Santo Domingo: Kolumbus für alle
Santo Domingo trägt den Titel „Kulturhauptstadt Amerikas 2010“. Touristen schauen sich um – und internationale Haitihelfer.
Ewig könnte man verweilen im „Colonial“. Denn nirgends lässt sich der dominikanische Alltag so schön beobachten wie von dieser Caféterrasse aus am Parque Colón. Vor 500 Jahren hatten die Spanier den Platz unter dem Namen Plaza de Armas angelegt. 1892, zum 400. Jahrestag der Ankunft von Christoph Kolumbus, wurde er umgetauft, und seither steht hier auch eine steinerne Statue des Entdeckers auf hohem Sockel. Der Parque Colón ist der quirlige Mittelpunkt der Zona Colonial, der Altstadt von Santo Domingo. Familien kommen zum Taubenfüttern her, ältere Dominikaner plauschen unter schattigen Bäumen, Brettspiele werden ausgepackt. Eine alte Frau hat ihre Handelsware in einem ausrangierten Einkaufswagen dekoriert: Bonbons, Kaugummis und Zigaretten. Touristen schlendern über den Platz und fotografieren die Kathedrale Santa María la Menor, die Diego Colón, der Sohn des Entdeckers, zu Beginn des 16. Jahrhunderts hier errichten ließ.
Rund 500 Bauten aus der Zeit der Spanier stehen noch in der Altstadt, die 1990 zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt wurde. Hier und da bröckelt die alte Pracht bedenklich, doch manch ein Gebäude präsentiert sich gut restauriert. Wer zur Kolonialzeit Rang und Namen hatte, wohnte in der Calle de Damas. Hernán Cortes zum Beispiel, der später Mexiko einnahm, logierte im Haus Nummer 42, in dem heute die französische Botschaft ist. Unweit davon ließ sich Francis Drake, der die Stadt 1586 überfiel, den Schmuck der Damen bringen. Geschichte, überall.
Seit Beginn des Jahres hat die Stadt allen Grund, sich stolz zu präsentieren. Sie bekam den Titel „Kulturhauptstadt Amerikas 2010“, der seit zehn Jahren von einer Organisation mit Sitz in Barcelona vergeben wird. Doch wer die Stadt jetzt besucht, wird nicht nur mit der über 500 Jahre alten Geschichte konfrontiert, sondern auch mit dem Erdbeben in Haiti, das im Januar 250 000 Menschen das Leben gekostet hat.
Hotelzimmer, zuvor nur von Touristen und Geschäftsleuten gebucht, werden noch immer auch für die Mitarbeiter der internationalen Hilfsorganisationen oder Freiwillige gebraucht. Viele europäische Helfer landen abends mit der täglich ankommenden Air-France-Maschine aus Paris und fahren am nächsten Morgen mit dem Auto weiter auf die haitianische Seite, ins rund 400 Kilometer entfernte Port-au-Prince. Die meisten tragen die Namen ihrer Organisationen wie „Medecins sans frontières“, „Red Cross“ oder „Technisches Hilfswerk“ deutlich sichtbar auf ihre T-Shirts gedruckt. Vergeht Touristen da nicht die Lust auf einen sorglosen Urlaub? „Es ist schon ein gespanntes Verhältnis“, sagt Lisa Förster vom Schweizer Reiseveranstalter DomRep-Tours. Zwar habe es, wie auch bei den deutschen Veranstaltern, keine nennenswerten Stornierungen gegeben, aber angesichts der Helfer rücke den Urlaubern die Katastrophe in Haiti sehr nahe. „Viele fragen uns, was sie tun können, und geben Geld“, sagt Lisa Förster. DomRep-Tours arbeitet deshalb jetzt mit der Welthungerhilfe zusammen.
Auch Joachim Wagner, der mit seinem Partner das Hotel Palacio in der Altstadt führt, hat eine Spendendose auf dem Tresen. Helfern, die bei ihm übernachten, gewährt er einen Rabatt von 30 Prozent. Von deutschen Journalisten, die zahlreich bei ihm auftauchen, hält der Hamburger nicht mehr viel. „Die meisten haben keine Ahnung von der Dominikanischen Republik“, sagt er kopfschüttelnd. Erst kürzlich habe ihn wieder einer gefragt, wie das denn so sei auf der Ballermann-Insel?
