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Uruguay
© Tsp

Uruguay: Melancholie auf Samt

Geographisch liegt Uruguay in Südamerika. Doch mit seinen Nachbarn Argentinien und Brasilien hat es wenig gemein. Das Land ist so still.

Dieses Land muss unter Platzangst leiden. Eingeklemmt liegt Uruguay zwischen Brasilien und Argentinien, wird von ihnen gegen die Gestade von Rio de la Plata und Atlantik gedrückt. Von oben besehen hängt das kleine Land wie ein wackeliger Milchzahn im Kontinent und sieht dabei aus, als müsse es in ständiger Panik leben, von den großen Nachbarn ins Wasser geschubst zu werden.

An Selbstbewusstsein mangelt es trotzdem nicht. Von anderen hat sich das Land nie stark beeindrucken lassen. Nicht von dem lauten Übermut und der Lebensfreude Brasiliens. Und schon gar nicht von der stolzen Überheblichkeit, die man den Argentiniern nachsagt. „Uruguay“, sagt einer, der viele Jahre seines Lebens hier verbracht hat, „ist ein sehr konservatives Land.“

In der Tat: Konservieren, behüten, bewahren – darauf legt man in Uruguay viel Wert. Ein Streifzug durch Montevideo gerät so zur Reise in die Vergangenheit: Altersschwach, jedoch haltbar rumpeln 60er-Jahre-Autos von einem Schlagloch ins nächste. In dunklen Bars empfangen Kellner mit Schnauzbart und weiß gestärkter Schürze den Gast. So verschwiegen wirken sie, dass man ihnen Geldnöte anvertrauen möchte, Kapitalverbrechen, die niemals ans Licht gekommen sind, oder Seitensprünge. Man trinkt zwischen Nierentisch, spinatgrünen Vorhängen und Holzfurnier. In Berlin-Mitte wäre das Retro, in Uruguay ist es ernst gemeint: In diesem Land stehen die Uhren still. Zugegeben: wohl eher aus der Not heraus.

Dabei zog Uruguay aufgrund seiner strategisch so bedeutsamen Lage Fremde immer magisch an. Die Lage an der Mündung des Rio de la Plata in den Atlantik bewog den spanischen König im Jahre 1726 dazu, seinem Stellvertreter in Buenos Aires die Gründung einer Stadt zu befehlen. Schnell wurde Montevideo zu einem der wichtigsten Häfen Südamerikas.

Heute hat hier die südamerikanische Handelsgemeinschaft Mercosur ihren Sitz. Containerschiffe legen an und ab, verbinden die Stadt mit der Welt. Mit 1,3 Millionen Einwohnern ist Montevideo das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum eines Landes, das immerhin etwa so groß ist,wie Estland, Lettland und Litauen zusammen. Dennoch: Montevideo, das „Brüssel des Südens“, schläft, schläft tief und fest im Schatten der großen Schwester Buenos Aires, der Weltstadt, die gut hundert Kilometer die breite Mündung des Rio de la Plata flussaufwärts blitzt und funkelt.

In Montevideo dagegen gleiten selbst zu Stoßzeiten an Arbeitstagen die Autobusse im Leerlauf von einer Kuppe des Hügels zur nächsten – so als seien sie nicht zum Transport von Menschen da, sondern als gälte es, möglichst geruhsam eine Besichtigungstour zu machen. Die eigenwillige Spritsparmethode würde in allen anderen Hauptstädten der Welt zu wütenden Aufständen führen – in Montevideo nicht. Menschen, die in Eile sind, sieht man kaum. Ebenso wenig wie Werbung etwa großer Modemarken, die in Rio prangt, in Buenos Aires, in Paris und in Berlin. Montevideo kennt keinen Stress, keine Menschen, die mit iPod und Freisprechanlage verdrahtet zur Arbeit hetzen, kein Schönheitsdiktat. Gestressten Europäern gefällt das. Uruguay bietet das Gefühl, Schritt halten zu können mit sich und der Zeit.

Der Preis, den die Menschen dafür zahlen, ist eine gehörige Prise Melancholie. Besonders an Sonntagen wirkt das Land wie ausgestorben, vor allem jedoch Montevideo. Auf der Suche nach etwas Essbarem streift Jack, ein Rucksacktourist aus Australien, durch die Straßen dieser Hauptstadt im Tiefschlaf. „So habe ich mir immer Sarajevo nach den Bombenangriffen vorgestellt“, sagt er und schaut ein wenig hilflos aus seinen großen brauen Augen, „wo sind die bloß alle?“ In der Kirche? Nicht unbedingt.

