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Reise: Langläufer leben länger

Der Allgäuer Erhard Pferdt liebt Schnee in jeder Form. Er ist Loipenwart in Isny, und seine Spuren sind makellos

Der Tag verdämmert, Flocken tanzen im Licht der Scheinwerfer. Angestrengt starrt Erhard Pferdt durch die Panoramascheibe in den weißgrauen Wirbel. Es ist warm in der Fahrerkabine, auch wenn das Außenthermometer fünf Grad minus zeigt. Im Radio singt Mina auf SWR 4 vom „Heißen Sand“, obwohl doch „Zwoa Brettl, a g’führiger Schnee“ jetzt viel besser passen würde. Aber die Aufmerksamkeit des Fahrers gilt ohnehin mehr dem halben Lenkrad und dem Joystick, mit denen er das Gefährt durch die beginnende Nacht steuert, sowie den Rückspiegeln und dem, was er darin sieht: „Vier schnurgerade Linien, ganz glatt und eben und wie mit dem Lineal gezogen – dann bin ich glücklich.“

Als das Schneetreiben zunimmt, geht er mit der Geschwindigkeit auf 12 km/h herunter: „Bei Pulverschnee muss ich langsamer werden. Den bläst es mir nach beiden Seiten weg. Und wenn man die Orientierungsstöcke aus den Augen verliert, fährt man auch schon mal im Kreis.“

Der durchtrainierte Mann in dickem Fleecepullover und roter Arbeitshose, dem man seine fünf Lebensjahrzehnte überhaupt nicht ansieht, ist Loipenwart. Loipenwart ist ein sehr verantwortungsvoller Beruf, vor allem in einem Städtchen wie Isny. Denn Isny ist stolz auf seinen Ruf als Skistadt, auch wenn es keine alpinen Abfahrtsstrecken vorweisen kann. Isny pflegt die Freuden und Mühen der Ebenen, den Langlauf, und das seit über 100 Jahren. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstieg der Stadtarzt auf zwei Brettern den Schwarzen Grat. 1910 gründeten ein paar Verrückte den ersten „Schneeschuhverein“, und heute hält die Stadt für ihre Gäste 19 miteinander verbundene Touren vor. Das sind rund 120 Kilometer befestigter Piste, von denen 45 vom Deutschen Skiverband sogar ein Gütesiegel erhalten haben.

Und der Herr über dieses Reich ist Erhard Pferdt. Er liebt Schnee in jeder Form: pulvrigen, harschen, pappigen, rieselnden, eisigen – nein, letzteren weniger, denn der macht Arbeit, aber davon später. Seit 20 Jahren schon bringt der gelernte Zimmerer im Auftrag der Stadt den Schnee in Form, im Sommer arbeitet er als Bademeister. Seine Hauptsaison beginnt, sowie sich der Winter ankündigt. Dann muss er hinaus auf die Wiesen bis nach Maierhöfen und Neutrauchburg, die Zäune öffnen und die 200 Stangen und Hinweisschilder längs der geplanten Strecken stecken. Die meisten Routen liegen dabei seit Jahren fest, nur gelegentlich ändert er die Streckenführung.

Fällt dann der erste Schnee und bleibt liegen, kommt der Pistenbully zum Einsatz, ein vier Meter breites Raupenfahrzeug. Sein Gewicht verdichtet den weißen Untergrund, gleichzeitig planiert er ihn mit einem Spurbrett, unter dem vier Leisten sitzen: Es entsteht die klassische Loipe mit zwei eingegrabenen Spuren je Richtung. Daneben zieht er bei einer zweiten Fahrt eine breite, ganz glatte Bahn für die weit ausholenden Skater.

War’s das dann für die Saison? Von wegen. Loipen „fransen aus“: Die Kanten bröckeln durch Fehltritte und Stürze, vereisen, und also muss Pferdt wieder hinaus, spät abends oder ganz früh am besten, wenn noch kaum Skifahrer unterwegs sind. Diesmal fräst er mit einer zahnbewehrten Trommel zwischen Bully und Spurbrettern den vereisten Schnee durch und glättet ihn im gleichen Arbeitsgang wieder.

