Reise: Im Zauberreich der Spree
Mit dem Rad immer am Fluss entlang – von der tschechischen Grenze bis zum Müggelsee
Berlin zu verlassen, um einige Tage später wieder zurückzukehren, ist nichts Besonderes. Jeder macht das zuweilen. Spannend wird es erst, wenn man sich für die Rückreise alle Zeit der Welt nimmt. Naja, fünf Tage zumindest. So viel muss nämlich einplanen, wer ohne sportlichen Ehrgeiz von Eibau aus, hart an der tschechischen Grenze, auf dem 420 Kilometer langen Spreeradweg in die Hauptstadt zurückradeln will.
Aller Anfang ist schwer, bei diesem Radlunterfangen zumal. Denn im ersten Abschnitt geht es immer wieder auf und ab, und vom Flüsschen unserer Wahl ist rein gar nichts zu sehen. „Da kann man ja auch irgendwo sonst radeln“, schmollt die Liebste, während sie sich den Schweiß von der Stirn wischt. Auch der Rundbrunnen von Neugersdorf, der als eine der drei Spreequellen bezeichnet wird, vermag nicht so recht zu begeistern. Das Wasser verschwindet unterirdisch ins nahegelegene Freibad. Das wär’s jetzt natürlich – aber wir haben heute noch einiges vor, genauer: 50 Streckenkilometer.
Umso versöhnlicher die ausgiebige Pause auf der Kuppe des Hainbergs: Im Schatten alter Bäume liegend, schauen wir in die stillen Hügellandschaften Tschechiens hinüber – weite Kornfelder, die von Waldstücken unterbrochen sind. Die Zeit steht still. So etwa muss die Welt einmal ausgesehen haben, bevor sich der moderne Siedlungsbrei über sie ergoss.
Es folgt eine wilde Abfahrt – direkt an der ehemaligen Grenze entlang. Die beschauliche Landschaft bildet wieder die Einheit, die sie so lange Jahrhunderte gewesen war. Das Sträßchen führt von Dorf zu Dorf, Autos sind aber fast keine unterwegs. Erste Anflüge von Urlaubsstimmung – das pastorale Landschaftsbild, der belebende Fahrtwind, die berauschende Stille.
Wenig später rollen wir nach Neusalza-Spremberg hinunter. Endlich, die Spree. Der Faden, an dem wir uns die nächsten Tage entlanghangeln werden. Gerade mal vier Meter breit, plätschert das muntere Flusskind unter der alten Brücke hindurch. Das Wasser ist glasklar, das Ufer wundervoll eingewachsen, Auwald wölbt sich über die Szenerie, Fische tummeln sich unter der spiegelnden Wasseroberfläche. Mit dem braungrünen Schiffskanal, den der Hauptstadtbewohner als Spree kennt, hat dieses Gewässer nicht das Geringste zu tun.
Nicht weniger inspirierend ist das zum Museum umfunktionierte Reiterhaus, das Wahrzeichen des Städtchens. 1660 erbaut, gehört es zu den faszinierendsten Beispielen der Umgebindebauweise. Sie besteht aus einer ausgefeilten Kombination zwischen Block- und Stützkonstruktion, dem „Umgebinde“. Nur hier, in der Oberlausitz, gibt es diesen markanten Haustyp. Warum macht man eigentlich Interkontinentalflüge, um sich an ungewöhnlichen Siedlungs- und Bauformen zu erfreuen?
Jedenfalls ist der Bann gebrochen. Von nun an ist alles so, wie wir es uns vorgestellt hatten: Auf steigungsarmen Teersträßchen folgen wir der Spree durch unverbaute Talauen. Störche sind hier keineswegs eine Rarität, wie wir geglaubt hatten. Im Schilf melden sich die Frösche zu Wort, die noch nicht in einem langen Schnabel verschwunden sind.
Mit Bautzen folgt die erste Stadt an der Spree – ein wahrlich sehenswertes mittelalterliches Ensemble mit atmosphärischen Plätzen, markanten Stadttürmen und Resten einer eindrucksvollen Wehrmauer. Zum Abendessen gehen wir ins Wjelbik, einem sorbischen Altstadtlokal. Speisekarte und Kostüme des Personals erinnern daran, dass die gesamte Region im 6. Jahrhundert von einem slawischen Stamm kultiviert wurde, den sogenannten Lusizern. Freilich droht das kulturelle Leben auch hier zur Folklore zu werden. Nur in kulinarischer Hinsicht ist alles beim Alten geblieben: Die gefüllte sorbische Rinderroulade schmeckt so hervorragend wie die böhmischen Knödel, die dazu gereicht werden.
