Bayern: Das ist der Gipfel
Im Bayerischen Wald lässt es sich bequem wandern. Doch wer will, kann auch acht Tausender an nur einem Tag angehen.
Abschreckend und faszinierend zugleich. Auf dem Bergkamm ragen – wie in einem Gemälde von Salvador Dali verewigt – bizarre Baumgerippe in den strahlend blauen Sommerhimmel. Ausgetrocknet, leblos, für immer abgestorben. Tot.
Am Boden des Waldfriedhofes jedoch wimmelt es von Leben. Käfer krabbeln mit Ameisen geschäftig um die Wette. Während sich eine Singdrossel fröhlich tirilierend auf einem Zwerg-Vogelbeerbaum niederlässt und sich die grellroten Früchte einverleibt, sonnt sich eine Mauereidechse genüsslich neben einer kleinen Birke auf einem Stein. Auf der Wanderung durch die surreale Landschaft hält Guide Karin Fischer regelmäßig an, um pralle, saftig süße Heidelbeeren zu pflücken. Die Sträucher überwuchern nebst grünem Farn das unwirklich anmutende Terrain.
Schließlich klärt uns die 40-jährige Wandersfrau auf: „Als 2010 Orkan Kyrill in Bayern mehr als sechs Millionen Bäume umlegte, erwischte es auch die Wälder rund um Bodenmais schlimm.“ Allein im Bayerischen Wald hat der Sturm in Windeseile bis zu 100 Meter breite Schneisen der Verwüstung hinterlassen.
In Zahlen ausgedrückt: 3,8 Millionen Festmeter Bruchholz. Es war nicht der erste Orkan, der über den Bayerwald hinwegfegte. 1999 wütete bereits „Lothar“ in der Region. Am schlimmsten aber war Sturmtief „Wiebke“. 1990 hinterließ der Hurrikan unvorstellbare 23 Millionen Festmeter sogenannten Windwurf.
Der Borkenkäfer verpasst dem Wald eine Verjüngungskur
Bruchholz, dessen man beim besten Willen nicht mehr Herr werden konnte. Und so blieben ganz zur Freude des Borkenkäfers vielerorts unzählige Baumstämme liegen. Der Forstschädling fand auf den geknickten Nadelbäumen optimale Brutbedingungen vor, breitete sich daher rasend schnell aus und befiel auch gesunde Bäume.
Auch wenn es auf den ersten Blick anders aussah: Tot ist der Wald nicht. Im Gegenteil, der Borkenkäfer verpasst ihm streng genommen sogar eine Verjüngungskur. „Das morsche Holz und die abgebröckelte Rinde düngen die folgende Waldgeneration“, erklärt Karin und fährt fort, „bis sich der Wald erneuert hat, wird es allerdings 100 bis 200 Jahre dauern.“
Als uns bewusst wird, dass wir nicht durch einen von Menschenhand streng geordneten Nutz-, sondern verwilderten Urwald streifen, der sich selbst überlassen ist, erscheinen uns die Fichtenleichen und vermoderten Baumstämme, die sich im Lauf der Zeit zu Mulch verwandeln werden, nicht mehr wie himmelschreiende Mahnmale der Natur. Jetzt wirken sie gar sympathisch, die Holzgerippe und wir respektieren sie als Teil eines großen, vielfältigen ökologischen Labors.
Die Baumgerippe sehen wie Kunstwerke aus
Außerdem geben sie ein tolles Fotomotiv ab. „Ihr müsst auch mal im Winter kommen, dann wandern wir hier mit Schneeschuhen. Ihr werdet es lieben“, verspricht Karin. Kommen nämlich Schneefall, Wind und Frost zusammen, bilden sich an den abgestorbenen Baumpfählen lange, teils windschiefe Schnee- und Eisbärte. „Die filigranen Kunstwerke sehen richtig abgefahren aus.“
Ganze neun Stunden haben wir heute auf der Wanderung Zeit, die Urwüchsigkeit der Landschaft zu genießen und dabei den Wald nicht als Zustand, sondern als einen Prozess zu begreifen. Das radikale Sterben hat langfristig gesehen also seinen Sinn. Was wir von unserem Vorhaben nur bedingt behaupten können. Sinn ergibt das Meilenfressen kaum, aber große Freude. Eine veritable Wanderherausforderung hat uns nämlich hierher gelockt.
Rund um Bodenmais, der 3000-Seelen-Marktgemeinde am südwestlichen Fuß des Großen Arbers gelegen, reihen sich zahlreiche Mittelgebirgsgipfel mit einer Höhe knapp über 1000 Meter aneinander. Da die sanft ansteigenden, gut markierten Wege auf die jeweils höchsten Punkte keinerlei technische oder gar alpinistische Herausforderung darstellen, sind sie wunderbar für jene, die es im Urlaub sanft und gemächlich mögen: Genusswanderer, Naturliebhaber und Bergflaneure.