Und wenn sie alle auf einmal zuschneien oder vereisen, die 120 Kilometer Strecke? Dann entscheidet der Herr aller Loipen nach Gutdünken und schnellem Überlegen: Welche Strecken haben es am nötigsten? Wo werden die meisten Besucher erwartet? Welche Touren lassen sich sinnvoll verbinden? Jeden Wintermorgen spricht er sich kurz telefonisch mit einer Mitarbeiterin des Gästeamts ab. Dann geht es hinaus ins Gelände.

Aber natürlich verlässt sich Isny schon längst nicht mehr nur auf das, was vom Himmel rieselt oder auch nicht. Das Wetter verschiebt sich, die Schneegrenze ist nach oben gerutscht. Deshalb setzt die Stadt bereits seit sechs Jahren auch auf „maschinelle Schneezubereitung“, sprich: flockiges Weiß aus der Kanone. Zwei solcher Geräte gehören zum Fuhrpark. Und die funktionieren, um auch das einmal zu klären, so: Eine Pumpe speist aus einem Reservoir Wasser mit 30 bar in eine Propellermaschine, dreieinhalb Liter pro Sekunde. Die sprüht es durch ganz feine Düsen in die Luft, wo es gefriert – allerdings erst ab drei Grad minus. Das ist alles.

Nach zwei Stunden hat die Kanone einen ganzen Berg Schnee produziert, und man fährt sie ein paar hundert Meter weiter zum nächsten Wasseranschluss. Am Ende müssen die Haufen verteilt und eingeebnet werden. „Mit Fingerspitzengefühl!“, beschwört Pferdt. „Wenn ich auf welligem Grund mit dem Schneeschieber zu tief komme und Kies oder Dreck mit aufnehme, haben die Läufer den ganzen Winter damit zu tun: Die Fräse holt alles wieder hoch.“

Zwei Kilometer unter Flutlicht werden im Wald am Stadtbad beschneit – was gerade behinderte Sportler zu schätzen wissen. Diese Loipe hat keine Schrägen und keine abhängenden Kurven, Rollstuhlfahrer, die ihre Schlitten mit kurzen Stöcken anschieben, kommen damit bestens zurecht – was für eine Stadt mit einem großen Rehabilitationszentrum nicht unerheblich ist.

Soweit steht also alles zum Besten im Arbeitsbereich des Herrn Pferdt. Aber eben nicht immer. Wenn bei klirrender Kälte ein Bolzen am Bully bricht und der Mechaniker keine Zeit hat, wenn die frisch gezogene Loipe im Neuschnee untergeht, wenn es zur Unzeit zu tauen beginnt oder Langläufer spät abends noch in der frischen Spur laufen – dann verflucht der Schneeperfektionist schon mal die Technik oder die menschliche Unvernunft oder er hätte zu den 700 Metern, auf denen Isny liegt, gern ein paar Meter Höhenlage dazu.

Am liebsten aber schnallt er sich selbst die Bretter unter und zieht los. Seine Lieblingsstrecke ist die Lengersauloipe, die schönsten siebeneinhalb Kilometer von allen. Durch Niederungen und über Höhen führt sie, vorbei an einzelnen Höfen, die sich unter ihrer Schneehaube ducken. Beim Anstieg kommt man ordentlich ins Schwitzen, bei der 1000 Meter langen Abfahrt von Bengel nach Erhafts pfeift der Wind nur so ins Gesicht. Und dazu dieser Blick rundum: hinüber zur weißbestäubten Nagelfluhkette geht er, tief hinein in die waldige Adelegg, und an diesem schönen Tag sogar bis Schloss Zeil. Erhard Pferdt zieht die kalte Luft tief ein. „Langläufer leben länger“, haben sie ihm schon bei der Bundeswehr beigebracht. Der Herr der Loipen genießt die Früchte seiner Arbeit.

Franz Lerchenmüller

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