Südafrika: Magie der Märchen
Überlieferte Legenden werden in Südafrika auch heute noch gepflegt. Auf einer Rundreise werden sie lebendig.
Wenn am Horizont noch ein Rest Röte vom davonschleichenden Tag leuchtet und sich schwarze Baumgerippe hinter dem Kariegasee wie mystische Gestalten abzeichnen, bekommen Geschichten Flügel. Im Kamin der Pumba-Lodge lodert das Feuer. Die Gäste tauschen bei Port oder Roiboostee ihre Erlebnisse vom Tag im Pumba Game Reserve aus. Die Ersten sind müde. „Wenn du in Afrika allein gehst, stirbst du auch allein“, sagt plötzlich ein Gast. Natürlich wird in der Lodge jeder zum Bungalow begleitet. Doch der Satz sitzt, und Basil Mills hat Zuhörer gefunden.
Der Mann mit der wilden blonden Mähne ist ein Quma Quma, ein Geschichtenerzähler, wie ihn das einheimische Xhosa-Volk nennt. Und er hat viel zu erzählen. Vom schottischen Urgroßvater, vom institutionalisierten Rassismus, von Moral und Politik, den Unruhen in den Großstädten und seiner Liebe zu Südafrika.
Es ist Mitternacht, als Basil das Märchen von der Gottesanbeterin erzählt. Die wollte den Mond fangen, damit alle Tiere glaubten, sie sei ein Gott. Doch der Mond war nicht zu packen. Einmal sieht sie ihn im Wasserloch, stürzt sich auf ihn und versinkt. Wieder am Ufer, zerschmettert sie wütend das zu Glas gewordene Spiegelbild mit einem Stein, wobei ein Splitter ihr Auge verletzt. Da fleht sie den Mond an, er möge ihr helfen. Darum hält die Gottesanbeterin die Vorderbeine, als ob sie bete.
Die Welt steckt voller fabelhafter, wundersamer Geschichten. Märchen, Mythen und Legenden sind in der südafrikanischen Tradition tief verwurzelt, und um sie geht es bei den neuen „Literarischen Routen Südafrikas“. Unter dem Titel sind sechs Reisewege entstanden, die die Besucher zu Schauplätzen von Geschichte, Kultur und Literatur Südafrikas führen. Auf der Route lassen sich die Geschichten aufspüren, die in einer schriftlosen Zeit Hochkonjunktur hatten. Es handelt sich um das gesammelte Wissen von Völkern wie den Xhosa, Zulu oder Tsonga, die mündlich weitergegeben und interpretiert wurden. Sie erzählen von Gut und Böse, von Geistern und Sterblichen, merkwürdigen Fabelwesen oder hilfreichen Tieren. Sie können wahr oder halbwahr sein, ernst oder heiter, überliefert oder selbst erlebt, bekamen Flügel und ließen die Fantasie blühen. Manchmal erscheinen sie in märchenhafter Verkleidung, erklären aber die Schöpfung, die Welt oder von den Normen des alltäglichen Lebens der Völker Afrikas.
Eine dieser Routen führt durch das Eastern Cape. Die südöstliche Provinz ist Xhosa-Land, und ihr berühmtester Vertreter ist Nelson Mandela. Aber auch Reiseleiter Jeff gehört dazu. „Wir alle sind Geschichtenerzähler“, sagt Jeff, der vollständig Sithembiso Geoff Foster heißt. Und er meint wirklich alle, alle, die reden, doch die Xhosa im Besonderen. Wenn Jeff spricht, spricht er ausschmückend und gestenreich. „Geschichten gibt es bei uns wie Sterne am Himmel“, verspricht er. Sie funkeln vor Poesie, schenken Licht und Hoffnung in Zeiten der Dunkelheit. „Sie leuchten unseren Weg und lehren uns zu leben. Deshalb brauchen wir sie noch heute.“
In Port Elizabeth liegt der erste Stopp auf der literarischen Route: eine wahre Geschichte, an der niemand in diesem Land vorbeikommt. Hunde bellen, Hühner flattern auf, als der Kleinbus ins Township einbiegt. Eine Großstadt aus Wellblechbaracken, Bretterbuden und Steinhütten für Schwarze und Farbige, das erste Township in Südafrika überhaupt. „Eine Apartheidstadt“, sagt Jeff verbittert. Wohnelend für etwa 80 000 Einwohner. Das Red-Location-Museum zeigt den Albtraum der Rassentrennung, den Terror und den Kampf gegen das Apartheidsystem. Aus rostigem Wellblech sind die Wände der Ausstellungsräume, wie das Konzentrationslager, in das die Xhosa nach dem Burenkrieg von 1903 zwangsumgesiedelt wurden. Wellblech war im Winter eisig, im Sommer ein Grill.
