Frankreich: Kunst zieht ans Mittelmeer
Marseille gilt als schmuddelig und gefährlich. Nun kämpft die Kulturhauptstadt 2013 für ein neues Image – auch mit tollen Museen.
Der Taxifahrer am Bahnhof schüttelt den Kopf. „Zur Canebière wollen Sie? Désolé, tut mir leid. Da fahre ich nicht hin. Viel zu viele Baustellen!“ Also ab in die Métro. Als wir wieder ans Tageslicht steigen, verstehen wir: Wo sich vorher der wunderbare Blick auf den Vieux Port, den Alten Hafen eröffnete, sind erst mal nur Bauzäune zu sehen. „Arbeiten zur Verkehrsberuhigung“, stöhnt die Rezeptionistin im Hotel, die schon manche Beschwerde hat über sich ergehen lassen müssen. „Der Fahrweg soll verengt werden, damit die Fußgänger hier ungestört flanieren können.“ Doch jetzt müsse man mindestens noch bis Anfang 2013 über eine Riesenbaustelle stolpern. Und das sei nicht die einzige in Marseille.
Es ist nicht zu übersehen: Die Stadt wird umgekrempelt. Übrigens nicht erst seit im Oktober 2008 die Wahl Marseilles zur Kulturhauptstadt Europas 2013 feststand. Das Projekt „Euroméditerranée“ steht seit 1996 für Stadterneuerung und Wirtschaftsförderung, in die mehr als sieben Milliarden Euro fließen. Die Anstrengungen wurden für die Kulturmetropole noch einmal erhöht. Gleich mehrere neue Museen entstehen, andere werden renoviert oder erweitert.
Das frühere Modemuseum zieht in das neue Musée des Arts Décoratifs et de la Mode, das alternativ angehauchte Zentrum für visuelle und darstellende Künste Friche la Belle en Mai bekommt ein zusätzliches „Panorama“-Gebäude mit Ausstellungsflächen und Künstlerateliers. Der Architekt Kengo Kuma baut ein neues Zuhause für den Frac Provence-Alpes-Côtes d’Azur, den Regionalfonds für Zeitgenössische Kunst, und gleich neben der Abfertigungshalle für Passagierschiffe am Hafen entsteht das J1, ein großzügiger Empfangs-Hangar mit Galerien, Konferenzsälen und Buchhandlungen, der im kommenden Jahr zu einer fiktiven Reise durch die Mittelmeerländer einlädt.
Ambitioniertes Projekt ist das MuCEM, das Musée de Civilisations pour l’Europe et de la Méditerranée. Schon jetzt grüßt die gläserne Fassade des italienischen Architekten Rudy Ricciotti am Eingang des Alten Hafens – ein neues, luftiges Wahrzeichen neben den Festungsmauern des Fort Saint-Jean.
Viele neue Kulturbauten also. Gewiss, das kennt man auch von anderen europäischen Kulturhauptstädten. Aber in der zweitgrößten Metropole Frankreichs? „Wenn Marseille im Wettbewerb mit anderen französischen Städten wie Lyon, Toulouse oder Bordeaux den Zuschlag bekommen hat, dann deshalb, weil sie es am dringendsten nötig hat“, erklärt Ulrich Fuchs, stellvertretender Direktor von Marseille-Provence 2013. Wann kämen denn schon mal Touristen wegen der Kultur nach Marseille? Die vielen Passagiere der Kreuzfahrtschiffe, die hier anlegen, fahren meist gleich weiter nach Arles oder Avignon. Demnächst werden etliche sogar direkt nach Eurodisney bei Paris befördert.
"Viele Franzosen trauen sich nicht hierher"
„Der Stadt haftet ein Schmuddel-Image an“, bestätigt Eva Chevallier-Kausel, die sich gern als ehrenamtliche Stadtführerin betätigt. „Ich kenne auch viele Franzosen, die sich nicht hierhertrauen, weil sie Marseille für zu gefährlich halten.“ Man mache höchstens mal eine Stippvisite zum malerischen Alten Hafen, um dort eine Bouillabaisse zu essen.
Das soll sich mit Marseille-Provence 2013 ändern. Dazu wird die gesamte Kulturlandschaft neu geordnet. Bisher passiert hier zwar eine Menge, überall gibt es kleine Galerien, werben Plakate für Konzerte oder Performances. Nur bekommen das oftmals nur Insider mit – anders als etwa bei der Erzrivalin Aix-en-Provence, die mit Cézanne und ihrem renommierten Opernfestival eine internationale Ausstrahlung hat. „Die Stärken von Marseille liegen auch eher auf Straßenkunst, Elektromusik oder Hip-Hop, Kunstformen, die sich nicht so leicht einem größeren Publikum vermitteln lassen“, gibt Ulrich Fuchs zu bedenken. Umso wichtiger sei es, dass 2013 nicht nur ein Feuerwerk von Veranstaltungen werde, das schnell wieder verpufft, sondern Strukturen schaffe, die Kunst und Kultur ein bleibendes Zuhause geben.
