Ecuador: Im Tal der Hundertjährigen
Vilcabamba ist ein Dorf im südlichen Ecuador. Auffällig viele Menschen werden hier steinalt. Wissenschaftler rätseln
Augusto gerät ins Schwärmen, wenn er von seiner Heimat erzählt. „Wir haben das beste Klima der Welt!" Augusto ist Taxifahrer in Vilcabamba und beim Aufzählen der Dinge, die sein Dorf so einzigartig machen, vergisst er beinahe, auf die Straße zu schauen. Hier, 1500 Meter über dem Meeresspiegel am Rande des Bergnebelregenwaldes im südlichen Ecuador, sei alles viel besser: das Wasser gesünder, die Luft sauberer, Diebe gebe es auch keine. Für Augusto ist es kein Wunder, dass hier die Menschen überdurchschnittlich alt und Schwerkranke wieder gesund werden.
In den 1970er Jahren erlangte das abgelegene Dorf in der Provinz Loja Weltruhm. Ein Artikel in der US-amerikanischen Zeitschrift „National Geographic“ nannte drei „Inseln der Langlebigkeit“: Hunza im pakistanisch kontrollierten Teil Kaschmirs, Abchasien und eben Vilcabamba in Ecuador. Mit dem Trek der Wissenschaftler kamen auch die ersten Rucksackreisenden in die 4000-Seelen- Gemeinde. Einige dieser Pioniere suchten allerdings vor allem die berauschende Wirkung der San-Pedro-Kaktus, die von den Schamanen seit Jahrhunderten zur Heilung verschiedener Leiden genutzt wurde und rings um Vilcabamba wächst.
Die Einheimischen fanden nichts dabei, dass die Gringos scharf auf die Drogen waren. Schließlich wurden selbst Schweinen und Pferden geringe Dosen der halluzinogenen Pflanze verabreicht. „Sanpedrillo ist eine kulturelle Sache“, erklärt Jaime Mendoza, Besitzer des Madre Tierra, ein schickes Hotel, versteckt in einem riesigen, blühenden Garten vor den Toren Vilcabambas. „Jeder hier hat es einmal genommen.“
Die Touristen, die den Freunden des Naturrausches nach Vilcabamba folgten, wollten jedoch vor allem auch die größte Attraktion des Ortes sehen: uralte Menschen. Noch heute hängen in einem Glaskasten der Tourismusinformation die Namen von 13 Bewohnern aus, die in den 1970er Jahren belegbar zwischen 90 und 110 Jahre alt gewesen sein wollen. Dass darunter schamlose Übertreibungen waren, weiß auch Jaime Mendoza. Noch im November vergangenen Jahres gratulierte ihm Albertano Roa zur Silberhochzeit, der von sich behauptet, er sei 124 Jahre alt. „Das ist natürlich Unsinn“, sagt Jaime Mendoza lachend, „jeder in Vilcabamba weiß, dass Albertano nur 120 Jahre alt ist.“
Zweifel an dem tatsächlichen Alter der Hundertjährigen wurden trotz Eintragungen in Kirchenbüchern von Wissenschaftlern immer wieder angemeldet. Bemerkenswerter als das Alter fanden Mediziner den Befund, dass die vorgeblichen Hundertjährigen in Vilcabamba zwar nur die Hälfte der in Europa konsumierten Kalziummenge zu sich nehmen, aber so gut wie nie an Osteoporose leiden. Selbst ein gebrochener Knochen in hohem Alter heile fast immer problemlos. Andere fanden heraus, dass die Konstitution der Herzen der Hundertjährigen vergleichbar war mit den Herzen von 45-jährigen Städtern.
