Bulgarien: Eselskarren von vorn
Abseits der Küste ist Bulgarien freundlich, idyllisch – und bisweilen bitterarm. Bei einer Radtour kommt man dem Land nah.
Wieder ein Storch. Auf der Blechdachkuppel hat er sein Nest gebaut, direkt neben einem Kreuz aus dickem Eisendraht. Jetzt streckt ein zweiter Weißstorch den Schnabel in die Luft, ein junger, der auf Nahrung wartet. Futter dürfte es genug geben, in diesen üppigen bulgarischen Wiesen voller bunter Blumen, in den Seen und Weihern, an denen wir vorbeiradeln, auf dem Weg durchs Balkan- und Rhodopengebirge. Der Trip führt von Sofia nach Welingrad, etwa 130 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Doch die Strecke, die wir mit dem Rad zurücklegen, ist mehr als doppelt so lang. Schließlich sind diverse Schlenker dabei, um die schönsten orthodoxen Klöster zu sehen und durch das historische Zentrum von Plovdiv zu schlendern, der mit rund 380 000 Einwohnern zweitgrößten bulgarischen Stadt.
Per Rad durch Bulgarien kurven, die Ankündigung erntet oft Kopfschütteln. Allenfalls die Schwarzmeerküste gilt in dem Balkanland als attraktives Reiseziel. Doch entgegen aller Vorurteile: Wir wurden weder übers Ohr gehauen noch ausgeraubt. Und auf der Tour durch den Westen des Landes finden sich in Dörfern mit so schönen Namen wie Ribaritza, Apriltzi oder Hissarja auch genügend Unterkünfte mit ausreichendem Komfort. Kleine idyllisch gelegene Landhotels, gelegentlich auch ein größerer Komplex, der an die sozialistische Vergangenheit erinnert, als hier noch Betriebsgruppen Quartier suchten. Mittlerweile ist Bulgarien in der EU angekommen und hat seine Tore für anspruchsvolle internationale Reisende weit geöffnet.
Auch Radler sind willkommen, das spürt man auf der ganzen Wegstrecke. Natürlich stößt so manches kleine Café an seine logistischen Grenzen, wenn die Schar erschöpfter, durstiger Pedaltreter die Getränketruhe plündert. Dann bietet der freundliche Wirt die landestypischen Alternativen zur Limonade an, und es zeigt sich, wie gut Kefir schmecken kann. Sehr gesund ist dieses Sauermilchgetränk, glaubt man Mini, unserem drahtigen, grauhaarigen Reiseführer. Als Beleg führt er den Namen der Milchsäurebakterien an: Lactobacillus bulgaricus. Dass die Bulgaren auch im hohen Alter noch so fit seien, liege am vielen Joghurt und Schafskäse, den sie verzehrten.
Demnach müsste die Lebenserwartung der zehn Radler in dieser Tourwoche gestiegen sein, denn Schafskäse gibt es nicht nur zum Frühstück. Er findet sich als Beilage nahezu jeder Mahlzeit neben Tomaten und Gurken im leckeren Shopska-Salat, etwa zu Kawarma, im Tontopf gebratenem Schweinefilet. So ist es auch im Gasthaus am malerischen Kloster Glozhene aus dem 13. Jahrhundert, das wie ein Adlerhorst hoch oben am Felsen klebt.
Hinauf ins Balkangebirge sind wir per Bus gefahren, die Räder auf dem Anhänger. Am ersten Vormittag in Sofia hatte Mini erst mal die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der bulgarischen Hauptstadt gezeigt, dem Ausgangspunkt der achttägigen Tour. Zu viele Autos fahren in Sofia herum – und stehen meist im Stau. Zu Fuß ist man schneller. So steigen wir zunächst in den Untergrund, denn zur kleinen Kirche Sweta Petka Samardschijska aus dem 14. Jahrhundert kann man nur durch die Unterführung der U-Bahn gelangen. Das äußerlich unscheinbare Gebäude ist im Innern reich mit Fresken geschmückt. Unweit davon ragt das Minarett der Banja- Baši-Moschee aus dem 16. Jahrhundert in den Himmel, eines der wenigen erhaltenen Gebäude aus der osmanischen Zeit.