Acht dieser Gipfel kann man, etwas Kondition und Motivation vorausgesetzt, an einem Tag vom Berggasthof Eck aus am Stück abhaken: Mühlriegel (1080 Meter), Ödriegel, Waldwiesenmarterl, Schwarzeck, Heugstatt, Enzian, Kleiner Arber und Großer Arber.
Im Freundeskreis wollen wir mit unserem "Achttausender" prahlen
Sachlich zwar nicht astrein, doch wir wollen im Freundeskreis mit unserem „ersten Achttausender“ prahlen. Und so stapfen wir los, bei 35 Grad ab 8 Uhr morgens, folgen dem „Goldsteig“ von einem Riegel zum nächsten, hangeln uns schwitzend von Gipfelkreuz zu Gipfelkreuz.
Da man erst gegen Ende der Tour auf der Chamer-Hütte am Südhang des Kleinen Arber einkehren kann, ist’s geraten, reichlich Brotzeit und mindestens zwei Liter Wasser im Rucksack mitzuführen. „Quellen passiert man nämlich lange keine“, hatte uns Karin Fischer am Vortag bei einer Aufwärmtour auf den Silberberg vorgewarnt.
Die gelernte Sport- und Gesundheitspädagogin arbeitet als Wellness- und Vitaltrainerin festangestellt im Hotel Bodenmaiser Hof, wo sie Urlauber unterschiedlichen Alters zu sportlichen Einheiten animiert: Aquagymnastik im Pool, Rückenschule, Stretching, Trekking, Schneeschuhwandern, Lang- oder Skilauf. Je nach Wetter, Jahreszeit und Kondition der Gäste, arbeitet die 40-jährige alleinerziehende Mutter jeweils ein wöchentliches Aktivprogramm aus.
Als wir von unserem Vorhaben der acht Tausender erzählen, bietet sie spontan ihre Dienste als Guide an: „Da komm’ ich liebend gerne mit.“
Imposante Felsformationenin meterhohem Gras
Die ersten vier Tausender erscheinen uns wie eine Art Wanderrausch. Kontrast- und abwechslungsreich die Landschaft. Mal geht’s durch Mischwald, später durch ein Labyrinth aus Nadelbäumen. Wir passieren baumfreie Zonen, in denen sich aus dem zum Teil meterhohen Gras imposante Felsformationen türmen.
Gelegentlich eröffnet sich ein grandioser Blick: auf den Großen Osser, die Ortschaft Drachelsried. Später schauen wir sogar über den ehemaligen Eisernen Vorhang hinaus von Bayerisch Eisenstein ins grenznahe Železná Ruda (Markt Eisenstein) im tschechischen Böhmerwald.
Wir marschieren über schöne Wurzelpfade bergan, um später die mühsam absolvierten Höhenmeter wieder in tiefe Senken abzusteigen. Und so geht es einen lieben Tag lang rauf und runter. Hoch und nieder. Immer wieder. Von einer kleinen Felskanzel zum nächsten.
Spät abends im siebten Wanderhimmel
Ganz so locker wie wir gedacht hatten, ist das Unterfangen jedoch nicht. Nach der Einkehr in der Chamer Hütte, die vom Skiklub Bodenmais ganzjährig bewirtschaftet wird, lassen sich die strapazierten Beine nach sieben Stunden Wandern nur noch schwer für den finalen Aufstieg zum Gipfel des Großen Arber motivieren. Mit seinen 1456 Metern ist er nicht nur der König des Bayerischen Waldes, sondern zugleich auch der höchste Berg Bayerns außerhalb der Alpen.
Zwar erfüllen wir mit dem Erreichen des letzten Gipfelkreuzes unsere Mission – alle acht am Stück –, ausgelassen freuen können wir uns jedoch noch nicht. Schließlich steht uns als krönender Abschluss ein letzter, kräftezehrender Abstieg über die spektakulären Rißloch-Wasserfälle nach Bodenmais bevor.
Spät abends allerdings wähnen wir uns dann allerdings doch im siebten Wanderhimmel. Nach einer Erfrischung im Hotelpool, warten Wadlmassage und ein üppiges Bayerisches Büfett auf uns. Beides braucht’s auch. Die acht Tausender haben schon geschlaucht. Nicht nur im fernen Himalaya oder Karakorum, auch im Bayerischen Wald ist es möglich, sich mal ordentlich zu schinden.
Mit der "Waldbahn" zum Ziel
ANREISE
ICE über Fulda bis Plattling, weiter mit der „Waldbahn“ in die Arber-Region, etwa nach Bodenmais. Fahrtzeit: knapp acht Stunden. Berlin Linienbus sonnabends in neun Stunden bis Bodenmais.
UNTERKUNFT
Bodenmaiser Hof (Telefon: 099 24 / 95 40), ruhig, zentrumsnah. Doppelzimmer ab 176 Euro; Pauschalen.
PAUSCHALEN
Wanderpaket mit vier Übernachtungen in Zwiesel ab 129 Euro angeboten. Auskunft: Touristinfo; Telefon: 099 22 / 84 05 23.
AUSKUNFT
Bodenmais Tourismus, Telefon: 099 24 / 77 81 35.
Johanna Stöckl
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