Mit „Alois Nebel“ durch Tschechien: Der Held sitzt immer am Tresen
Das Altvatergebirge ist Schauplatz des erfolgreichen tschechischen Comics „Alois Nebel“. Im Herbst kommt die Story ins Kino. Eine Reise zu den Inspirationsquellen der Geschichte.
Die Berghänge werden steiler, die Dörfer kleiner, der Gegenverkehr spärlicher: In engen Kurven windet sich die Straße durch nebelverhangene Tannenwälder, die mit jedem Meter näher an unser Auto heranzurücken scheinen; nur ein Wildbach entlang der Strecke hält sie noch auf Distanz. „Jetzt sind wir im Altvatergebirge“, verkündet Jaroslav Rudiš zufrieden, Autor von „Alois Nebel“, Tschechiens erster Graphic Novel, eines Comics im Buchformat. Hier, in den wild-melancholischen Wäldern Nordmährens, sagen sich nicht Fuchs und Hase, sondern die Werwölfe gute Nacht, wenn man dem 41-jährigen Romanautor glauben darf: „Dieses Gebirge ist wie eine Festung, man braucht sehr lange, um überhaupt hineinzugelangen“, sagt er.
Ganz so archaisch und aus der Welt ist der Landstrich natürlich nicht. Allerdings gehört das an der polnischen Grenze gelegene Altvatergebirge tatsächlich zu den ärmsten und am dünnsten besiedelten Gebieten des ehemaligen Ostblock-Staates – und Wölfe gibt es hier auch.
In Tschechien längst ein Kultbuch
Selbst viele Tschechen wissen kaum etwas über die ehemals von Sudetendeutschen besiedelte Mittelgebirgsregion. Doch seit einigen Jahren wird das Altvatergebirge langsam wiederentdeckt. Nicht ganz unschuldig daran ist der 2006 erschienene Comic „Alois Nebel“ (2012 auf Deutsch verlegt), eine mehr als 300 Seiten dicke Eisenbahner-Ballade, deren Zeichentrickverfilmung im vergangenen Herbst mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet wurde. Sie soll in diesem Herbst in die deutschen Kinos kommen. In Tschechien ist der Schwarz-Weiß-Comic längst zum Kultbuch avanciert und lockt „Alois Nebel“-Touristen in die Region, denn die Handlung um den von Visionen aus der Vergangenheit geplagten Bahndienstleiter spielt größtenteils im Altvatergebirge.
Erste Station der Reise ist das zwischen den Bergen thronende Dorf Branná, wo Jaromir Svejdik zu uns stößt, der aus dem Altvatergebirge stammende Zeichner von „Alois Nebel“. „Kneipenwetter“, sagt Rudiš mit Blick auf den hartnäckigen Regen. Und schon sitzen wir vor einem frisch gezapften Pils und sprechen über die Entstehung des Comics. Es ist das erste etlicher Biere, die wir in den kommenden Tagen trinken werden – immerhin ist der Konsum der regionalen Marke Holba eine von Alois Nebels Lieblingsbeschäftigungen.
Auch die Idee zum Comic war in einer Kneipe entstanden: Svejdik brachte die skurrilen Geschichten aus seiner Heimat mit, als Vorbild für die schweijksche Hauptfigur diente Rudiš’ Großvater Alois, der selbst Weichensteller war: „Er wurde aus der Kommunistischen Partei geschmissen, weil er sein Parteibuch in einer Kneipe verbummelt hatte“, sagt Rudiš, „das ist tschechischer Widerstand.“
Eisenbahner, Arbeiter und Kleinkriminelle
Es wird dunkel, um die Berge ringsherum wabern Nebelschwaden. Genau dieser Nebel umfängt im Comic die Figur Alois Nebel, vor dessen Augen plötzlich Züge mit russischen Soldaten, SS-Männern und vertriebenen Sudetendeutschen auftauchen. „Der Comic wird von 80-Jährigen bis zu den Enkeln gelesen“, wundert sich Rudiš selbst ein wenig über den Erfolg. „Alois Nebel“ hat anscheinend einen Nerv getroffen und das Altvatergebirge als dessen Bühne ebenso: Unzählige alte Geschichten schlummern hier, und nicht wenige wird der trinkfeste Svejdik in den kommenden Tagen mit trockenem Humor erzählen.
Am folgenden Tag geht es endlich auf die Gleise – der Zug ist zwar nicht die schnellste, aber die schönste Art, die sattgrüne, wellige Landschaft rund um den Altvater, mit 1491 Metern dritthöchster Berg Tschechiens, kennenzulernen. Zuvor warten wir bei wohltuendem Sonnenschein im Bahnhof von Lipová Lázne (früher: Bad Lindewiese), in dem Svejdik auf ein paar verstaubte Fenster zeigt: „Das war früher die wildeste Bahnhofskneipe an der Strecke! Eisenbahner, Arbeiter und Kleinkriminelle trafen sich hier.“ Man merkt, ihm gefällt so etwas. Logisch, dass die Kaschemme zum Vorbild der Comic-Kneipe wurde, in der Alois Nebel meist verkehrt. Heute, klagt Svejdik, sind viele dieser Kneipen geschlossen.
