Ohio und Michigan: Einladung zum Tanz
Cleveland und Detroit standen am Abgrund. Noch sind längst nicht alle Probleme gelöst, doch ein Besuch lohnt.
Totgesagte leben länger. Der Empfang ist auf jeden Fall herzlich: „Welcome to Cleveland!“ Was ist das? Werden hier jetzt Menschen engagiert, um Touristen einzeln willkommen zu heißen? Mitnichten. Die elegant gekleidete Frau, die wir im angesagten Viertel Tremont der zweitgrößten Stadt von Ohio nach der nächsten Bushaltestelle fragen, ist einfach nur eine von vielen hilfsbereiten, freundlichen Einwohnern. Die durch den industriellen Niedergang gebeutelte Metropole freut sich über Besucher – so zumindest der erste gute Eindruck.
Vielleicht sind die Bewohner auch nur froh über die eigene Wiederauferstehung. Denn die 400 000-Einwohner-Stadt am Erie-See hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Mit Höhen und Tiefen. Hier gründete Rockefeller seine Standard Oil Company, es folgten der Aufschwung der Stahlindustrie, des Schiffsbaus, ein boomender Hafenbetrieb entwickelte sich. 1950 war Cleveland die siebtgrößte Stadt der USA – mit allem Glanz und Dreck, den das mit sich brachte.
Der Niedergang der Stahl- und Automobilindustrie begann bereits Ende der 1960er Jahre, aus dem einst blühenden „Manufacturing Belt“ wurde der „Rust Belt“. Zurück blieb allein der Dreck. Und als die petrochemische Industrie abwanderte, brannte 1969 das Öl auf dem Cuyahoga River tagelang. Der Niedergang war unaufhaltsam. Es musste etwas passieren. Doch zunächst kam der Tiefpunkt: 1978 erklärte sich Cleveland als erste Stadt der USA nach der Wirtschaftsdepression der 1930er Jahre für zahlungsunfähig. Erst 1987 konnte dieser Schritt zurückgenommen werden. Mit der Stadt ging es wieder aufwärts.
Dann kam „Rock ’n’ Roll“
„Rock and Roll Hall of Fame and Museum“ lautete ein Teil der Erlösungsformel, für die sich neben anderen Ahmet Ertegün, Gründer des legendären Atlantic-Records-Labels, starkmachte. Der Hintergrund: In Cleveland war Anfang der 1950er Jahre erstmals das Zauberwort „Rock and Roll“ gefallen. Von dem weißen Radiomoderator Alan Freed, der anderen Weißen den Blues präsentierte. Und den Rhythm and Blues. Und das, was danach kam – und schließlich „Rock ’n’ Roll“ wurde. Seit 1995 ist nun die ehemalige Rebellenmusik museal. Und wenngleich es etwas seltsam anmutet, Rolling-Stones-Setlisten und Punk-T-Shirts in Vitrinen zu betrachten, so schaffen es die Kuratoren doch – nicht zuletzt durch die Orchestrierung –, bei den Besuchern für jenes lächelnde Gesicht zu sorgen, das man bei den Einwohner so oft sieht.
Ein bedeutendes klassisches Orchester hatte Cleveland natürlich zuvor schon. Museen von Weltrang wie das Cleveland Museum of Art sowie das Museum of Contemporary Art zählen ebenso zu den kulturellen Trümpfen der Stadt wie architektonische Schmuckstücke. Den hoch aus dem 20er-Jahre-Bahnhof aufragenden Terminal-Tower etwa oder die Backstein-Lagerhäuser im Warehouse-District. Heute sind die anrüchigen Stripper-Schuppen verschwunden, eine bunt gemischte Szene von jungen Kreativen hat sich angesiedelt, samt entsprechenden Restaurants und Pubs.
Tremont ist so bunt wie die Geschichte des Landes
„Noch vor zehn Jahren wäre ich hier nicht hingegangen“, gibt die junge Mutter Lexi Hotchkiss offen zu. „Alles war schmutzig und total heruntergekommen.“ Heute genießt sie in der Fußgängerzone manchen Abend mit ihren Freundinnen. Sie ist es auch, die uns nach Tremont schickt. Vermutlich wegen der Einwanderergeschichte des Viertels, als sich in Tremont Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem Deutsche hier angesiedelt hatten. Der Stadtteil, der mit seinen hübschen Holzhäusern rings um einen Park an eine amerikanische Kleinstadt erinnert, liegt ein wenig außerhalb, so dass man als Tourist nicht zwangsläufig dort landet.
Zwischen Galerien und Secondhandboutiquen hat hier auch das Tremont Taphouse, eine der vielen kleinen Brauereien mit angeschlossener Gastronomie, ihren Sitz. Etwa 100 verschiedene Biere werden serviert, davon 48 vom Fass. Neben den obligatorischen Burgern, Sandwiches und Pizzas gibt es Piroggen, Tacos und „German Pretzels“. Ein Mix also, bunt wie die Einwanderergeschichte des Landes.