Dabei ist das in den 80er Jahren erworbene Billigimage längst falsch. Die neuen All-inclusive-Resorts, vor allem an den weißen Stränden der Ostküste bei Punta Cana, sind Luxusenklaven. „Wer dort Urlaub macht, hat von Haiti wenig mitbekommen“, vermutet Lisa Förster. In Santo Domingo hätten viele das Beben gespürt. „Im Büro hat alles gewackelt, und wir sind nach draußen gelaufen“, erinnert sie sich.
Versteht sie Touristen, die aufgrund des Leids in Haiti einen Urlaub in der Dominikanischen Republik canceln? „Nein“, sagt Altagracia de Olmos, Kulturdezernentin von Santo Domingo mit Nachdruck, das mache keinen Sinn. „Wir Dominikaner waren die Ersten, die den Haitianern geholfen haben“, sagt sie. „Es sind unsere Brüder, wir teilen die gleiche Insel. Und wenn die Touristen weiter zu uns kommen, helfen sie indirekt auch den Haitianern.“ Täglich schicke man noch immer Essensrationen für Kinder über die Grenze.
Wäre es nicht einfacher, die Grenze zwischen den Ländern zu öffnen? Arturo, bei der Tourismusbehörde als Fahrer angestellt, hebt erschrocken die Hände. „Da leben zehn Millionen Menschen, wie soll das gehen, wenn sie alle zu uns kommen?“ Altagracia de Olmos sagt: „Wir sind ja selbst ein Entwicklungsland.“ Nach Definition der Weltbank leben rund 15 Prozent der Dominikaner in Armut, wenn auch nicht im Elend wie das Gros der Haitianer schon vor dem Erdbeben.
Eine Million Haitianer leben derzeit in der Dominikanischen Republik, die Hälfte von ihnen illegal. Viele arbeiten als Billigkräfte auf den Zuckerrohrfeldern, manche verkaufen naiv-bunte Bilder am Straßenrand. Diese haitianische Kunst kostet nicht viel, und manch ein Urlauber bringt sie mit aus der Dominikanischen Republik. „Unsere eigene Kunst ist ganz anders“, sagt Altagracia de Olmos. Sehen kann man sie zum Beispiel im Museo del Arte Moderno. Die Maler beschäftigen sich in ihren Werken mit dem, was viele Dominikaner angeht. Die Jahrzehnte der Diktatur Trujillos, die Gewalt gegen Frauen und der Raubbau an der Natur. Beeindruckend sind die Bilder von Cándido Bido, Guillo Pérez oder Clara Ledesma und es verwundert nicht, dass ihre Kunst längst auch in nordamerikanischen und europäischen Museen hängt.
Die wenigsten Urlauber – vier Millionen kamen im vergangenen Jahr in die Dominikanischen Republik – sind Kulturtouristen. Altagracia de Olmos bedauert das und hat doch Verständnis dafür: „Die meisten unserer Besucher kommen eben aus kalten Ländern und finden bei uns Sonne, Strände und dieses faszinierend blaue Meer“, sagt sie. Meer und feinsandige Strände gibt es auch in Haiti. Nun soll das Land neu aufgebaut werden. Zehn Jahre werden für die Mammutaufgabe veranschlagt. Und dann? Wächst da im Nachbarland nicht eine Konkurrenz um die Touristen heran? „Nein“, sagt Lisa Förster, „es wäre ein Gewinn.“ Denn dann könnte sich Hispaniola, die zweitgrößte Insel in der Karibik, als Ganzes vermarkten. „Wir könnten zum Beispiel eine schöne Rundreise anbieten“, sagt sie. Bislang gab es keine Touren nach Haiti. „All die Kriminalität, es war einfach zu gefährlich“, sagt die Reiseveranstalterin.
In Santo Domingo kann man auch abends sorglos durch die Altstadt spazieren. Oder über die Plaza España flanieren, wo das beeindruckende, nachts beleuchtete Wohnhaus von Diego de Colón steht. An den Wochenenden tanzen die Leute hier Merengue oder Bachata. Diese Fiestas gehören auch zum Programm des Kulturhauptstadtjahres 2010. Aber natürlich werden sie im kommenden Jahr nicht einfach aufhören. „Lebensfreude gehört zu unserer Mentalität“, sagt Altagracia de Olmos. Die Gebäude der Spanier stehen noch, die strengen Sitten der Kolonialherren aber sind passé.