Die Swanen: Mutige Herzen
In Swanetien, der historischen Region Georgiens im Kaukasus, lebt ein dickköpfiges Bergvölkchen.
Und dann kommt auch schon ein Tänzer durch die Luft geflogen! Perfekt. Wir haben Mestia, den Hauptort Swanetiens, genau im richtigen Moment erreicht. Soeben beginnt auf dem kleinen Seti-Platz im Zentrum des Bergstädtchens, wo eine überdeckte Bühne aufgebaut ist, das regelmäßig stattfindende Folklorefestival für Schüler und Studenten. An zwei Tagen, jeweils drei Stunden lang, präsentieren jugendliche Gesangs- und Tanzgruppen aus dem ganzen Land, die in den Trachten der einzelnen Regionen gekleidet sind, einem begeisterten Publikum ihr Repertoire. Man kann gar nicht mehr wegschauen, will gar nicht mehr weghören.
Der fliegende Tänzer und seine Truppe hatten keine lange Anreise. An den weißen, zotteligen Fafaxi-Schafwollmützen erkennt man den talentierten Nachwuchs als waschechte Swanen, die als traditionsbewusstes und stolzes, manche Nicht-Swanen sagen auch: dickköpfig-verbohrtes Bergvölkchen gelten. Es heißt, sie seien den Urgeorgiern am ähnlichsten, nicht nur wegen ihrer legendären Trinkfestigkeit. Jedenfalls waren die Siedler von der südlichen Seite des Großen Kaukasus schon in der Antike nicht nur als tapfere Krieger, sondern auch als vorbildliche Gastgeber über die Grenzen ihrer abgeschiedenen Hochtäler hinaus bekannt. Und bis heute sprechen sie eine Sprache, die nicht einmal die übrigen Georgier verstehen.
Wie stur die Swanen mitunter sein können, durfte Tamuna Dschaparidse unlängst wieder beobachten. Die junge Frau, Jahrgang 1983, lebte und studierte mehrere Jahre in Deutschland. Keine schlechte Zeit, aber eines Tages wurde das Heimweh einfach zu groß: „Kein Swane hält es lange in der Fremde aus.“ Also beschloss sie, an ihren Geburtsort und zu ihrer Familie zurückzukehren und in Mestia ein Lokal zu eröffnen, „in einer der, wie nicht nur die Einheimischen finden, schönsten Regionen der Welt“.
"Wir haben alle dasselbe Blut"
Ihr Café Laila ist nach einem Berg in der näheren Umgebung benannt und liegt schräg gegenüber jenem Monument, das die Toleranz der lokalen Bevölkerung vor Kurzem auf eine harte Probe stellte: Königin Tamar auf dem Pferd, ein Werk des georgischen Bildhauers Vascha Melikischwili. Der Sockel des Denkmals ist mit dem islamischen Halbmond, dem Kreuz der Christen und der Menora, dem siebenarmigen jüdischen Leuchter, verziert. Doch weder diese religiösen Symbole noch die Inschrift „Wir haben alle dasselbe Blut“ waren der eigentliche Stein des Anstoßes.
In Georgien leben Anhänger der verschiedensten Glaubensrichtungen seit jeher friedlich zusammen. Den Ärger verursachte vielmehr die Statue selbst. „Sie ist zweifellos von hohem künstlerischen Wert“, findet Tamuna, „aber man darf nicht vergessen, dass Tamar für die Georgier eine Heilige ist. Und Heilige werden seit jeher auf Ikonen dargestellt.“
Weil Melikischwili bei seiner Darstellung der innig verehrten Königin diesen Aspekt nicht berücksichtigte, sondern sich für eine ausgesprochen moderne, äußerst eigenwillige Interpretation jenseits realistischer Proportionen entschied, kam es vor und auch noch nach der Enthüllung 2012 zu heftigen Protesten. „Die Menschen gingen auf die Straße, um gegen die Skulptur zu demonstrieren“, erinnert sich Tamuna. „Genützt haben die Kundgebungen zwar nichts, aber zumindest haben die Einheimischen den Politikern in der Hauptstadt deutlich gemacht, dass sie das Tamar-Denkmal in Mestia für einen Skandal halten.“
Uschguli ist Einsamkeit
Nicht der umstrittenen Statue, sondern vorwiegend der umliegenden Berge wegen kommen die meisten Besucher nach Mestia: Uschba mit seinem doppelten Gipfel, der pyramidenförmige Tednuldi, nicht zuletzt Schchara, mit 5200 Metern der höchste Berg Georgiens – Namen, die bald auch in den Ohren jener Reisenden zu klingen beginnen, die nichts mit Trekking oder gar Alpinismus am Hut haben. Vielleicht weil Mestia, zwischen 2009 und 2012 umfassend aufgehübscht, ihnen als Zwischenstation auf ihrem Weg nach Uschguli dient.
