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Montréal: Metropole der Küsse

Das kanadische Montréal gilt in Nordamerika als europäisch – und macht auch durch kluge Einwanderungspolitik von sich reden,

Bloß keine Witze über den königlichen Berg machen. Da ist Ruby empfindlich. Der „Mont Real“, von dem die kanadische Metropole ihren Namen hat, ist zwar nur 233 Meter hoch. Doch er ist Garant für die Sonne, die der gebürtigen Montréalerin so wichtig ist. Kein Gebäude in Montréal darf höher sein als der Berg, den Jacques Cartier 1535 mithilfe der dort ansässigen Irokesen fand. Bei 51 Stockwerken ist in dieser Stadt also das Ende der Fahnenstange erreicht. Das bedeutet, dass die Straßen auch im Winter schön sonnig und nicht allzu zugig sind. Trotzdem sieht man heute vom königlichen Berg aus eine moderne, maßvolle Skyline und dahinter Wasser und Himmel.

Ruby Roy ist indisch-ägyptisch-italienischer Herkunft und liebt ihre Heimatstadt am St-Lorenz-Strom sehr. Regnet es mal, spricht sie von „flüssigem Sonnenschein“. Für sie ist Montréal die Insel, die aussieht wie ein Schokoladen-Mandel- Croissant. Oder wie ein Kuss. „Wir küssen hier sehr viel“, sagt sie.

Künftig wird die Eventmanagerin rund ums Jahr mehr zu tun haben. Denn nach jungen qualifizierten Zuwanderern, die sich zum Beispiel in der Cité du Multimedia ansiedelten, zieht es neuerdings auch mehr Touristen ins Land. Noch in den 50er und 60er Jahren war Montréal eine relativ verschlafene Stadt, die in anderen Gegenden des Landes fast ein rückständiges Image hatte. „Es war ein bisschen wie Irland, die Leute bekamen viele Kinder, die katholische Kirche hatte großen Einfluss“, erzählt Bard Nordy, Sohn skandinavischer Einwanderer, der im Tourismusministerium arbeitet. Seit Ende des 17. Jahrhunderts wurde der Kinderreichtum gezielt gefördert, zum Beispiel mit der Aussicht auf eine Gratisausbildung für das jeweils 21. Kind einer Familie.

Die Weltausstellung 1967 und die Olympischen Spiele 1976 brachten erste Glamourschübe. Aber vor allem die kluge Einwanderungspolitik, die nach einem Punktesystem gezielt solche Menschen anzieht, die wirklich gebraucht werden, hat dazu geführt, dass in den zurückliegenden 20 Jahren neue Wirtschaftszweige aufblühten. Hightech-Unternehmen siedelten sich an, weil hier gut ausgebildete Computerfachleute leben, es gibt eine aufstrebende Filmindustrie und eine lebhafte Designergemeinde. Montréal ist die größte französischsprachige Stadt außerhalb Frankreichs. Das prägt den Lebensstil.

Früher kamen vor allem US-Amerikaner auf der Suche nach einem Stück Europa auf ihrem Kontinent. Sie naschten von dem hier reichlich vorhandenen, in den USA verbotenen Rohmilchkäse und tauchten ein in die zauberhafte Welt der Schokoladenläden, in denen wunderbare Frauen wie Laurence mit gerüschten Schürzen köstlichen Trinkkakao aus Milch und Schokolade anrühren. „La Belle“, wie Montréal in der Provinz auch genannt wird, legt großen Wert auf exquisites Essen. Die Märkte hier, zum Beispiel der Jean Talon, strahlen mediterrane Sinnlichkeit aus. Die Äpfel aus der Region sind exzellent. Und die Baguettes in den duftenden, stimmungsvollen Boulangeries sind bestimmt die besten außerhalb Frankreichs. Europäisches Savoirvivre auf dem amerikanischen Kontinent, das fasziniert zunehmend auch Argentinier und Brasilianer, die den Schnee lieben und die komplizierten US-Einreiseprozeduren gern meiden möchten.