Kurz vor Grahamstown, der Stadt der Festivals und der viktorianischen Architektur, fährt der Bus zum besten Aussichtspunkt. Hier vermischen sich Mythen und Geschichte miteinander. Auf der Anhöhe steht das Makana-Denkmal. Makana ist der Freiheitsheld der Xhosa und Jeff sein ergebener Bewunderer. Er erzählt mit Feuereifer. Makanas überlegene Truppen hatten 1819 die Briten schon fast besiegt, als plötzlich eine Frau durch die Schusslinie lief. Sofort stellten die Xhosa das Feuer ein. „Wer gegen eine Frau kämpft, ist schwach“, erklärt Jeff den edlen Zug. Doch statt eines Kindes trug sie Schießpulver für die Gegner im Tuch. Die Niederlage der Xhosa war besiegelt. Noch heute glauben viele, dass die Gegend von Grahamstown verhext sei.
Einige Kilometer weiter liegt Alice, keine besonders ansehnliche Stadt. Allerdings markiert sie eine politische Wende auf dem Schwarzen Kontinent. Erstmals 1916 öffnete mit Fort Hare eine Universität ihre Hörsäle und Bibliotheken für Nichtweiße. Sogar die Xhosa-Sprache und Xhosa-Recht standen auf dem Lehrplan. Damit konnte im Apartheidsystem ein neues Selbstbewusstsein und eine schwarze Elite entstehen, die in der Widerstandsbewegung der 1950er Jahre die maßgebliche Rolle übernahm. Govan Mbeki, Mitbegründer des African National Congress (ANC), hat hier studiert, auch Oliver Tambo und Nelson Mandela, die Ikonen des Anti-Apartheid-Kampfes. Das alte Fort Hare beherbergt heute die Galerie der Afrikanischen Kunst.
Vuyani Booi, der Leiter der einzigartigen Sammlung aus Fotos, Gemälden und Plastiken, erklärt die oft geisterhafte Formensprache von Stammestraditionen und Volkswissen, die Europäer nicht beherrschen. Aus jedem Kunstwerk spricht das persönliche Erleben der schwarzen Geschichte im 20. Jahrhundert in dramatischen, ungeschönten Bildern. Zum Abschied drückt Vuyani allen die Hand nach Xhosa-Art: Handschlag, Daumen umgreifen, Handschlag. Und das ganz schnell. Das heißt: „Lasst uns zusammenhalten!“ In guten und in schlechten Zeiten.
Die Landschaft wird gebirgiger. Je höher hinauf sich die Straßen winden, desto dichter wird der Wald. Am Gaika’s Koop erreicht das Amatola-Gebirge fast 2000 Meter. Grüne Meerkatzen spielen am Straßenrand, an Bäumen und Büschen hängen bleiche Nebelfetzen. Im Nebel wohnen die Geister, sagen die Xhosa, und plötzlich tauchen die Schemen von Hobbits, Elben, Hexenmeistern und anderer Gestalten auf, die man aus der Roman-Trilogie „Der Herr der Ringe“ kennt. Langsam ahnt man, dass die Fantasie in Mittelerde angekommen ist, der geistigen Heimat von J. R. R. Tolkien. Das Dorf Hogsback galt lange als sein Geburtsort, doch hat der Großmeister der Fantasy-Literatur in diesen Wäldern nur kurze Zeit verbracht, wohl aber die Inspirationen für seine Mythenwelt gefunden. Hogsback hat nicht viel mehr als einen Laden, eine Tankstelle, ein paar Hotels und Restaurants, die Namen aus Tolkiens Universum tragen.
