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Dornröschen wohnt hier nicht mehr. Doch märchenhaft verwinkelt ist die Burg Rheinstein allemal. Seit 2002 gehört sie zum Unesco-Welterbe.
© Martina Miethig

Oberes Mittelrheintal: In Serpentinen zur Romantik

Wer Burgen und Riesling liebt, nimmt den Rheinsteig unter die Füße. 320 Kilometer lang ist der Fernwanderweg.

Drosselgasse im Rheinstädtchen Rüdesheim: Stop-and-go auf exakt 144 Gassenmetern. Gedränge und Geschiebe. Nichts geht mehr in dem kaum drei Meter breiten Nadelöhr, in das offenbar alle gleichzeitig wollen. Japaner und Chinesen, Amerikaner, Spanier, Australier, selbst eine indische Familie mit Sari und Turban drückt mit – und schnappt nach Luft. Dabei muss der Besucher nur ein paar Schritte aus der wunderschönen Altstadt heraus machen: kein babylonisches Sprachgewirr. Stille! Oder er ist gut zu Fuß. Das Obere Mittelrheintal kann selbst im Sommer herrlich menschenleer sein, für ein Welterbe der Unesco kaum vorstellbar. Schipperten doch angeblich schon vor 150 Jahren rund eine Million Touristen am Rheinufer entlang.

Am „deutschesten aller Flüsse“ droht bekanntlich eine Überdosis von allem „typisch Deutschen“: lieblicher Wein mit feinem Bukett, „germanische“ Monumente siegreicher Schlachten gegen die Franzosen, die volle Dröhnung an Rheinromantik zwischen Lord Byron, Loreley-Kitsch und Weihnachtsschmuck das ganze Jahr über, Rheindampfer in Endlos-Karawanen und Fachwerkhäuser en masse, Raubritter-Burgruinen und Schlösser, wohin man schaut.

Auf 65 Kilometern Rheinufer zwischen Rüdesheim und Koblenz thronen die meisten Burgen weltweit, ganze 29 Trutzbauten und Ruinen. Man kann sie, wie die meisten Besucher, gemütlich auf dem Rheindampfer sitzend abklappern: ranzoomen, fokussieren, abdrücken. Burg im Kasten. Dabei macht es viel mehr Spaß, die alten Gemäuer auf dem Rheinsteig zu erwandern. 320 Kilometer lang ist der Fernwanderweg – aber die spektakulärsten Bauten liegen auf einem überschaubaren Abschnitt nah beisammen.

Bergauf, bergab geht es über bewaldete Bergrücken und durch Täler hindurch immer nur dem Rheinsteiglogo nach, dem stilisierten „R“ oder dem grüngelben Weinkelch der Rheingau-Rieslingroute. Entlang von Weinbergterrassen an schwindelerregenden Steilhängen über dem Rhein, vorbei an Wassertretstellen und urigen Waldgaststätten, von denen mindestens eine „Rausch“ heißt. Bei Lorch am Rhein wandern wir auf dem Territorium eines „Freistaates Flaschenhals“, der hier 1919 ( bis 1923) von den Alliierten ausgerufen und nach seiner Form benannt wurde. Neben Weinlehrpfaden und Kiosken mit Weintheke mitten im Wald steht nahe der Burg Gutenfels sogar ein „vinitor“: eine hölzerne Winzerfigur neben einem Schränkchen, im Innern lauter Fläschchen – gratis und zur Selbstbedienung.

Am Rasttisch „Qualmende Socken“ irgendwo hinter dem historischen Weinverladeort Oestrich-Winkel (größte weinbautreibende Stadt Deutschlands) und dem barocken Schloss Vollrads (natürlich mit Vinothek) packen wir den deftigen Zwiebelkuchen aus dem Lunchpaket. Eine Stunde später im Kloster Eberbach sind unsere Finger blaulila. Würde in dem mittelalterlichen Kloster noch heute ein detektivischer Mönch seiner Spürnase nachgehen: William von Baskerville hätte zweifelsohne die Brombeeren am Wegesrand als Verursacher identifiziert. In dem ehrwürdigen Gemäuer, Baubeginn war im 12. Jahrhundert, wurden Mitte der 80er Jahre fast alle Innenszenen von Umberto Ecos „Der Name der Rose“ gefilmt.

Auch wenn in Eberbach heute keine Mönche mehr leben, beten und arbeiten, so sorgt der mittelalterliche Klosterkrimi mit der rätselhaften Mordserie für eine Zeitreise, spätestens wenn man das frühgotische Dormitorium betritt: Wo früher die Pritschen von 150 Mönchen frei in dem imposanten kreuzrippengewölbten Saal standen, drehte Jean-Jacques Annaud die Szenen aus Ecos „Skriptorium“. Fast kann man sehen, wie die Mönche sich an ihren Schreibpulten über alte geheimnisvolle Schriften beugen, fast hört man den heftigen Disput, den sich William mit dem greisen blinden Mönch Jorge de Burgos liefert. Ganz großes Kino! Kein Wunder, denn Eberbach ist eines der wenigen Klöster mit fast vollständig erhaltener mittelalterlicher Bausubstanz. Aber auch Banaleres wie ein Pilates-Video oder Hustenbonbon-Werbung entstand in den heiligen Hallen.