Vom Anblick der Wunden, die der jahrzehntelange Tagebau der Oberlausitz geschlagen hat, bleiben Spreeradler weitestgehend verschont. Die einzige Begegnung mit der landschaftsfressenden Rohstoffindustrie der DDR findet bei Bärwalde statt. Doch auch hier steht der Freizeitnutzung nichts mehr im Wege – das Loch in der Landschaft ist fast vollständig mit Wasser vollgelaufen. Die Talsperre von Spremberg wird hingegen schon länger als Erholungsrevier genutzt. Kein Wunder, denn mit Sandstränden und Strandkörben, Campingplätzen und Cafés hat das Areal fast den Charme eines alten Seebads.
Inzwischen haben wir den Haupttrumpf des Spreeradwegs erkannt – seinen Abwechslungsreichtum. Mal geht es direkt am Fluss entlang, mal erradelt man sich ohne allzu große Steigungen herrliche Aussichtspositionen oder ist auf einer honeckerschen Betonschneise unterwegs, dann wieder auf neu asphaltierten Radwegen oder schmalen Naturpfaden, wo einem das Laub der Bäume an den Ohren vorbeirauscht.
Am eindrücklichsten sind freilich letztere. Zu unserer Verblüffung finden sie sich weniger in dörflichen Regionen als auf den letzten Kilometern vor den Städten. Vor allem nach Cottbus gelangt man auf behaglichen Naturwegen, die auf baumbestandenen Dämmen fast bis ins Zentrum führen. In solch bezaubernden Passagen werden einem die Vorzüge einer Radreise deutlich: Man erreicht die urbanen Zentren auf völlig ungeahnte Weise, erfährt deren Eingebundensein in die natürliche Umgebung. Autofahrern entgeht so etwas stets.
Wer das Zauberreich des Oberen Spreewaldes durchquert hat, erreicht Lübbenau, das „Venedig“ der Region. Für den Spreeradler die erste Begegnung mit touristischem Massenbetrieb. Am Oberlauf lagen selbst die Pedaltreter nur knapp über der Nachweisgrenze. Ganz offenbar hat die Route noch nicht die Bekanntheit, die sie verdient. Stefan Mahling, unser Hotelier in Bautzen, hatte dies mit der Nähe zu den höchst erfolgreichen Radwegen an Elbe und Oder-Neiße erklärt. „Die Spree steht da einfach im Schatten.“
In Lübben verebben dann die Ausflüglerströme wieder. Dafür nimmt die Ursprünglichkeit des Landschaftsbildes zu. Fast zwei Stunden rollen wir durch eine Wasserlandschaft mit zahllosen Teichen und Seen – ohne Autos, Asphalt und überfüllte Einkehrstationen. Eindeutiger Höhepunkt ist das Naturschutzgebiet Innerer Unterer Spreewald. Drosselrohrsänger und Teichrohrsänger sorgen hier dafür, dass einem die Stille nicht unheimlich wird. Drüben, am anderen Ufer, sitzt ein Seeadlerpärchen im kahlen Wipfel eines hohen Baumes, während Fischadler und Schwarzer Milan noch auf Beuteflug sind.
Leider folgen dann ein paar echte Durststrecken: Zwischen Schlepzig und Alt- Schadow geht es quälend lang auf einer Landesstraße dahin und auch nach Beeskow hat man es sich bei der Linienführung allzu einfach gemacht. „Asphalt auf den Forstweg kippen, und fertig!“, hieß offenbar die radtouristische Entwicklungsstrategie. Befürchten die Menschen, dass ein Aufschwung ihre Ruhe stören könnte?
Kurz vor Fürstenwalde vereinigt sich die Spree mit dem Oder-Spree-Kanal. Man sieht nun, was aus munteren Flüsschen wird, wenn sie zu Wasserstraßen ausgebaggert werden. Vorbei scheint es mit den kleinen Glücksmomenten, die wir in den vergangenen Tagen immer wieder erlebt haben – entlang amazonashafter Seitenarme, in den Wiesen am Fluss und auf rustikalen Holzstegen.
Doch so unvermittelt wie die kleinräumige Flusslandschaft verschwunden war, kehrt sie auch wieder zurück: Am Stauwehr Große Tränke biegt der Kanal Richtung Dahme ab. Die Spree leiht sich etwas Wasser und beginnt wieder durch pastorale Talauen zu mäandern – von Hangelsberg nach Mönchwinkel und weiter nach Hartmannsdorf. Dann wird sie zur Müggelspree und schließlich zum Müggelsee – das letzte Aufbäumen eines naturnahen Fließgewässers, bevor es in engen Kanälen durch die Stadt getrieben wird. „Viel zu schnell ging das alles“, resümiert die Liebste unsere bisher langsamste Rückreise nach Berlin. Recht hat sie!
Gerhard Fitzthum
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