Uschguli ist Einsamkeit. Der Name bedeutet: mutiges Herz. Das ist auch nötig, denn der Ort auf 2200 Metern über dem Meeresspiegel gilt als das am höchsten gelegene ständig bewohnte Dorf in Europa – wenn man Swanetien und den Großen Kaukasus noch zu Europa zählt. Hier zu leben erfordert Courage. Im benachbarten Tuschetien gibt es wohl noch ein paar höher angesiedelte Weiler. Aber dort machen die extremen Lebensbedingungen ein Überwintern völlig unmöglich.
Von Mestia nach Uschguli sind es nur wenig mehr als 40 Kilometer. Doch selbst im allradgetriebenen Geländewagen braucht man fast drei Stunden. Solange die Straße asphaltiert ist, liegen mit Vorliebe Kühe, Pferde und Schweine auf dem warmen Belag. Doch bald schon windet sich nur noch eine schmale Schotter- und Geröllpiste in weiten Serpentinen an den Berghängen hinauf.
Die Swanen waren lange unbesiegbar
Nach endlosen Kurven und vielen grandiosen Ausblicken rücken die steinernen Türme von Uschguli ins Bild. Archaisch wirkende Bauten, die eine so beeindruckende Silhouette ergeben, dass man sie seiner Lebtag nicht mehr vergessen wird. Manche der rund zwanzig Meter hohen, drei- bis fünfstöckigen Gebilde sind 1000 Jahre alt.
Einst zogen sich die Bewohner zum Schutz vor Kälte in diese mittelalterlichen Hochhäuser zurück. Sowie vor allem, wenn sie, was nicht selten vorkam, von nordkaukasischen Stämmen angegriffen wurden. In den äußerst stabilen Wehrtürmen konnten sie nicht nur Lebensmittel aufbewahren, um der Belagerung so lange wie möglich zu trotzen. Von der obersten Etage aus hatten sie zudem optimale Möglichkeiten, um sich mit Steinen und Pfeilen gegen die anstürmenden Feinde zu verteidigen.
Mit Erfolg, denn bis ins späte 19. Jahrhundert, bis zur Ankunft der Truppen des russischen Zaren, so erzählen die Swanen stolz, gelang es niemandem, ihre Heimat einzunehmen, nicht einmal den berüchtigten Reitern aus der Mongolei.
Uschguli bleibt vom Fortschritt nicht verschont
Heutige Wehrturm-Besucher kommen zu Fuß. Die Jeeps und Kleinbusse der Touristen müssen am Dorfrand parken. In den schmalen, mit Schlamm, Schiefersteinen und Kuhdung eher dürftig gepflasterten Gassen käme man motorisiert sowieso keinen Meter voran. Aber auch Uschguli bleibt vom Fortschritt nicht verschont. Lange waren die Dörfer und Täler Swanetiens weitgehend isoliert, vergessen und nur äußerst mühsam zu erreichen.
Inzwischen haben die georgischen Fremdenverkehrsverantwortlichen begriffen, welche Anziehungskraft von den unvergleichlichen Landschaften, den eigenwilligen und zugleich ausgesprochen gastfreundlichen Menschen im gebirgigen Landesnorden ausgeht. In Uschguli bieten mittlerweile ein Dutzend Familien in ihren Häusern Fremdenzimmer an, servieren auf ihren privaten Terrassen Getränke und kleine Mahlzeiten. Neue Unterkünfte und Gaststätten sind im Bau.
Wie lange sich das Dörfchen, das inzwischen zum Unesco-Weltkulturerbe zählt, noch ein gewisses Maß an Authentizität bewahren kann, weiß niemand zu sagen. Eigentlich waren schon für 2013 ähnliche Modernisierungsmaßnahmen wie in Mestia vorgesehen, doch bislang ist es bei den Ankündigungen geblieben. Zum Glück, werden die auf Ursprünglichkeit und Unverfälschtheit erpichten Fremden sagen. Leider, wie die Einheimischen möglicherweise bedauern. Auch sie möchten, so ihr verständlicher Wunsch, endlich im 21. Jahrhundert ankommen und von den Annehmlichkeiten der neuen Zeit, die nun auch Georgien erreicht hat, profitieren. Das altbekannte Dilemma.
Georges Hausemer