Der Innenhof des Sheraton-Hotels beherbergt die Rotunde des Heiligen Georg. Das Gebäude stammt aus dem 4. Jahrhundert, als Sofia das Zentrum der römischen Provinz Thrakien war. Ursprünglich war dort ein römisches Bad, dann diente die Rotunde als Kultstätte, später wurde – mit einem Zwischenspiel als Moschee während der Türkenherrschaft – eine mit Wandmalereien geschmückte Kirche daraus.
Mini zeigt uns im Schnelldurchgang Nationaltheater, Parlament, Präsidentenpalast und die Universität. Kyril und Metodij, die Begründer der kyrillischen Schrift, stehen als beeindruckend große Statuen vor der Nationalbibliothek. Der russische Zar Alexander II., der Befreier Bulgariens vom osmanischen Joch, sitzt hoch zu Ross. Nicht weit davon leuchten die goldenen Kuppeln der herrlichen Alexander-Nevski-Kathedrale, das Wahrzeichen Sofias.
Die Ausfallstraßen säumen trostlose Plattenbauten und Industriebrachen. In der Ferne erscheint das blaue Band des Balkangebirges. Werden wir diese Berge per Rad erklimmen können? Das bange Gefühl legt sich rasch, denn der Kleinbus erspart uns die schlimmsten Steigungen und nimmt jederzeit die Radler auf, die müde sind oder es einfach langsamer angehen lassen wollen. So ist die Route, trotz einiger lang gezogener Anstiege und gelegentlich stark befahrener Landstraßen, auch für Gelegenheitsradler gut zu bewältigen.
Die traumhaft langen Abfahrten auf meist geteerten Gebirgsstraßen lassen die Radreifen schneller und immer schneller rollen, eine gefährliche Sache angesichts von Schlaglöchern, Kiesel oder Sand auf der Fahrbahn. Urplötzlich taucht hinter der Kurve eine Baustelle mit Schotter auf, das abrupte Bremsmanöver führt zum Sturz. Das Knie ist aufgeschürft; die Bremsen sind kaputt. Hilfe kommt von Todo, unserem jungen Reisebegleiter und Fahrradexperten. Er bietet im Tausch sein Fahrrad an, flickt notdürftig das Bremsseil und schafft es so ins Hotel. Am nächsten Morgen präsentiert er ein perfekt repariertes Rad, die Fahrt kann weitergehen.
Wir tauchen ein in eine abwechslungsreiche Landschaft, deren Schönheit sich auf dem Fahrradsattel viel besser genießen lässt als hinter einer Windschutzscheibe. Schmale Pfade führen durch üppige Vegetation, durch dichte Wälder, Blumenwiesen und Ziegenweiden. Stille Seen laden zum Baden ein. In Bergdörfern begegnen uns Pferdefuhrwerke und Eselskarren. Schmucke Häuser mit schmiedeeisernen Gittern, an denen Wein rankt, künden von bescheidenem Wohlstand.
Doch es gibt nicht nur Idylle: Fabriken zerfallen, Mauern bröckeln, durch löchrige Dächer tropft der Regen. An den Straßen kauern Menschen mit zerlumpten Kleidern, einige betteln, oft sind es Roma. Manchmal laufen Kinder hinter den Touristen her. Sie lassen sich nicht abschütteln, bis sie ein paar Leva bekommen.
Mit klammem Gefühl radeln wir davon. Doch bald nimmt uns die Bilderbuchlandschaft wieder gefangen. Tief atmen wir die Luft ein im Tal der Rosen, in dem auch Lavendel und Pfefferminze blühen. Wir bestaunen das Kloster Batschkovo und die gewaltigen Felsen, die „steinerne Brücken“ bilden. Wir gehen kilometerweit in die riesige Jagodinska-Höhle mit ihren spektakulären Tropfsteingebilden und trinken aus den Mineralquellen von Hissarja, dem Heilbad, das die Römer Augusta nannten. Die Altstadt von Plovdiv, mit römischem Stadion, Amphitheater und den ansehnlichen Renaissance-Häusern steht unter Denkmalschutz.