Uruguay ist von einem Laizismus geprägt, der auf der Welt seinesgleichen sucht. Das Weihnachtsfest ist offiziell der „Tag der Familie“, am Dreikönigstag werden die Kinder gefeiert und Maria Empfängnis wurde irgendwann in den „Día de la Playa“, den Strandtag, umfunktioniert. Religion ist Privatsache. Am Sonntag trifft man sich mit der Familie, meidet den öffentlichen Raum. Oder man besucht das wohl liebenswerteste Schauspiel, das Montevideo zu bieten hat: den Markt von Tristan Narvaja. Sorgsam auf Samtdecken ausgebreitet, werden an jedem Sonntag zwischen acht und 16 Uhr unweit der Universität der Republik Habseligkeiten vertickt: nahezu blinde Spiegel und uralte Amulette, lila Jogginganzüge, Klobürsten, ein paar rostige Schrauben und krumme Nägel, Liebesbriefe aus der Nazizeit. Die uruguayische Art der Gegenwart hält die Vergangenheit fest umklammert. Weggeworfen wird nicht. Aus Prinzip.

Was für das Privatleben gilt, das gilt auch für den Staat. Das traditionelle Modell des vorsorgenden Nationalstaats durchtränkt das Leben und Denken in Uruguay wie Wasser einen Schwamm. Erst vor Kurzem haben sich die Uruguayer erfolgreich dagegen zur Wehr gesetzt, staatliche Einrichtungen wie Post oder Telefon nach dem Vorbild Argentiniens zu privatisieren. Uruguayer sind skeptisch gegenüber solchen Moden. Überall wo gewartet wird, muss man Nummern ziehen. In der Bank, beim Bäcker, an der Käsetheke im Supermarkt.

Von der hohen Kriminalität und sozialen Ungerechtigkeiten, mit denen Brasilien und Argentinien zu kämpfen haben, ist Uruguay weit entfernt. Montevideo gilt als eine der sichersten Hauptstädte der Welt. Die Korruption ist niedrig. Doch offenbar macht Sicherheit allein nicht glücklich. Wo auch immer man nachfragt, wird geklagt: „Das Leben ist viel zu teuer geworden“, schimpft Mariana, die mit drei vergilbten Waschmaschinen in einem feuchten Ladenlokal der Altstadt von Montevideo eine Wäscherei betreibt. „Unsere Jugend hat die Werte verloren“, sagt der Lehrer Gustavo, der heute auf der Straße Zeitungen verkauft.

„Wir sind bald ganz unten angelangt“, sagt Pablo, der Ingenieur, der in Deutschland studiert hat. Er steht an der Kaimauer im Hafen in der Sonne. Unter der dunkelblauen Bommelmütze schaut er einem der vielen Pferdegespanne hinterher, die die Straßen von Montevideo beleben. Ein schwitzendes Pferdchen, das einen Bretterverschlag mit Plastikbeuteln hinter sich herzieht, der auf die Achse eines Autos geschraubt ist – ein Schuppen auf Rädern. Mit solchen Karren fahren die Armen die Straßen von Montevideo ab, auf der Suche nach Brauchbarem im Abfall.

Uruguay hat die höchste Selbstmordrate Amerikas. Das könnte daran liegen, dass man sich hier noch zu gut daran erinnern kann, wie schön es war, Avantgarde zu sein. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als sie die Indianer ausgerottet hatten, mauserte sich Uruguay zum blühenden Einwandererland. Italiener kamen, Spanier, Portugiesen, später auch Schweizer und Deutsche. Fachkenntnisse in der Landwirtschaft brachten sie mit, Pioniergeist, Erspartes sowie einen Sinn für Boheme und Kaffeehauskultur.

Uruguay hatte das erste Theater Lateinamerikas. Die „Schweiz Südamerikas“ wurde das Land genannt. Uruguay war einer der ersten Staaten der Welt, in denen Frauen sich scheiden lassen und zur Wahl gehen durften. Uruguay wurde zwei Mal Fußballweltmeister, 1930 und 1950. Es gab eine Zeit, da war Uruguay eines der fortschrittlichsten Länder der Welt.

