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Mit einer spektakulären Feier wurde das Teatro Colón in Buenos Aires 2010 nach einer mehrere Jahre dauernden Renovierung wiedereröffnet.
© Fernando Calzada, dpa

Argentinien: Das Glück im siebten Rang

Prachtvoll und riesig ist das Teatro Colón in Buenos Aires. Früher triumphierten hier die Callas und Caruso, heute brillieren Lang Lang oder Barenboim.

Nirgendwo sonst gelangt der Besucher so schnell ins Paradies: Er muss nur ein paar Peso bezahlen und sieben Stockwerke hinaufsteigen. Dann landet er zwar in keinem Garten Eden, aber er kann im Paraíso schwelgen. „Paradies“ nämlich wird der oberste Rang des Teatro Colón, des legendären Opernhauses von Buenos Aires genannt. Weltweit eines der größten ist der argentinische Götterhimmel nicht nur atemraubend schön anzusehen. Er darf sich auch einer einzigartigen Akustik rühmen. Die sei so „schrecklich perfekt“, dass niemand jemals falsch singen dürfe, soll Luciano Pavarotti einmal gestöhnt haben. Denn auch die allerwinzigsten Misstöne seien zu hören.

Wir blicken auf das hufeisenförmige Innere des Theaters hinab. Gleich sieben Ränge sind in die Höhe gewachsen und flankieren das 78 Meter breite und 38 Meter lange Parkett. Präsidenten- und Witwenlogen wurden eingerichtet. Das gesamte Interieur ist aufwendig dekoriert mit Bronze- und Elfenbeinelementen. Schwere Brokatvorhänge konkurrieren mit üppigem Goldstuck. 700 Lampen illuminieren die Pracht. Und über allem wölbt sich eine riesige, von dem argentinischen Maler Raúl Soldi ausgemalte Glaskuppel.

Seit mehr als hundert Jahren schreibt der nach Christoph Kolumbus benannte Musentempel Operngeschichte. Komponisten wie Richard Strauss, Arthur Honegger, Igor Strawinsky, Paul Hindemith oder Mauricio Kagel waren hier zu Gast, Dirigenten wie Toscanini, Furtwängler, Herbert von Karajan, Leonard Bernstein, Karl Böhm, Kurt Masur, Erich Kleiber, Simon Rattle sowie der in Buenos Aires geborene Daniel Barenboim standen am Pult. Beniamino Gigli, Alfredo Kraus, Plácido Domingo, José Carreras, Joan Sutherland, Birgit Nilsson, Cecilia Bartoli betörten das Publikum mit ihren Arien.

Und natürlich die Callas. „Sie fand Buenos Aires mal schön, mal zum Hassen“, weiß ein Mitarbeiter des Hauses über die launische Diva zu berichten. Im Jahre 1949 war sie mehrfach im Teatro Colón aufgetreten. Sie regte sich über das Wetter auf, über das zu teure Essen und über Evita Perón, die Vorführungen für Gewerkschaften anordnete. Schließlich rächte sie sich an allen vermeintlichen Feinden, indem sie in „Norma“ und „Aida“ triumphierte.

Den Auftraggebern ging immer wieder das Geld aus

Auch Enrico Caruso feierte hier Triumphe. Insgesamt soll er 138 Opernauftritte in verschiedenen Theatern von Buenos Aires bestritten haben, die meisten davon im Colón. Als er hier am 3. August 1915 in der Oper „Manon Lescaut“ sang, bekam eine Sängerin vor Rührung einen Weinkrampf. Und als der Tenor zwei Jahre später im „Bajazzo“ das Messer zückte, um Nedda zu töten, soll sein kleiner Neffe aus dem Zuschauerraum gerufen haben: „Onkel Caruso, Onkel Caruso, bring’ sie nicht um!“

Unzählige Legenden ranken sich um das Theater, das Argentiniens ganzer Stolz ist. Aber auch ohne die Geschichten kommen Besucher aus dem Staunen nicht heraus. Nach dem Vorbild europäischer, vor allem französischer und italienischer Opernhäuser erbaut, sollte das Haus alle anderen Musiktheater der Welt übertreffen. Schon allein an Größe: An der Avenida 9 de Julio gelegen, mit 14 Fahrstreifen auf einer Breite von 140 Metern, nimmt das Teatro einen kompletten Straßenblock ein. 2478 Sitzplätze gibt es, dazu – je nach Art der Veranstaltung – zwischen 500 und 1000 Stehplätze.