Der Kopf ist voller Eindrücke, als wir die lange Abfahrt vom Dospat-Pass in die Bäderstadt Welingrad hinabsausen. 70 Kilometer sind wir zuvor durch das Rhodopengebirge geradelt. Die Tour ist zu Ende. Doch wenn es nach uns ginge, könnte sie gleich wieder von vorn beginnen.
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ANREISE
Bulgaria Air fliegt sechsmal in der Woche nonstop von Berlin-Tegel nach Sofia. Ticketpreise zwischen 200 und 300 Euro.
VERANSTALTER
Die beschriebene Tour wird unter dem Motto „Bulgarische Impressionen“ als achttägige geführte Gruppenfahrt von Eurobike angeboten. Kosten: 698 Euro pro Person im Doppelzimmer mit Halbpension, Einzelzimmerzuschlag 175 Euro. Übernachtung in gepflegten Hotels mit ausreichendem Komfort, teilweise mit Wellnessbereich. Unterwegs werden landestypische Restaurants aufgesucht, die bulgarische Spezialitäten anbieten. Weitere Starttermine in dieser Saison:
10. Juli und 11. September. Informationen im Internet: www.eurobike.at
ROUTE
Die Strecke führt durch das westliche Bulgarien. Start in Sofia, dann durchs Balkangebirge bis Gabrovo, weiter südlich bis Plovdiv, anschließend ins Rhodopengebirge. Das Ziel ist Welingrad. Ein Teil der Strecke wird per Bus zurückgelegt. Die Tagesetappen per Rad sind etwa 45 bis 70 Kilometer lang.
FAHRRÄDER
Aluräder mit Zwölf-Gang-Schaltung können bei Eurobike gemietet werden. Preis: 65 Euro
LITERATUR
Ausführlich: Baedeker Reiseführer Bulgarien, Juli 2009, 19,95 Euro
AUSKUNFT
Bulgarisches Fremdenverkehrsamt Frankfurt, Telefon: 069 / 29 52 84, E-Mail: d.slavov@web.de
Sehnsucht nach dem Orient
Insgesamt vier Mal reiste die Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach in den Jahren 1933 bis 1939 in den Orient, um, wie sie selbst schrieb, „die Sehnsucht nach dem Absoluten“ zu spüren. Nicht das Abhaken irgendwelcher Sehenswürdigkeiten war ihr Ziel, sondern das Kennenlernen der Fremde, das Trennende und das Verbindende. Reisen war für Annemarie Schwarzenbach das ganze Gegenteil vom klassischen Massentourismus all inclusive. „Die Reise aber“, schrieb die Reporterin, „die vielen als ein leichter Traum, als ein verlockendes Spiel, als die Befreiung vom Alltag, als Freiheit schlechthin erscheinen mag, ist in Wirklichkeit gnadenlos, eine Schule, dazu geeignet, uns an den unvermeidlichen Ablauf zu gewöhnen, an Begegnen und Verlieren, hart auf hart.“ Der Herausgeber Walter Fähnders hat 22 Texte aus den Jahren 1933 bis 1940 zusammengestellt, diese aber nicht chronologisch, sondern topographisch angeordnet. So entsteht „eine Art imaginärer Reise“, die von Istanbul über Damaskus, Bagdad und Teheran zu den Ruinen von Persepolis und schließlich durch die Wüsten Turkestans bis an den Hindukusch führen. Die Texte haben nichts von ihrem Charme verloren, sie sind sehr subjektiv, und die Autorin wirkt ansteckend mit ihrer Neugier, ihrer Sehnsucht und ihrer Wissbegierde. In einem Brief an Erich Maria Remarque schrieb Annemarie Schwarzenbach 1933: „Diese fernen Gegenden sind genau gemacht, um uns zittern zu lassen vor allem, was man nur ahnt und was einen doch angeht.“ Herausgekommen ist ein schönes und nachdenklich machendes Buch.Stefan Berkholz
Am kommenden Mittwoch wird der Herausgeber Walter Fähnders das Buch im Literaturforum im Brecht-Haus, Chausseestraße 125, vorstellen. Beginn: 20 Uhr.
— Annemarie Schwarzenbach: Orientreisen. Reportagen aus der Fremde. Edition Ebersbach, Berlin 2010, 192 Seiten, 19,80 Euro
Paul Janositz