Schwerin: Heiter wie die Nymphen
Schwerin gleicht einer Schatztruhe in schönster Landschaft: Nun wird die Stadt 850 Jahre alt – und feiert gebührend.
Jahrelang fristete das Gebäude ein Schattendasein. Niemand erbarmte sich der bröckelnden Fassade, der maroden Fenster und des lecken Daches. Ein vergessenes Schmuckstück, ohne Zweifel, und das an einer der besten Adressen, gleich vis-à-vis vom Schweriner Schloss. Selbst zur Bundesgartenschau im vergangenen Jahr blieb das Landeshauptarchiv von Planen verhangen, als hätte der Verhüllungskünstler Christo Mitleid gehabt. Rechtzeitig zum Jubiläum der Stadtgründung Schwerins vor 850 Jahren strahlt das Erinnerungsdepot in gedecktem Weiß, und die frisch vergoldeten Verzierungen erinnern eindrucksvoll an den Glanz des Jugendstils.
Im Foyer wurden hinter dem Putz sogar kunstvolle Art-déco-Malereien hervorgeholt und sorgsam restauriert. Zufriedener als über den neuen türkisfarbenen Wandschmuck ist der Chefarchivar Andreas Röpcke jedoch über das älteste Dokument zur Stadtgeschichte von 1171, das im nun auch klimatisierten Kellermagazin lagert. Es ist die Stiftungsurkunde von Heinrich dem Löwen für das Bistum Schwerin. „Dass die Stadtgründung einige Jahre vorher stattfand, ist gut möglich, aber durch nichts belegt“, erklärt Röpcke. „1160 ist ein traditionelles Datum.“
Ein Ereignis, das die Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern mit zahlreichen Veranstaltungen groß feiert. Höhepunkt ist das Festwochenende vom 4. bis 6. Juni – auch dies ein zufälliges Datum. Schwerin nimmt die Besucher auf eine Zeitreise mit. Bei dem drei Kilometer langen Prunkumzug ziehen mehr als 550 Menschen in historischen Kostümen, 40 Pferde, Kutschen und Wagen in 44 vom Staatstheater inszenierten Bildern durch die Stadt. Bilder, die die Stadtgründung, die Ära der Herzogsresidenz, das Wirken von Hofbaumeister Adolph Demmler, die Wendezeit bis hin zur Gegenwart repräsentieren. Auf dem Altstädtischen Markt findet ein Mittelaltermarkt statt, bei der Schelfkirche ein Barockfest und auf der Burginsel das Schlossfest.
Das Schweriner Kunstmuseum hatte zum Anlass regionale, nationale und internationale Künstler eingeladen, sich ein Bild von der Stadt zu machen. Seit April zeigt es das Ergebnis in der Ausstellung „Schwerinblicke – Künstlersichten“, darunter auch die des Schweizers Daniel Spoerri, Erfinder der EatArt und AbArt, der sein „Petit Musée Sentimental de Schwerin“ in Schaukästen präsentiert. Musikalisch erbauen die Schlossfestspiele vom 25. Juni an mit Verdis Oper „Macht des Schicksals“, open air.
Mit Niklot, dem Stammvater der Mecklenburger Herzöge, meinte es das Schicksal freilich nicht so gut. Echter Opernstoff, und auch hier ging es um Macht. Auf der Burginsel, wo sich heute das Schweriner Schloss märchenhaft und ockergelb am Ufer des Schweriner Sees erhebt, stand vor 850 Jahren noch die Burg des Obotritenfürsten. Als Heinrich der Löwe im Jahr 1160 anrückte, setzte Niklot seine Festung in Brand, geriet in einen Hinterhalt und wurde gemeuchelt. Der dramatische Tod Niklots ist besser belegt als die Stadtgründung.
Der letzte Obotrit bekam in Schwerin einen prominenten Platz. In der großen Nische über dem Hauptportal des Schlosses ist sein Denkmal platziert, wo er auf dem Pferd reitend die Schwerin-Besucher zu grüßen scheint. Eine späte Ehrung, die im 19. Jahrhundert der Berliner Bildhauer Christian Genschow ausführte, zu dessen Hauptwerk das Reiterstandbild zählt. Auch die beiden Rossbändiger an der Schlossbrücke stammen aus seiner Werkstatt.