Mythen und Sagen sind meist dazu da, um das Unerklärliche zu erklären. Doch manche lassen das Rätsel nur größer werden. Auf dem Weg nach King William’s Town hat Jeff solch einen mysteriösen Fall aus dem Grenzkrieg von 1856 parat. „Die Sache stand für die Xhosa schlecht“, beginnt Jeff. Da schickten ihnen die Ahnen durch das Mädchen Nongqawuse eine verhängnisvolle Prophezeiung. Die Xhosa töteten das Vieh und vernichteten ihre gesamte Ernte. Doch statt des versprochenen Sieges über die Briten verhungerten 50 000 Xhosa, die Überlebenden verließen die Region. Unsereins mag das für Legende halten, doch die Geschichte ist wahr. Das Unvorstellbare erklärt sich aus der Xhosa-Mystik: Der Krisenkult wirkt als Hoffnung in Zeiten der Hoffnungslosigkeit. Die weisen, wohlwollenden Ahnen senden den Lebenden Botschaften aus dem Jenseits, damit das Unmögliche Realität werden kann.
Im Amthole-Xhosa-Museum von King William’s Town wird die traurige Wahrheit des Orakels belegt. Doch die Hauptattraktion ist „Huberta“, das ausgestopfte Flusspferd. Anderthalb Jahre wanderte das freiheitsliebende Tier allein von der Provinz KwaZulu-Natal mehr als 1000 Kilometer am Keiskamma-Fluss entlang, wurde von den Xhosa gefüttert und verehrt, bis es 1931 von weißen Farmern erlegt wurde. Die Jäger kamen vor Gericht, Huberta nach London zum Präparator. Zurück in Südafrika wurde sie ausgestellt und zum Maskottchen. „Die Xhosa glaubten, dass mit Huberta die guten Geister und die Freiheit zurückkommen“, erklärt Jeff.
Auf dem Weg nach Mthatha trifft der Reisende wieder auf eine wahre Geschichte. Im Dorf Mvezo, 30 Kilometer südlich von Mthatha, wurde Nelson Rolihlahla Mandela als Sohn eines Xhosa- Häuptlings geboren, ein paar Kilometer weiter nördlich, in Qunu, wuchs er auf. Ein Teil seines Clans lebt in dem bescheidenen Dorf. „Nelson hat mich vor Stärkeren beschützt“, erinnert sich sein 14 Jahre jüngerer Cousin Sitsheketshe, der heute wie eh und je Rinder hütet. Er war dabei, als die Polizei Nelson abholte, bevor er nach Robben Island ins Gefängnis kam. Sitsheketshe weiß auch noch, dass Nelsons Mutter abends Märchen erzählte und dass sie manchmal vor dem Ende schon einnickte.
Im Nelson-Mandela-Museum in Mthatha erfährt man dann seine ganze Geschichte. „When I was a boy ...“, ertönt seine Stimme vom Band. „Als Kind hörte ich die Geschichten der Alten, von guten und schlechten Tagen, lange bevor die Weißen in unser Land kamen, und unser Volk lebte in Frieden.“ Der Friedensnobelpreisträger berichtet von den alten Stammesstrukturen, die ihn Demokratie lehrten, von seiner Studentenzeit, der Arbeit im Untergrund, dem Gefängnis und dem „Long Walk to Freedom“. Der lange Kampf gegen die Unterdrückung der Schwarzen hat den jetzt 90-Jährigen zum Mythos gemacht.
Auf der Literarischen Route liegen Geschichten nur so auf der Straße. Deshalb wird sich der Wunsch von Nelson Mandela, den er in seinem eigenen Märchenbuch formuliert hat, sicher erfüllen. Dass nämlich die Stimme des Geschichtenerzählers nie verstummen möge und dass die Kinder Afrikas nie ihre Fähigkeiten verlieren, ihr Leben auf dieser Erde durch die Magie der Märchen zu bereichern.
Beate Schümann
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