Der Zug fährt ein – ein einzelner rot- beigefarbener Waggon, Fahrgastwagen und Zugmaschine in einem. Drinnen herrscht Ost-Charme, draußen zieht die Wildnis vorbei und offenbart spektakuläre Ausblicke in tiefe Schluchten und weite Hochebenen. Auch Rudiš hat sich seit langem in den Landstrich verliebt: „Hier ist die sauberste Luft Tschechiens – in dieser Gegend gab es nie Industrie, nur Holzabbau und Steinbrüche.“ Kein Wunder, dass vor allem Wanderer und Aktivurlauber die Region schätzen.
Auch den Zeichner steckten sie in die Psychiatrie
Wir erreichen das verschlafene Städtchen Bílá Voda, hart an der Grenze zu Polen. Hier gibt es nicht nur eine malerische Klosteranlage und Tschechiens einzige Hostienfabrik, sondern auch eine Psychiatrie, die als Vorbild für die Irrenanstalt im Comic diente, in welche Alois Nebel seiner Visionen wegen verfrachtet wird. Tatsächlich wirkt das in rosigen Pastellfarben gestrichene Jagdschlösschen von 1691 keineswegs düster, doch es steht für viele tragische Schicksale. Während wir über den Innenhof der Anlage gehen und misstrauisch von Patienten beäugt werden, erzählt Svejdik, dass er in den 80er Jahren selbst in einer solchen Einrichtung gesessen habe – er hatte verrückt gespielt, um dem Kriegsdienst zu entgehen. Damals seien auch politisch Unangepasste als „Verrückte“ weggesperrt worden, erzählt Rudiš. „Die Altvater-Region ist immer noch ein Ablieferungsort – vor kurzem wurden Roma aus Prag hierher umgesiedelt.“ Ein altes Phänomen. Nach der Vertreibung der Sudetendeutschen sollten neue Bewohner angesiedelt werden. „Keiner wollte kommen, manche wurden auch zur Strafe hierhergeschickt“, sagt Rudiš.
Trotz der Armut wirkt die Region nicht desolat: Wir durchqueren beschauliche Bergdörfer mit weiß gekalkten Kastenkirchen, am Straßenrand stehen immer wieder ausrangierte Bauwagen, die zu Bienenstöcken umfunktioniert wurden. Immer wieder führt Svejdik zu außerplanmäßigen Stationen, die mit dem Comic in Verbindung stehen, etwa zu einem verlassenen Auto-Campingplatz zwischen Zálesí und Javorník, auf dem sich der Showdown der Story abspielt. „Nach dem Krieg war das ein Gefangenenlager, danach ein Pionierlager, schließlich der Campingplatz“, sagt Rudiš lakonisch.
Dann möchte Svejdik noch ein Relikt der Vergangenheit zeigen: Am Ende eines Waldweges stehen wir vor der Ruine eines sudetendeutschen Tanzlokals, der „Georgshalle im Krebsgrundtal“.
Schnitzeljagd per Smartphone-App
Man muss nicht unbedingt mit dem Comiczeichner persönlich unterwegs sein, um diese verstecken Orte zu finden. Das Tanzlokal gehört zu einer Route der elf Touren, die man mithilfe der Alois-Nebel-App per Smartphone ansteuern kann. Fast alle Schauplätze des Comics können so wie bei einer Schnitzeljagd entdeckt werden. Beim Erreichen jeder neuen Route wird man mit einem neuen Comic-Schnipsel belohnt, der im gleichen launigen Stil der Graphic Novel vertont wurde. Der Besucher staunt über diese unverkrampfte Art, die Geister der Vergangenheit zu bewältigen, eine junge Generation für die Vertreibung zu interessieren und nebenbei auch noch eine ganze Region touristisch zu beleben.
Welchen Einfluss der Comic in dieser Region bereits hat, zeigt sich auf der letzten Station, dem hochgelegenen Bahnhof von Horní Lipová, Vorbild für den Bahnhof, in dem Alois Nebel arbeitet. Im Comic liegt er im fiktiven Ort Bílý Potok – also hat die Stadtverwaltung ein großes Plakat vor dem Bahnhof aufgehängt, auf dem „Bílý Potok (Horní Lipová)“ steht.
Der Comic war während dieser Reise immer als „Leitfaden“ in der Tasche, und mittlerweile stellt sich das Gefühl ein, Alois Nebel könne unversehens den Weg kreuzen: um die Fahrkarte zu kontrollieren, um über die schnöseligen Prager zu meckern oder um den Besucher auf ein Glas Holba einzuladen. Als wir den nostalgischen Warteraum des Bahnhofs von Horní Lipová betreten, erwartet man für einen kurzen Moment, ihn gleich hinter dem Schalter sitzen zu sehen – doch das ist unmöglich: „In diesen Bahnhof arbeiten ausschließlich Frauen“, informiert Rudiš.
Erik Wenk
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