Detroit: „Is there life on Mars?“
Mehr noch als Cleveland hing auch das Schicksal des nahen Detroit vom Wohl und Wehe der Automobilindustrie ab. Heruntergekommene und oft genug verlassene, durch Brände beschädigte Wohnhäuser in bester Innenstadtlage, Flucht der (noch) bei Ford, General Motors oder Chrysler Besserverdienenden in die Vororte … Das Grauen nahm bereits in den 1970 seinen Lauf und gipfelte schließlich in einem Insolvenzantrag, den die Stadt am 18. Juli 2013 stellte, um einen unkontrollierten Bankrott zu verhindern.
„Is there life on Mars?“, fragt David Bowie aus Lautsprechern mitten in Downtown Detroit. Und immerhin: So tot, wie manche Berichte der jüngsten Zeit glauben machen wollen, ist die Innenstadt nicht. Da spielen ein paar Farbige Riesenschach, bunte Plastiksessel laden zum Ausruhen ein. Durchaus angenehm, wenn man versucht, in dieser Motorcity zu Fuß unterwegs zu sein. Denn Detroit hat ein Problem mehr als Cleveland und all die anderen ehemals reichen Industriestädte: Es ist nicht gefährlich, nein. Verbrechen finden nicht in den Vierteln statt, die Touristen besuchen. Aber es ist komplett für Autos gebaut. Überall mindestens vierspurige Straßen, heutzutage meist mit so wenig Verkehr, dass man ohne Probleme darauf flanieren könnte. Aber wer will das schon, angesichts der riesigen Entfernungen?
Das einstige Kunsttempel ist heute ein Parkhaus
Immerhin gibt es in der Innenstadt den „People Mover“, die preisgünstige fahrerlose Hochbahn. Und in diesem Bereich lässt sich auch echtes, speziell Detroiter Stadtflair erleben. Da gibt es perfekt sanierte Art-déco-Wolkenkratzer, in denen sich neue, hippe Bistros und Kaffeebars angesiedelt haben. Und es begegnen einem stumme Zeugen der glorreichen Vergangenheit.
Wie etwa das Michigan Theatre. Ein Kunsttempel mit 4038 Plätzen, gestaltet 1926 im Stil der Französischen Renaissance, damals eleganter und beeindruckender als alles andere in der Stadt. Das Ende kam 1967 als Vorbote ganz harter Zeiten. Wiederbelebungsversuche unterschiedlicher Art scheiterten – alles, was aus dem Gebäude davonzutragen war, wurde verkauft. Der Bau selbst ist heute – Ironie der Autostadt – ein Parkhaus.
Kultur gibt es natürlich weiterhin. Cathy Allen, Bibliothekarin im Ruhestand, fährt regelmäßig zu Opernaufführungen nach Detroit. Sie empfiehlt das 1922 eröffnete und 1996 restaurierte Opera House gar als „die Semperoper Detroits“. Nun ja.
Das Ford-Museum in Dearborn – ein Muss für Detroit-Besucher
Nicht die ganz hohe Kultur, jedoch für Detroit-Besucher ein Muss: das Henry Ford Museum im Vorort Dearborn. Ein Technikmuseum, das seinesgleichen sucht und dabei die amerikanische Geschichte des 20. Jahrhunderts miterzählt. Im angegliederten Greenfield Village stehen die Wohnhäuser von Pionieren wie den Gebrüdern Wright oder Thomas Edison, und man kann sich mit Original Model-T-Wagen kutschieren lassen.
Absolut sehenswert sind jedoch auch die Museen in Midtown. Hier gibt es die größte Ausstellung überhaupt für afrikanisch-amerikanische Geschichte, in der man verfolgen kann, wie entkommenen Sklaven die Flucht ins sichere Kanada auf der anderen Seite des Detroit River gelang. Und natürlich das Institute of Arts mit dem gigantischen Wandgemälde Diego Riveras. Eine Sensation 1932: Ein Kommunist darf in der Kapitalisten-Metropole die Geschichte der Automobilindustrie darstellen!
In Midtown hat auch die Wayne State University ihren Sitz. Dort gibt es nicht nur hübsche Villen, sondern inzwischen auch zahlreiche Versuche, das Viertel mit Grünstreifen und Radwegen menschenfreundlicher zu gestalten. Möglich, dass darin die Lösung aller Probleme für Detroit zu sehen ist. Schließlich sangen hier (bereits 1964) Martha & the Vandellas ein Lied, das nicht wenige Besucher der legendären Motown Studios in Midtown Detroit bei einem Tänzchen mit seligem Lächeln leise vor sich hinsummen: „Dancing in the Streets“.
Beate Baum
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