Heute kommt der Chorgesang vom Band

Filmreif. Kloster Eberbach.
Filmreif. Kloster Eberbach.
© Martina Miethig

In der wuchtigen, aber schmucklosen Basilika ertönte dank Bernd Eichinger nach 200 Jahren endlich wieder der Choralgesang der Filmmönche – denn erst der deutsche Filmproduzent hatte seinen französischen Kollegen auf das Kloster Eberbach gebracht. Zuvor hatte Annaud sich mehr als 300 Klöster in diversen Ländern angeschaut und jedes wieder als möglichen Drehort verworfen. Heute kommt der Chorgesang vom Band und ist trotzdem schön.

Zum Genießen mit allen Sinnen gehört eine „Schlender-Weinprobe“, eine Weinführung in die zisterziensische Weinkultur, die unten in der düsteren Fraternei, dem Brüdersaal, endet: Der einstige Schreibsaal wurde um 1500 zur Weinschatzkammer, wo bis heute Qualitätsweine gelagert werden, Fässer in Reih und Glied unter dem mächtigen Kellergewölbe, beleuchtet von einzelnen dicken Kerzen. Später, in der Klosterschänke, mundet ein fruchtig-frischer „Steinberger“, ein Riesling Kabinett aus dem Cabinetkeller unter uns. Die restlichen Wanderkilometer schwänzen wir und nehmen ausnahmsweise einen der vielen Regionalzüge zwischen all den Rheinstädtchen zurück nach Rüdesheim.

Und dann erwischt uns die Rheinromantik doch noch mit voller Wucht – vom Loreley-Schiff aus am nächsten Tag. Die linksrheinische Burg Rheinstein erhebt sich seit dem 14. Jahrhundert so dramatisch steil über dem Fluss, dass wir sie am letzten Wandertag von Nahem betrachten wollen. Auf dem Rheinburgenweg ist’s leicht möglich. Er führt entlang dem Rhein und durch den Binger Wald zu der sogenannten Hangburg, die auf einem knapp hundert Meter hohen Felssporn thront und wirklich noch erobert werden muss. Selbst der steile Besucherzugang vom Rheinufer musste in engen Serpentinen angelegt werden – und ist man oben angelangt, kommt man aus dem atemlosen Staunen nicht mehr raus.

Prinz Friedrich von Preußen ließ das verfallene Gemäuer im 19. Jahrhundert restaurieren, inklusive Burggarten und Kapelle mit Preußengruft, heute Inbegriff der Rheinromantik. Noch vor 40 Jahren wohnte hier eine Herzogin und Enkelin des deutschen Kaisers – ohne Strom! –, bis die Burg 1975 zum Verkauf stand: Einzige und offenbar finanziell potente Interessenten waren die Bettelmönche der Hare-Krishna-Sekte. Die konservative Region zeigte sich alarmiert. Kurzentschlossen kaufte dann der Opernsänger Hermann Hecher das von Fledermäusen und Turmfalken bewohnte deutsche Kulturgut. Ein Schnäppchen für 360 000 D-Mark.

„Mein Vater war ein sehr emotionaler Mensch, und das war wohl etwas blauäugig“, erzählt Markus Hecher lachend, „denn erst danach wurde ihm klar, wie teuer die Instandhaltung wird.“ Die Restaurierung von Bausubstanz sowie Decken- und Glasmalereien, die Elektrifizierung und der Rückkauf der antiken Originalmöbel hätten seinem Vater schlaflose Nächte beschert. In den vergangenen 30 Jahren hat die Familie Hecher, die in der Burg lebt, rund vier Millionen Euro investiert, dazu kamen Fördermittel von Rheinland-Pfalz und Förderverein.

Heute ist das romantische Gemäuer dank Markus Hecher und zahlreichen guten Burggeistern aus dem Dornröschenschlaf erwacht. Der Besucher erklimmt enge Wendeltreppen und abgetretene Holzstiegen, wandelt durch Rittersaal und durch Erkerzimmerchen. Die Burg ist ein verwinkeltes Schmuckstück mit Buntglasfenstern, „doppelten“ Türen (spitzbogige kleinere Türen in den rechteckigen Holztüren), Himmelbetten, Ritterrüstungen und Kanonen. Stunden, ach, Tage und Nächte möchte man hier stöbern und sich immer aufs Neue verirren.

Martina Miethig

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