Der Sitz von Marseille-Provence 2013 befindet sich in der Maison Diamantée, einem reich verzierten Haus aus dem 16. Jahrhundert unweit des Alten Hafens. Früher wurden hier Diamanten geschliffen. Jetzt soll der Rohdiamant Marseille poliert werden, mit neuen Inhalten und Ideen. Im Programm der Kulturhauptstadt zieht sich ein Begriff wie ein Leitmotiv durch die geplanten Ausstellungen, Festivals und Aktivitäten: la Méditerranée.
Es klingt zunächst banal, viel zu selbstverständlich. Gehört das Mittelmeer nicht zu Marseille wie die Seine zu Paris? Auf ihm kamen die Griechen hierher, um die älteste Stadt Frankreichs zu gründen, auf ihm spielt sich der Handel des Hafens ab, und jetzt spült es immer mehr Kreuzfahrttouristen hierher. Dennoch: Traditionell schauten die Marseiller immer nach Norden, nahmen sich die ungeliebte Hauptstadt zum Vorbild, auch wenn Marseille näher an Algier als an Paris liegt. Doch was von Süden kam, zum Beispiel die unzähligen Einwanderer aus Nord- und Schwarzafrika, galt oft als notwendiges Übel.
Inzwischen dämmert es anscheinend einigen, dass gerade in der multiethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung, die hier relativ konfliktfrei zusammenlebt, eine Chance besteht. „In den Pariser Vororten brennen die Autos“, meint Ulrich Fuchs. „Hier nicht.“ Gleichwohl titelte die „FAZ“ unlängst über Marseille: „Stadt des Verbrechens“. Die Gewalt habe solche Ausmaße angenommen, dass Lokalpolitiker nach der Armee riefen. Drogenmafia, Waffenhändler, Bandenkriege. Davor werden auch die Kulturbeauftragten der Stadt die Augen nicht verschließen können.
Dennoch kommen weiter viele Kreative quasi per bequemer TGV-Verbindung aus Paris hierher, um ihr Glück im sonnigen, zumindest scheinbar entspannteren Süden zu versuchen.
Nur ein kleiner Meilenstein auf dem Weg zur Stadterneuerung
Der Besucher bekommt eine Ahnung von einer Art Erneuerung, wenn er sich vom alten zum neuen Hafen bewegt. Wieder folgt Baustelle auf Baustelle. Hier entsteht das neue Terminal für Passagierschiffe, dort die Les Terrasses du Port, ein Einkaufszentrum, oder das Musée Regards de Provence. In den sanierten alten Docks haben sich bereits Büros, Läden und Cafés eingerichtet. Der Architekt Eric Castaldi hat einen alten Kornspeicher in ein riesiges Veranstaltungszentrum verwandelt, und in der Ferne ragt ein futuristischer, 147 Meter hoher Glasturm von Zaha Hadid auf, das neue Hauptquartier von CMA-CGM, der drittgrößten Reederei der Welt.
„Jetzt muss man sich vorstellen, dass noch 18 000 Wohnungen, eine Million Quadratmeter Büroflächen, Hotels, Schulen und ein Krankenhaus dazukommen“, erklärt die Stadtführerin. Marseille-Provence 2013 sei schließlich nur ein kleiner Meilenstein auf dem Weg zur Euroméditerranée, dem Mammutprogramm der Stadterneuerung, das noch bis 2025 andauern wird.
Angesichts der Dimension wird einem ein bisschen flau im Magen. Schon drängen sich die Bilder anderer Städte auf, wo die Immobilienpreise in die Höhe geschnellt sind und das Gespenst der Gentrifizierung umgeht.
„Bei einem solchen Modernisierungsprogramm gibt es immer Gewinner und Verlierer“, räumt Fuchs ein. „Aber eine Stadt mit so großem Nachholbedarf hat gar keine andere Wahl.“ Wenn es nur nicht hinterher aussieht wie überall, glattpoliert und steril wie eine mehr oder weniger schicke Shoppingmall! „Da habe ich keine Befürchtungen“, wehrt Eva Chevallier ab. „Dafür sind die Marseiller viel zu anarchisch.“
Wie zur Beruhigung geht sie mit uns durchs Panier-Viertel, das sich nur ein paar Schritte vom Hafen entfernt einen Hügel hinaufzieht. Früher war es übel beleumdet, Prostitution, Drogen, Armut und Kriminalität an der Tagesordnung. Nachdem vieles instand gesetzt wurde, offenbart es sich als kreativer Mikrokosmos. Galerien, unprätentiöse Modedesigner, Geschäfte mit der traditionellen Marseiller Seife und Kunstgewerbe säumen kleine Plätze und enge Gassen, dazwischen ein paar Second-Hand-Läden und die Chocolatière du Panier, die sich mit ihren raffinierten Schokoladensorten einen Namen gemacht hat. Ach ja, und dann ist da noch Chez Étienne, der die beste Holzofenpizza von Marseille serviert. Eine echte Institution. „Dabei ist es gar nicht teuer“, weiß die Führerin, die im Viertel wohnt. Bis vor kurzem habe es noch nicht mal eine Preisliste gegeben und noch immer gehe es ganz familiär zu. Bleibt zu hoffen, dass es noch lange so bleibt und nicht nur Chez Étienne Marseille-Provence 2013 gut übersteht.
Ulrike Wiebrecht