Derartige Überlegungen der Forscher interessieren Luiz Bejareno wenig. Der waschechte Gaucho sitzt lieber schweigend auf einem seiner Pferde und führt Touristen in die Berge, wo er von allem und jedem in Ruhe gelassen werden möchte. Viel Ruhe, das mineralienreiche Wasser aus den Flüssen in Vilcabamba, nur selbst produzierte, fettarme Lebensmittel, kein weißer Zucker und nur ungeschälter Reis – das sei alles was man brauche, um alt zu werden. „Wissenschaft“, stößt er verächtlich unter seinem breitem Hut hervor. Brauche er nicht.
Im Übrigen trauert er immer noch um seine vor zwei Jahren verstorbene Mutter, die leider früh, zu früh, das Zeitliche gesegnet habe – sie wurde nur 97 alt.
Doch was ist es nun, das die Menschen in Vilcabamba so alt werden lässt? Japanische Forscher zählten mit einer Maschine negative Ionen und meinten, die Luft sei es. Andere Forscher wiederum untersuchten das Wasser und glaubten, die Mineralien darin machten den Unterschied. Esoteriker kamen und fanden in Vilcabamba das „Herz der Erde“, das hier pulsiere und die Menschen gesund erhalte. Was es nun genau ist, ist den Einheimischen meist gleichgültig. Der Kanadier Marcel weiß nur, dass er vor acht Jahren nach zwei Herzinfarkten dem Tod näher war als dem Leben. Er kam nach Vilcabamba, um seinen Lebensabend zu genießen, fand aber in den sanft geschwungenen Bergen seine körperliche Fitness wieder. Das milde Klima, meint Marcel, sei unschlagbar, wenn es darum ginge, ein gutes Leben zu führen. Die Temperaturen schwanken stets zwischen 18 und 22 Grad Celsius, die Luftfeuchtigkeit beträgt 77 Prozent, jähe Wetterwechsel gibt es nicht.
Derartig freundliche Bedingungen fanden schon vor Hunderten von Jahren bei den Inka Anklang. In ihrer Sprache, dem Quichua, hieß das Tal Huilcopamba, heiliges Tal, nach dem für sie heiligen Huilco-Baum. Heute bemühen sich Orlando und Alicia Falco von der Rumi Wilco Ecolodge, die letzten verbliebenen Huilco-Bäume zu schützen. Die beiden argentinischen Biologen leben seit 13 Jahren in Vilcabamba. Sie bieten Touren in das von ihnen vor zwei Jahren gegründete 40 Hektar große Naturreservat an, das sich direkt an ihre Lodges anschließt. Von den einfachen Holzhäusern am Rio Chamba, die mit Strom und fließend Wasser ausgestattet sind, lassen sich Vögel und Schmetterlinge beobachten.
Wem die an der Rumi Wilco Lodge vorkommenden rund 90 Vogelarten nicht ausreichen, kann an der Plaza Vilcabambas bei Luiz Bejareno im Centro Ecuestre einen Pferderitt in den nahegelegenen Podocarpus Nationalpark unternehmen. Der ist einer der bedeutendsten Naturparks der kleinen Andenrepublik und zieht bereits seit längerem internationale Forschergruppen an. Denn in den Bergnebelwäldern des rund 150 000 Hektar großen Gebiets wachsen schätzungsweise 3000 bis 4000 verschiedene Pflanzenarten. Vor allem die endemischen Orchideen, Bromelien und Farne – Pflanzen, die nur dort und sonst nirgendwo vorkommen – interessieren die Wissenschaftler. Das Artenreichtum der Fauna ist einzigartig: Allein 600 verschiedene Vogelarten wurden bisher gesichtet. Dazu gehört der sagenumwobene Felsenhahn, der mit seinem goldig schimmernden Gefieder für die Inka Ausdruck höchster Ehre war. Selten Papageien sind zu bewundern, Kolibris und der erst vor kurzem entdeckte Jocotoco Antipitta.