Auch die Zahl der europäischen Besucher wächst. Lufthansa fliegt in diesem Winter erstmals täglich von München aus nonstop in die kanadische Metropole. Sicher kam dieses Angebot auch zustande, weil sich große Unternehmen die Verbindung für ihre Mitarbeiter wünschten. Wintertouristen profitieren davon mit Angeboten in der Touristenklasse.

Montréal und Umgebung bietet vor allem auch für solche Winterfans Sportmöglichkeiten, die nicht nur Ski fahren wollen. Die Provinz Québec verfügt allein über 33 000 Kilometer präparierte Wege für Schneemobile. Auch Hundeschlittenfahrten und Schneeschuhläufe in der Mittelgebirgslandschaft der Laurentinischen Berge nördlich von Montréal sind beliebt. Schlittschuhläufer finden bereits in der Stadt Alternativen zu vertrauten Seen. Ruby liebt besonders den Alten Hafen und den Mont Réal Parc für den Tanz auf dem Eis.

Besucher interessieren sich vielleicht zuerst für einige der 600 Kirchen. Ein Muss ist die Basilika Notre Dame. Die Kirche birgt eine der größten Orgeln der Welt und ist berühmt für ihre gute Akustik.

Doch sobald die Mittagsglocken läuten und spätestens wenn die Abendsonne verglimmt, gerät man in den Sog weltlicher Freuden und also in den Bann der rund 6000 Restaurants. Da geht es eigentlich immer lebhaft zu, man fragt sich, ob hier überhaupt jemand zu Hause isst. „Doch, doch“, versichert Ruby. Schon mit Einkäufen für rund elf Dollar (umgerechnet acht Euro) auf dem Markt könne man eine Familie auf angenehme Weise satt bekommen.

Immer wieder geht sie auf die Gemeinsamkeiten mit Berlin ein. Montréal vergleicht sich mit Berlin offenbar so gern, wie sich Berlin immer mit New York verglichen hat. Zeitgleich mit Berlin und Buenos Aires wurde Montréal 2006 zur ersten „Unesco City of Design“. Es ist die Stadt der Radfahrer, der jungen Modedesigner, der Kreativen, es ist die Stadt mit der multikulturellen Gesellschaft. Auch hier gibt es eine Integrationsdebatte. „Aber längst nicht so ausufernd wie in Frankreich“, sagt der junge Hoteldirektor Jacques Lapierre. Die frankofone Provinz Québec hat das Punktesystem auch genutzt, um gezielt französische Muttersprachler anzulocken. Allein im vergangenen Jahr zog es etwa 50 000 Ausländer in die Provinz. Die meisten ließen sich im Großraum Montréal nieder. Rund ein Drittel sind Muslime aus den Maghreb- Staaten. Zwar wächst das Problembewusstsein, aber die Debatte verläuft weitaus gelassener als in Deutschland.

„Schließlich kommen wir alle aus unterschiedlichen Ländern“, sagt Ruby. Auch für Bard Norby ist die Anpassung an die neuen Lebensumstände, die alle in der jungen Metropole ansässigen Familien irgendwann durchmachen mussten, der entscheidende Unterschied zu Ländern wie Deutschland.

Den fruchtbaren Jahren folgte in der dünn besiedelten Provinz ein Einbruch der Geburtenraten. Nun wird der drohenden Überalterung der Gesellschaft gezielt entgegengewirkt. Einwanderer sind zwischen 23 und 35 Jahre alt, haben Abitur oder einen vergleichbaren Schulabschluss und mindestens sechs Monate Berufserfahrung. Immigranten werden sofort in die Kranken- und Sozialversicherung aufgenommen.

In der Umgebung des Hafens kann man ausgiebig studieren, was das besondere Lebensgefühl Montréals ausmacht. Im Museum Pointe-à-Callière bekommen die Besucher Montréals einen ersten Einblick in die Geschichte der Stadt. Besonders hübsch ist die Dauerausstellung „Montréal Love Stories“, die zeigt, wie Integration auf angenehme Weise gelingen kann: durch Hochzeiten und gemeinsame Feste. „In Montréal leben heißt, die Welt in der Nachbarschaft zu haben“, lautet ein stolzes Motto, dem man dort begegnet. Einwanderer aus asiatischen und europäischen Ländern erzählen ihre Biografien.