Mehr als 3000 Besucher finden im Teatro Colón Platz.
Mehr als 3000 Besucher finden im Teatro Colón Platz.
© Juan Mabromata, AFP

Der Grundstein wurde 1890 gelegt. „Eigentlich sollte das Gebäude 1892 zur 400-Jahr-Feier der Entdeckung Amerikas eingeweiht werden“, erklärt der Führer, der etwa einmal pro Stunde Besucher durch das Haus geleitet. „Doch die Bauarbeiten zogen sich fast zwanzig Jahre hin.“ Nicht allein, weil den Auftraggebern immer wieder das Geld ausging. Zwischendurch starb auch der erste Architekt, Francesco Tamburini. Nachdem der zweite, der Italiener Vittorio Meano, 1904 umgebracht worden war, führte den Bau schließlich der Belgier Jules Dormal zur Vollendung – und verpasste ihm dabei gleich noch ein paar Elemente im französischen Stil.

Am 25. Mai 1908 wurde das Colón schließlich mit Giuseppe Verdis „Aida“ eingeweiht. Von da an machte es nicht nur mit hochkarätigen Aufführungen von sich reden, es war – und ist zum Teil noch heute – gesellschaftliche Bühne der kulturbeflissenen Porteños, wie die Einwohner von Buenos Aires genannt werden. Während einer der oberen Ränge, Cazuela (Kochtopf) genannt, früher den alleinstehenden Damen vorbehalten war, pflegten die Männer im darüber liegenden Tertulia (Stammtisch)-Rang ihre Geschäftsbeziehungen.

In den Pausen fließt Champagner

Projektionen. Als Vorbild für das Colón gilt die Mailänder Scala.
Projektionen. Als Vorbild für das Colón gilt die Mailänder Scala.
© M. Acosta, Reuters

Heute gibt es natürlich keine Geschlechtertrennung mehr, und fast jeder kommt wegen der Musik ins Theater. Wobei sich in den Wandelhallen, dem Salón Blanco und der Galería de los Bustos, wo Büsten berühmter Komponisten stehen, hin und wieder auch die Schickeria des mondänen Buenos Aires blicken lässt. Besonders prunkvoller Rahmen zum Sehen und Gesehenwerden ist der Salón Dorado, der Goldene Saal, der mit seinen Spiegeln und dem überbordenden Goldstuck an Versailles erinnert.

Das Haus verfügt über eine Abteilung zur Betreuung des Nachwuchses bei internationalen Wettbewerben und konnte in den vergangenen Jahren mehrfach den Wettbewerb „Neue Stimmen“ der Bertelsmann-Stiftung in Gütersloh gewinnen.

Nach umfangreichen Restaurierungen erstrahlt seit 2010 alles wieder in neuem Glanz. Auch die Bühnentechnik ist auf dem allerneuesten Stand. Nur das künstlerische Niveau, hört man hier und da, sei nicht mehr ganz auf der Höhe früherer Zeiten. „Eine Netrebko werden Sie hier schwerlich zu sehen bekommen“, meint ein passionierter Opernbesucher bedauernd. Immerhin habe sich die amerikanische Sopranistin Renée Fleming die Ehre gegeben. Was das Programm angeht, traut sich das altehrwürdige Haus durchaus an zeitgenössische Werke wie Benjamin Brittens „War Requiem“ heran. Und alle Jubeljahre schwingt es sich auch noch zu so spektakulären Produktionen wie dem „Colón Ring“, der auf sieben Stunden verkürzten Kompaktversion von Wagners „Ring des Nibelungen“ auf, die im November 2012 ihre Weltpremiere feierte. Nicht nur für Wagnerianer waren es sieben Sternstunden, auch wenn es ein Abend mit denkwürdigem Vorlauf war.

