heutige Exkursion zu einer der berühmtesten und wohl am häufigsten fotografierten Dünen unseres Planeten. Wie eine Sandinsel erhebt sie sich aus der knochentrockenen Ebene, ihr rassiermesserscharfer Kamm zeichnet einen perfekten Schwung vor dem tiefblauen Himmel. Nur ihr Name klingt allzu prosaisch: Düne 45 – eine Bezeichnung, die daher rührt, dass man die ziegelroten, bis zu 300 Meter hohen Sandberge in der „großen Wasserfläche“, so die wörtliche Übersetzung von Sossusvlei, einfachheitshalber durchnummeriert hat.

Tags darauf liegen erneut viele Busstunden vor uns. „Thirsty? Hungry? Sleepy?“, fragen die Schilder am Rand der Piste, die auf Raststätten und Unterkünfte hinweisen. Die in der buckeligen Einöde verstreuten Farmen heißen „Rostock“ oder „Schlesien“, die höchsten Erhebungen Vogelfederberg und Gamsberg-Pass. Sie bieten Inge, der Südafrikanerin mit österreichischen Wurzeln, Gelegenheit zu ausführlichem Geschichtsunterricht an Bord. Dass Namibia von 1884 bis 1915 unter deutscher „Schutzherrschaft“ stand und sich die Kolonialherren zwischen 1904 und 1908 durch die blutige Niederschlagung der Herero- und Nama-Aufstände erhebliche Schuld aufluden, wussten ihre Gäste wohl schon vor der Reise. Verwundert jedoch sind sie darüber, wie viel aus dieser alles andere als glorreichen Vergangenheit bis heute überlebt hat.

Vor allem das Küstenstädtchen Swakopmund erinnert mit seiner Architektur, seinen Geschäften und der gängigen Alltagssprache an das einstige „Deutsch- Südwestafrika“. Endlich bleibt an einem der ansonsten straff durchorganisierten Reisetage ein wenig Zeit, sich von der Truppe zu entfernen und sich zwischen Apotheken, Metzgerläden und Buchhandlungen – allesamt mit deutschen Namen – die vom langen Sitzen steif gewordenen Beine zu vertreten. So flaniert dann jedes Pärchen, jeder Einzelreisende für sich durch die Bismarck-, die Linden- und die Lüderitzstraße, um am Ende auf ein kühles Bier im „Swakopmund Brauhaus“, in dem zu einem Luxushotel umgebauten wilhelminischen Bahnhof oder in der „Wernesgrüner Bierstube“ einzukehren. Jeder fünfte der 25 000 Einwohner im ehemals südlichsten Seebad des Kaiserreichs ist deutscher Abstammung.

Allmählich nähert sich der Höhepunkt jeder Namibia-Reise. Quer durch das Erongo-Gebirge und das Otavi-Hochland zieht die chinesische Diesellok ihre Last dem Etoscha-Nationalpark entgegen, dem größten Tierschutzgebiet des Landes, das sich über fast 23 000 Quadratkilometer erstreckt und damit beinahe halb so groß ist wie die Schweiz. Nach langer Fahrt ist die Station mit dem schlichten Namen „KM 72“ erreicht. Von hier aus geht es im Bus zum Lindequist-Tor, dem östlichen Eingang des Etoscha-Parks. Kaum ist die Einfahrt passiert, zeigt sich auch schon die lokale Fauna. Zunächst nur in Form putziger Dikdiks, einer extrem kurzbeinigen Antilopenart, die aus dem Schatten eines niedrigen Buschs hervorlugen. Dann eine Sippe schreckhafter Erdmännchen. Wegen der Tiere haben wir all die Mühen auf uns genommen – doch was ist mit Löwen, Leoparden, Elefanten, Nashörnern? Geduld, fordert die Reiseleiterin. „Die berühmten ‚Big Five‘ jedoch werden Sie nicht alle zu Gesicht bekommen, denn hier gibt es keine Büffel.“

Im Gegensatz zu anderen afrikanischen Parks, in denen die Touristen sich bei ihrer Suche nach Wildtieren oft tagelang gedulden müssen, sind entsprechende Begegnungen im Etoscha-Gebiet quasi garantiert. Besonders die zahlreichen Wasserstellen eignen sich vortrefflich zur Tierbeobachtung. Ohne den abgestellten Bussen und Jeeps auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken, nähern sich die Zebras, die eleganten Springböcke, die federnd herantrabenden Impalas, die Gnus mit den düsteren Gesichtern, die vorsichtigen Giraffen. Auch Elefanten, Warzenschweine, die großohrigen Kudus und die Oryx-Antilopen mit den gedrechselten Spitzhörnern stillen an den Trinklöchern in aller Ruhe ihren Durst. Nur manchmal sind auf Pirschfahrten auch die ängstlichen Schabrackenschakale oder Löwen zu beobachten.

Die Rückfahrt nach Windhuk bleibt einmal mehr wegen der Bilder und Szenen in Erinnerung, die sich jenseits der Zugfenster abspielen. Stundenlang rollen wir an den Zäunen privater Großfarmen entlang, wo die Tiere manchmal geradezu Spalier stehen: Giraffen, die sich genauso neugierig zeigen wie die Zuginsassen, Springböcke, die sich unter Schatten spendenden Bäumen versammelt haben, Paviane, die furchtlos über Stacheldraht turnen. Ein Mitfahrer glaubt, einer der Gesellen habe gewunken … Nun, es war auch eine anstrengende Reise.

Georges Hausemer

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