Das Zusammenleben mit den Irokesen klappte zwar nicht so kampflos und friedlich, wie sich die frommen Pioniere das ursprünglich vorgenommen hatten. Letztlich entstand jedoch ein blühender Handel, der bis heute ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist. Linda, Pelzverkäuferin in der Rue St. Paul, sagt, dass auch heute europäische Pelzhändler nicht an Montréal vorbeikommen. Wegen der Alliteration verfällt sie ausnahmsweise (!) ins Englische: „Fun, Fur and Food“, das seien die Spezialitäten der Stadt, Spaß, Pelze und eine der besten Küchen Nordamerikas.

Als Einkaufsziel ist Montréal für Individualisten und Nostalgiker interessant, die sich weder mit den glitzrig-gigantischen Flaggschiffläden anfreunden können noch die immer gleichen Kettenfilialen mögen. Mehr als anderswo findet man kleine Boutiquen mit einem individuellen und eher preisgünstigen Angebot. Der Sinn für den ganz persönlichen Schick ist sichtbar ausgeprägt in diesem frankophilen Umfeld. Wer im Winter den Einkaufsbummel an der frischen Luft zu kalt findet, kann sich in die „wetterfeste Stadt“ zurückziehen. So nennt Ruby die unterirdischen Malls zwischen den U-Bahn-Stationen und Hotels. Mehr als 30 Kilometer Länge haben sie.

In Québec hält man das französische Erbe hoch, zumal das Angenehme: den Wein, den Käse, die Schokolade – die Lebensart halt. Wer hierherkommt, kann verstehen, eben weil es vergleichsweise beschaulich zugeht, wie diese neue Welt zustande gekommen ist. Bei einem Spaziergang durch Westmount wird er sich in wohlhabende englische Städte versetzt fühlen. Während die französischen Katholiken lange vor allem im sozialen Bereich tätig waren, machten die Engländer gutes Geld im Pelzhandel. Das heutige Montréal handelt davon, einen lebenswerten Raum zu öffnen für Menschen aus aller Welt, die sich auf dieses am St. Lorenz konservierte Savoir-vivre einlassen wollen. Als Lebensgefühl kommt dabei gemächlich-elegante Lässigkeit heraus.

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ANREISE

Lufthansa fliegt von München nonstop ab 399 Euro.

ÜBERNACHTEN

Hotel Opus Montréal (10, Sherbrooke Ouest); sympathisches, junges Hotel mit angesagtem Club, exzellenter asiatische Küche, modernem Design; Doppelzimmer ab 209 Can-Dollar (etwa 145 Euro)

RESTAURANTS

Leméac (1045 Laurier Quest); lebhaftes, elegantes Bistro mit französisch eingefärbter Küche;

Chez L’Épicier (311 Rue Saint Paul Est); stimmungsvoll, exzellente Fisch- und Hummergerichte

SHOPPING

Indianica (79 Rue Saint- Paul); geschmackvolles Kunsthandwerk aus der Tradition der Indianer und Inuit;

La Maison Cakao (5090 Rue Fabre / Ecke Laurier); feine Pralinen

SOUVENIRS

Alles, was mit Ahorn zusammenhängt. 90 Prozent der Weltproduktion kommt aus Kanada, 85 Prozent davon aus Québec. Neben Sirup gibt es Kekse, Schokolade und – Salz mit Ahorn.

WINTERSPORT

Im eislaufverrückten Kanada finden sich Eisbahnen fast überall; Skilaufen am Mont Tremblant hingegen müssen ambitionierte Europäer nicht haben.

AUSKUNFT

Destination Quebec, Telefon: 057 33 / 96 22 40,

im Internet unter:

www.bonjourquebec.com

Elisabeth Binder

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