Ecuador: Die schwarzen Augen des Schmetterlings
Dichter Regenwald, über 70 Vulkane, rare Pflanzen und Tiere: Ecuador ist faszinierend, vor allem für Wanderer.
Zu viert in einem offenen Drahtseilkäfig über den Dschungel zu sausen, dafür braucht man schon ein bisschen Mut. Unter uns ein gigantischer Teppich aus dunkelgrünen Urwaldwipfeln bis zu den Bergen am Horizont. Endlos möchte man so weiterschauen, aber nach gut 500 Metern müssen die Gäste aussteigen. Die handbetriebene Seilbahn fährt zur Waldstation zurück. Weiter geht es zu Fuß auf holprigen, teilweise steilen Pfaden zu den sieben Wasserfällen im Bergnebelwald von Mindo-Nambillo.
„Alle Baumriesen mit ihren Stelz- oder Brettwurzeln kämpfen ums Licht“, sagt unser Begleiter Boris Siebert, ein deutscher Anthropologe, der seit langem in Ecuadors Hauptstadt Quito lebt und sich mit Tropenpflanzen auskennt. Besonders die Würgefeige beeindruckt uns. Sie setzt sich von oben auf die Baumkrone eines mächtigen Wirtsbaums, überwuchert ihn nach und nach mit langen Luftwurzeln, umwickelt ihn immer fester und erwürgt ihn schließlich. So erobert sie sich einen Platz im schier undurchdringlichen Dschungel. „Bei manchen Schlingpflanzen ist es allerdings eine Selbstmordaktion“, sagt Boris, „die sterben mit dem Wirtsbaum.“
Als wir den ersten Wasserfall erreichen, durchbricht die Sonne das dichte Baumkronendach. Orchideen verstecken sich im Gebüsch, azurblaue Morphofalter flattern davon. Rauschend stürzt das Wasser herunter aus dem Pichincha-Gebirge. Jeder dieser Wasserfälle ist anders, der eine mehr fürs Auge, der andere mit einem Naturbecken zum Baden geeignet, den dritten muss man sich balancierend über Baumstämme und glitschige Steine erst erobern.
Der Bergnebelwald gehört zu einem der eindrucksvollsten Naturschutzgebiete Ecuadors, dem 19 200 Hektar großen Bosque Protector Mindo-Nambillo. Außer dem bis zu 2000 Meter hoch gelegenen Nebelwald umfasst dieses Schutzgebiet auch feuchtwarme, subtropische Regenwälder und zieht sich hinauf bis zu den schroffen Kraterwänden des Vulkans Guagua Pichincha auf über 4000 Meter Höhe. Aus diesen unterschiedlichen Waldformen erklärt sich die hohe Biodiversität der Flora und Fauna, die aufzuspüren man tagelange Wanderungen brauchte.
Der kleine Ort Mindo, der sich über Jahre den Schutz seiner Nebelwälder gegen die Verlegung von Ölpipelines erkämpfen musste, bietet sich als Ausgangspunkt für Exkursionen an. Für Vogelbeobachter ist es ein Paradies. Seiner etwa 500 Vogelarten wegen, darunter rote Andenfelsenhähne, Tukane, Bergfasane, Papageien, Kolibris, Haubenspechte, Habichte, Eulen, Wildenten und Quetzales, wurde der Wald zu einem der bedeutendsten Vogelschutzgebiete Südamerikas erklärt.
Das Wohl von Pachamama, Mutter Erde, ist in der Verfassung verankert
Wir haben das Glück, einige der bunten, seltenen Vögel in dem 350 Hektar großen Privatreservat der Sachatamia Lodge zu erleben. Sie liegt auf einem Berg hoch über Mindo. Von hier aus schaut man direkt zu dem Vulkan Pichincha. Kolibris in allen Formen und Farben schwirren zu den Futterstellen rund ums Restaurant, sogar ein Tukan hockt ohne Scheu in einer Baumkrone. Abends nach dem Dinner, wenn wir die Pfade zu unserem im Gelände verstreuten Bungalows mit Taschenlampen beleuchten, erklingt ein Froschkonzert im feuchten Nebelwald.
Zwei Kilometer außerhalb von Mindo kann man sich an handtellergroßen Schmetterlingen mit riesigen, gelb umrandeten schwarzen Augen ergötzen. Sie werden in Ecuadors größter Schmetterlingsfarm Mariposario aufgezogen, neben 25 anderen Arten. Taucht man den Finger in etwas Zuckerwasser und streckt die Hand aus, lässt sich schnell ein Prachtexemplar auf der Fingerspitze nieder. 1200 Schmetterlinge in allen Regenbogenfarben flattern durch den Garten dieses Familienbetriebs, der einen Teil seiner Aufzucht der Wildnis zurückgibt, als Beitrag zum Artenschutz in der Region.
Nach dem Amtsantritt des linken Präsidenten Rafael Correa wurde 2008 eine neue Verfassung verabschiedet, in der die „Rechte der Natur“ verankert sind. „Es ist das Konzept des ‚guten Lebens‘ – auf Quechua ‚sumak kaesay‘ – in der Weltsicht der Indigenas, der indianischen Bevölkerung Ecuadors“, sagt Boris Siebert. Betont wird das harmonische Zusammenleben zwischen Mensch und Natur. In der Verfassung des Landes ist Pachamama, Mutter Erde, eigens erwährt. 64 Prozent der Bevölkerung haben dieser Verfassung zugestimmt.