Patricio Alvarez wird nicht müde, die Schönheit des Podocarpus Nationalparks zu rühmen. Der 31-Jährige ist Vorsitzender von Avetur, einem Zusammenschluss einheimischer Führer und sechs Hotels, die sich zum Ziel gesetzt haben, „ein Bewusstsein für das fragile Ökosystem Bergregenwald zu schaffen“. 100 Pferde stehen Avetur zur Verfügung, auf denen Touristen in ein bis fünf Tage dauernden Touren den Park erkunden können.
Der neue Renner, so hofft Patricio, soll die Tour von Vilcabamba nach Loja werden. Bisher müssen die Touristen bei ihrer Hin- oder Rückreise den Minibus nehmen, der sie in die 42 Kilometer entfernte Provinzhauptstadt Loja bringt; eine gute Stunde dauert die Fahrt über die kurvige Straße. Nun aber kann der Weg quer durch den Park in zwei Tagen mit dem Pferd zurückgelegt werden. Werde dieses Angebot angenommen, komme Avetur dem Ziel des nachhaltigen Ökotourismus wieder näher: Zum einen sollen mit den Einnahmen einige der 33 Führer als Wächter im Podocarpus Nationalpark angestellt werden, die darauf achten, dass niemand illegal jagt oder Orchideen sammelt; zum anderen sollen die Menschen, die in der Nähe des neuen Reitpfades leben, davon abgehalten werden, Holz zu schlagen oder sogar Brände zu legen, um so an Geld zu kommen. Wer Interesse an der Tour haben könnte? Da besteht für Patricio Alvarez kein Zweifel: „Die Deutschen“, sagt er lächelnd, „die lieben die Natur.“
Gut zwei Kilometer außerhalb Vilcabambas haben sich Peter und Dieter Schramm aus Monheim mit ihrer Hostería Izhcayluma aus dem deutschen Alltag verabschiedet. 1997 lernten die Brüder das verträumte Städtchen am Fuße des Mandango kennen und lieben. Schnell fanden sie das geeignete Grundstück: Izhcayluma, die zwei Hügel. Ohne Architekt, „alles auf einem karierten DIN A4-Blatt geplant“ renovierten sie die dort liegende alte Finca, bauten Gästebungalows, deckten die Dächer mit Palmenblättern, hoben ein Schwimmbad aus und führten Käsespätzle in die eher fantasielose ecuadorianische Küche ein.
Ihren Umzug nach Vilcabamba haben die Brüder „bis jetzt keinen Tag bereut“. Das kleine Hotel läuft ausgesprochen gut, sie beschäftigen 17 Angestellte und überlegen anzubauen. „Klar“, geben sie lachend zu, „in Vilcabamba ist der Hund begraben.“ Schön, es gibt die Klatschbörse, jeden Tag um 17 Uhr, wenn sich vor allem die Neubürger im „El Punto“, einem kleinen Café, treffen. Es wird ebenfalls von einem Deutschen geführt, der sogar ordentliches Brot backt. Dazu gesellt hat sich ein belgischer Chocolatier, der auch amerikanisches Bananenbrot fabriziert. Doch um ins Kino zu gehen, müssen die Schramms manchmal in das sechs Busstunden entfernte Cuenca fahren. Gleichwohl: In Vilcabamba schießen die Grundstückspreise in die Höhe. Einheimische können sich inzwischen kaum noch ein eigenes Häuschen leisten.
Tauschen mögen die Brüder Schramm trotz allem nicht mehr. Ihnen gefällt die gelassene Lebensweise der Ecuadorianer. Sie genießen es, im Schatten eines mit Orchideen und Bromelien bewachsenen Faique-Baumes zu sitzen und ihr Abendprogramm der ganz besonderen Art zu genießen: Wenn sie in den Sternen übersäten Himmel schauen, suchen sie nach den blinkenden und kreisenden Lichtern, die die Einheimischen für Ufos halten. Und das, meinen Dieter und Peter Schramm, sei doch allemal unterhaltsamer als das Fernsehprogramm in Deutschland.
Ute Zimmermann
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