Überhaupt führt kein Weg am Schloss vorbei. Es ist das Schmuckstück der Stadt. Und steht man davor, könnte man fast glauben, das französische Chambord zu erkennen. Tatsächlich stand die Berühmtheit an der Loire Patin für Schwerin. Stunden könnte man davor stehen und träumen, sich von der glitzernden Goldkuppel blenden lassen, Türme und Türmchen zählen, nicht zu vergessen die vielen Nischen, Erker, Balustraden, Fenster, Flügel und Flügelfiguren, hinter denen sich manch Geheimnis aus der langen Geschichte verbirgt. Was wir heute sehen, ist nur 150 Jahre alt. Denn von der slawischen Burg bis zur Fürstenresidenz wurde unablässig gebaut, geändert, erweitert. Am prägendsten wirkte Hofbaumeister Georg Adolph Demmler, ein Schinkel-Schüler, der dem Ensemble sein heutiges Gesicht gab, dessen Baupläne jedoch vom Berliner Architekten August Friedrich Stüler vollendet wurden. Und weil das Schloss alle so verzaubert, feilt die Stadt bereits am Antrag, den Bau in die Welterbeliste der Unesco eintragen zu lassen.
Zum Lustwandeln ist der Schlosspark da, der die herrschaftliche Pracht des alten Fürstenhauses durch die Gartenbaukunst des 18. Jahrhunderts versinnbildlicht. Die erneuerten Lindenreihen mögen durch die Symmetrie erst etwas streng wirken, erscheinen aber bald wie ein „Lustwäldchen“ samt der Nymphenskulpturen, Kaskaden und Laubengänge. Im Burggarten auf der Schlossinsel werfen schwülstige Bronzeplastiken und Engelsskulpturen ihre Schatten. Grotte, Orangerie, Kolonnadenhof und die kleine Liebesinsel präsentieren sich als lauschige Plätzchen. Wer noch nicht müde ist, kann zum Garten des 21. Jahrhunderts weiterschlendern, einer „Schwimmenden Wiese“ mit Seerosen und einer in den See führenden Ruhetreppe. Nichts Kantiges, nichts Scharfes, nichts Sperriges stört den Blick.
Von der Burgseeinsel führt die Schlossbrücke mit Kandelabern und Schilderhäuschen zur Altstadt hin. Wenn man die klassizistischen Kollegiumsgebäude, das alte Palais, das neobarocke Staatstheater, die engen Gassen mit Fachwerkhäusern und Stadtvillen ausgiebig erkundet hat, landet man auf dem Marktplatz. Gelassen nimmt hier der altehrwürdige Dom seine langsam vorangehende Schönheitspflege hin, für die die Gemeinde immer noch Spenden sammelt. Das Gotteshaus zählt zu den klassischen Beispielen der norddeutschen Backsteingotik. Der 120 Meter hohe Turm bietet den besten Blick auf die Stadt und die weite Landschaft mit ihren sieben Seen. Vor dem Genuss stehen allerdings 220 Stufen.
Auf dem Markt kommt man dem Löwen wieder auf die Spur, was in dieser Stadt fast unausweichlich erscheint. Unter dem Domturm ragt die Löwensäule des Nürnberger Bildhauers Peter Lenk in die Höhe, die spöttelnd Heinrich als Städtegründer, aber auch -zerstörer, als stolzen Herrscher und apokalyptischen Reiter darstellt. Die kritische Geschichtspyramide von 1995 war heftig umstritten. Denn Stammvater Niklot hin oder her, in Wahrheit lieben die Schweriner Heinrich den Löwen mehr. Schon im Mittelalter passierte etwas Ungewöhnliches. „Die Stadt übernimmt das Siegelbild des Gründers Heinrich, ein typisches Fürstensiegel“, erklärt Archivleiter Röpcke. Während Stadtwappen meist Tore und Mauern aufweisen, wie auch das Berliner Siegel von 1253, haben die Schweriner seit jeher den gewappneten Reiter. Mehr Identifikation ist kaum möglich.
Heinrich sprengte als stilisierter Reiter munter durch die Geschichte Schwerins. Nicht einmal der Sozialismus konnte ihm etwas anhaben. Für die 850-Jahr-Feier wurde zwar noch ein neues Reiter-Logo entworfen, doch die Marketingexperten für den Schwerin-Tourismus erkoren die Schlosssilhouette zum Emblem der Stadt. Damit dürften die Zeiten Heinrichs gezählt sein. Nur im Archiv ist er noch sicher.
Beate Schümann
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