In Montevideo sind die Überreste dieser Pracht noch zu besichtigen. Französisch anmutende Parks und hochherrschaftliche Häuser mit Paternoster. Der Mercado del Puerto vor allem ist Sinnbild „der guten alten Zeit“ – eine prächtige Markthalle am Hafen, deren Stahlkonstruktion man sich im Jahre 1865 in Liverpool schmieden ließ. Hier wird das köstlichste Rindfleisch auf dem offenen Holzgrill zubereitet. Der Rücken, die Lende, die Bauchspeicheldrüse, die Haxe, der Schwanz. In Mengen, für die eigentlich eine Geste der Entschuldigung an die Rinderwelt fällig wäre. Dazu fließt der Rotwein aus der Tannat-Rebe in Strömen. „Die Fleischindustrie“, sagt Stadtführer Luis, „war für Uruguay damals der Schlüssel zu Fortschritt und Wohlstand.“

Ende der 60er Jahre war das vorbei, für Uruguay begann der Anfang vom Ende. Preisverfall beim Rindfleisch und steigende Erdölpreise waren ein Schock für das Land. 1973 übernahm das Militär die Macht. Freie Parlamentswahlen gab es erst wieder 1984. Nur der Aufschwung blieb bis heute aus. Graue Betonplatten beherrschen in Montevideo das Bild. Viele Tage im Jahr sind die Regale im Supermarkt gähnend leer. „Mein erster Gedanke war“, sagt Jan Woischnik, der 2001 für die Konrad-Adenauer-Stiftung nach Uruguay kam, „eine Art DDR mit viel Strand.“ Und ganz ähnlich wie die DDR in ihren letzten Zügen leidet auch Uruguay an Abwanderung. Jüngsten Zahlen des Ministeriums für Migration zufolge ist die Bevölkerung in den vergangenen acht Jahren durchschnittlich um etwa 20 000 Menschen pro Jahr zurückgegangen. Für ein Volk, das weniger Bürger hat als Berlin, ist das bedrohlich: Uruguay stirbt aus.

Im Hinterland der Hauptstadt wird die Tristesse chronisch. Über lange Strecken nichts als Kühe, Kühe, Kühe. Und Weiden, auf denen das Schilfrohr knietief im Brackwasser steht. Am Straßenrand eine Reklametafel. Die Skelette von ein paar Autowracks, die in den ewigen Ruhestand rosten. Dann und wann ein Gaucho hoch zu Ross. Das sind die Höhepunkte eines solchen Ausflugs.

In Dörfern an der Straße stehen ein paar Alte schweigend beieinander, schlürfen Mate. Vorsichtig, geradezu zärtlich, so wie man seiner Geliebten eine Locke aus dem Gesicht streicht, gießen sie den Tee immer wieder neu auf. Frauen mit Riesenbrillen ziehen Hündchen hinter sich her, die in scheußliche Häkeldeckchen gewickelt sind. Wie ausgesetzte Schuhkartons stehen Häuschen aus Waschbeton am Straßenrand. Man möchte anhalten, sie auf die Rückbank des Autos bitten und abstellen, wo die Stimmung besser ist. Die Porteños, die Einwohner von Buenos Aires, zieht es jedoch an dieses Ufer des Rio de la Plata. Die gesamte Küste von Uruguay verspricht eine unangetastete Natur, lockt mit dem Sichten von Walen und der – nach Alaska – angeblich weltweit größten Seehundpopulation. „Uruguay ist wie ein großer Abenteuerspielplatz“, sagt der Zahnarzt Enrique aus Buenos Aires. „Wenn ich hier angekommen bin, liegen Hektik und Stress auf einmal ganz weit hinter mir.“

Vorsichtig bugsiert er seinen knallroten Alfa Spider samt blonder Beifahrerin in Colonia del Sacramento von der Fähre. In drei bis vier Stunden werden sie in Punta del Este ankommen, dem mondänen Badeort an der Ostküste des Landes, dem „Saint Tropez der Südhalbkugel“, wo sich jedes Jahr die Yuppies aus ganz Südamerika zum nachweihnachtlichen Champagnerbesäufnis treffen. Der Tag geht zu Ende, eine Weile noch funkeln die Rückleuchten von Enriques Alfa wie zwei Glühwürmchen im Nichts. Es kommt eine kleine Senke, gefolgt von einer steilen Kurve, nun hat sie die Pampa vollends verschluckt. Was zurückbleibt ist die Weite dieses kleinen Landes, seine große Leere. Seine anrührende Ratlosigkeit, die auf den Besucher wirkt wie ein nicht enden wollendes Schulterzucken. Irgendwie geht es weiter und so wie es weiter geht, ist es dann offenbar auch gut.

Christoph Grabitz

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