Schon lange vor der Uraufführung herrschte helle Aufregung. Eigentlich führte Katharina Wagner Regie, doch sie sprang kurzfristig wegen „Differenzen mit dem Theater“ ab. In Wahrheit soll sie das organisatorische Chaos genervt haben. Sie überließ schließlich der argentinischen Regisseurin Valentina Carrasco ihren Part. Die Meinungen waren schließlich gespalten. Nicht nur in den Medien. Auch aus dem Publikum waren skeptische Stimmen zu hören, als mittags gegen 14 Uhr aus dem üblichen Verkehrschaos der 13-Millionenmetropole Frauen im Abendkleid und Männer in dunklen Anzügen auftauchten und die Treppen des Colón hinaufschritten. „Ich möchte wissen, wie das gehen soll in sieben Stunden“, fragten sich die Besucher. „Man kann doch nicht einfach ganze Passagen streichen. Was ist denn mit den musikalischen Übergängen?“

Für manche muss es sich wie die Hölle anfühlen

Die Inszenierung, die durch Anspielungen auf die Verschwundenen der Militärdiktatur und Matetee trinkende Darsteller einen argentinischen Touch bekam, überzeugte nicht jeden. Aber bei der musikalischen Qualität waren sich alle einig: eine Offenbarung. Unter der Leitung von Roberto Paternostro im Schnelldurchlauf vom „Rheingold“ bis zur „Götterdämmerung“ mit einem Staraufgebot von Sängern und Musikern, wie es auch in der Metropolitan Opera in New York oder der Wiener Staatsoper nicht glänzender hätte sein können.

Plácido Domingo
Plácido Domingo
© Sergio Goya, pa

In den Pausen fließt im Teatro standesgemäß Champagner. Elegante Damen und Herren delektieren sich an Empanadas, den typisch argentinischen, gefüllten Teigtaschen, oder häufen sich Ragout mit Kartoffelbrei auf den Teller. Schließlich sind bei den ganz großen Ereignissen in den stolzen Preisen von bis zu 1000 Dollar pro Platz auch Getränke, Essen, feine Patisserie und Kaffee inbegriffen. „Este es el primer mundo – das hier ist die erste Welt“, schwärmte Germán, der als Redakteur beim argentinischen Klassikradio Amadeus arbeitet, bei der „Ring“-Premiere. Er wiederholte den Satz immer wieder. Als könnte er selber kaum glauben, was er hier zu hören, zu sehen und zu schmecken bekam. Nun ja, repräsentativ für Buenos Aires sind solche Events tatsächlich nicht.

Kaum haben die Herrschaften das Opernhaus verlassen, sieht es gleich wieder ganz anders aus: Da hat die Megametropole ihr Alltagsgesicht. Mit Müllbergen, die sich auf den Straßen türmen. Mit Obdachlosen, die sich aus Plastikfolien und Kartons notdürftige Behausungen basteln. Autos und Busse schieben sich dicht an dicht die breiten, glatt asphaltierten Avenidas hinunter, während die Fußgänger über holprige Bürgersteige stolpern.

Nein, gemütlich ist diese Stadt nicht. Das Leben gleicht oft einem Kampf. Und für manche muss es sich wie die Hölle anfühlen. Verständlich, dass, wer sich’s leisten kann, gern ab und zu ins Colón flüchtet, um einer Martha Argerich, einem Lang Lang oder „Figaros Hochzeit“ zu lauschen. Und wenn es ganz oben im siebten Rang ist, wo die Billets billiger sind. Im Musikgenuss sind alle vereint.

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