Unterwegs in diesem kleinen Land auf der „Mitte der Welt“ ist man immer wieder fasziniert von der Grandiosität der Natur. Der Anblick schneebedeckter Vier- und Fünftausender-Vulkane begleitet einen auf vielen Strecken. So auch auf der Fahrt gen Norden nach Otavalo am Fuße des Cayambe, Imbabura und Cotacachi, eine Stadt, die mehrheitlich von Indigenas bewohnt wird. Berühmt ist der Markt auf der Plaza del Poncho, der als eines der größten Handelszentren für Kunsthandwerk in Lateinamerika gilt. Auch wir streifen ein wenig zwischen naiven Gemälden, fantastischen Masken und grellbunten Decken umher, eine gute Gelegenheit, Souvenirs einzukaufen.
Keinesfalls verpassen sollte man frühmorgens den Mercado de Animales, den Tiermarkt der Indios. Da ziehen Frauen in weiten Röcken – die geflochtenen Zöpfe unterm steifen Hut reichen bis zur Taille – quiekende Ferkel und Schweine an der Leine hinter sich her. Wenn sich die Tiere sträuben und ihre Zehen vor Angst in den staubigen Boden stemmen, hagelt es Stockschläge. Ein Bauer im Poncho wacht breitbeinig über seinen beiden Gänsen. Eine Frau im Kapuzenmantel verkauft junge Hunde aus einem Sack, eine andere Küken im Pappkarton. Kampfhähne werden begutachtet, Lamas, Schafe oder Meerschweinchen gehandelt. Eine fremde Welt, die Europäer durchaus ein wenig erschrecken kann.
„Wenn die Mutter weint, heult auch das Kind“
Wer das Leben und die Kultur der Menschen in dieser Region näher kennenlernen möchte, kann in einer Dorfgemeinschaft übernachten und begleitet von Einheimischen Tagesausflüge oder Trekkingtouren in der betörend schönen Umgebung von Otavalo unternehmen. „Runa Tupari“ (Menschen treffen sich) heißt die Organisation dieses gemeindenahen Tourismus, die bereits vor zwölf Jahren gegründet wurde und bisher 16 Indigenas-Familien in ländlichen Gemeinden ein Zubrot ermöglicht. Im vergangenen Jahr haben 2700 Gäste aus Europa und den USA eine Unterkunft bei „Runa Tupari“ gebucht.
„Wir bieten zum Beispiel Touren zum Thema Kunsthandwerk oder zu Heilpflanzen, Spiritualität und Schamanismus an“, sagt Geschäftsführer Fausto Gualsaqui. „Außerdem kann man zum Cuicocha-Lake wandern, radeln oder reiten, und eine anspruchsvolle Tour führt zu den Mojanda-Lagunen bis zum Fuya-Fuya hinauf.“ Auch eine zehnstündige Besteigung des knapp 5000 Meter hohen Vulkans Cotacachi steht auf dem Programm – eine abenteuerliche Herausforderung auf Alexander von Humboldts Spuren, der bei seinen Forschungsreisen in Ecuador vor gut 200 Jahren gleich mehrere Vulkane bezwang.
Auf der Fahrt nach Papallacta sehen wir die schneebedeckte Spitze des Cotopaxi, die Humboldt für die vollkommenste unter allen kolossalen Vulkanen der Anden hielt. „Die Indigenas betrachten die Beziehungen der 18 aktiven Vulkane untereinander wie in einer Familie – als Vater, Mutter, Kinder, Witwe, Ehemann“, berichtet Boris Siebert unterwegs. Der Guagua Pichincha zum Beispiel wird das Kind des Vulkans Tungurahua genannt, der seit August 2012 wieder Lava und Asche speit. „Wenn die Mutter weint, heult auch das Kind“, sagen die Indios. So war es jedenfalls beim jüngsten Ausbruch.
Nebel zieht auf, umhüllt geheimnisvoll die endemischen Polylepisbäume links der Straße, die bis zu einem 4000 Meter hohen Pass ansteigt. „Vorsicht, Bären kreuzen“ steht auf einem Warnschild. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wir das Dörfchen Papallacta am Fuße des rund 5700 Meter hohen Vulkans Antisana, von den Indios „der Schüchterne“ genannt. Rasch in die Wanderschuhe und los.
In der Dämmerung stapfen wir an einem wasserfallartigen Wildbach entlang, der schmale Pfad ist aufgeweicht und glitschig. Die Bäume sind von Bromelien und gelb-roten Lukretias überwuchert, dazwischen geisterhafte weiße Flechten. Ein wenig schwindlig ist uns in der Höhe und es ist ziemlich kalt geworden. Doch ein geradezu göttliches Thermalbad wartet auf uns. Es sind Pools in Natursteinbecken, in denen heißes Wasser von 36 bis 40 Grad rauscht und dampft in der Dunkelheit. Die Badenden flüstern nur, als wollten sie die magisch anmutende Szenerie nicht stören. Ewig möchte man im mineralhaltigen Heilwasser aus dem Antisana-Vulkan weiterplantschen, in der gewiss schönsten Therme Ecuadors.
Lottemi Doormann
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