Leipzig Sehenswürdigkeiten: Chronik aus Stein
Wer in Leipzig Sehenswürdigkeiten besuchen möchte, für den lohnt sich der Südfriedhof - ein offenes Geschichtsbuch in grandioser Parklandschaft.
Der marmorne Engel ist soeben von seinem Sockel herabgestiegen, gemeinsam mit einer jungen Frau, die er offenbar beschützen will. Die beiden stehen auf einer Wiese, als hätten sie das Grabmal und die Gruft hinter sich gelassen, um weiterzuziehen. Wer nicht mit Alfred E. Otto Paul auf dem Leipziger Südfriedhof unterwegs ist, entdeckt diese Szenerie vermutlich nicht, erfährt nichts über die dazugehörige Geschichte, nichts über die Restaurierung, die das steinerne Duo momentan ins Abseits gestellt hat. Dabei sind es in Leipzig Sehenswürdigkeiten wie diese, die Besuchern die Geschichte besonders nah bringen.
Alfred E. Otto Paul ist Friedhofsführer. Und viel mehr: Sepulkralforscher, also Forscher in Sachen Begräbniskultur, was ihm schon den Mitteldeutschen Historikerpreis eingebracht hat. Vorher war er Technischer Direktor im VEB Bestattungs- und Friedhofswesen, und in der neuen Stadtverwaltung Baudirektor der Friedhöfe. Ausgestiegen aus dem Amt ist er in den späten Neunzigern, weil er von der Sparerei im Rathaus die Nase voll hatte. Und noch weiter vorher war er im Kohletagebau tätig, bis er einen Unfall beim Bergsteigen hatte. Daher wohl sein Hang zu Himmel und Erde.
Leipzig Sehenswürdigkeiten - dazu gehören nicht nur Völkerschlachtdenkmal und Grassimuseum
Heute betreibt Paul ein Fachbüro für Sepulkralkultur, eine Art Architekturbüro für Gräber. Er ist Vorsitzender der Paul-Benndorf-Gesellschaft zu Leipzig, die sich Kulturwerten im Friedhofswesen widmet. Wenn alte Gruften zu öffnen sind, nimmt er auch mal selber den Presslufthammer in die Hand. „Sobald ich tot bin“, schiebt der Friedhofs-Guide in eine seiner ausführlichen Erzählungen ein, „kennt hier kein Mensch mehr die Geschichten. Deshalb schreibe ich wie der Geier alles auf.“ Es folgt der Werbeblock für sein fünftes Buch der Reihe „Die Kunst im Stillen“...
Auch Tübke, Baedeker und Meyer liegen hier begraben
Natürlich weiß Paul auch um alle Details zum beurlaubten Grabesengel und dessen Schützling. Die junge Frau war Edith, die Tochter von Franz Ebert, dem Besitzer des noblen Jugendstil-Kaufhauses neben der innerstädtischen Thomaskirche. Im Ersten Weltkrieg, als sich auch Leipzigs Krankenhäuser mit Verwundeten füllen, meldet sich Edith Ebert im Lazarett St. Georg, um bei der Pflege ihre patriotische Pflicht zu erfüllen. Am 29. September 1915 stirbt sie an einer Sepsis, fünf Tage nach ihrem 24. Geburtstag. Auch über das Grabmal als Kunstwerk berichtet Paul ausführlich. „Geschaffen hat es der Berliner Bildhauer Professor Fritz Heinemann, der als einer der Lieblingsbildhauer des Kaisers gilt…“
Natürlich lohnt es auch, die Tour alleine zu unternehmen. Es gibt genügend Bücher und Pläne, die den Leipziger Südfriedhof erklären und bei der Suche helfen. Nach dem Grab eines Unternehmers, Thomaskantors, Gewandhauskapellmeisters oder Bürgermeisters. Namen wie die der Verleger Baedeker und Meyer – der mit dem Konversations-Lexikon – sind an den Steinen zu lesen, des Zirkusgründers Cliff Aeros oder der Maler Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer. Auch Marinus van der Lubbe, Hauptangeklagter beim Prozess um den Reichstagsbrand 1933, ist hier begraben; und Julius Motteler, der „Rote Feldpostmeister“ der Sozialdemokraten. Aus der 1968 gesprengten Universitätskirche wurden die Gebeine des Dichters Christian Fürchtegott Gellert hierher umgebettet.
Während einer Führung erfährt der Besucher mehr als bei jeder Lektüre. Neben dem Rundgang mit Paul gibt es auch thematische Spaziergänge, beispielsweise „Symbolik auf Grabsteinen“ oder „Jugendstil und nackte Trauer“. Ein Rundgang führt durch den dem Benediktinerkloster Maria Laach in der Eifel nachempfunden neoromanische Feierhallenkomplex mit Krematorium und dem größten Kolumbarium nördlich der Alpen. Selbst botanische Exkursionen werden angeboten.
Die Linde gab Leipzig seinen Namen
Auf Friedhofstour mit Paul geht es über Stock und Stein, hinter Gebüsche und Mauern. Vermutlich nimmt er auch immer wieder eine andere Route, denn „wir haben 30 Abteilungen und in jeder könnte ich einen Tag lang erzählen“. Heute also der Südfriedhof im – verglichen mit solchen Ambitionen – Schnelldurchlauf. Zwei Stunden sollte der Rundgang dauern, drei werden es dann doch. Wer Paul kennt – er führt auch auf anderen Leipziger Friedhöfen – kommt vorsichtshalber gleich in Wanderschuhen und wundert sich auch nicht über das vertraute „ihr“ oder den subtilen Humor, mit dem er seine Zuhörer umfängt.
Fast entsteht der Eindruck, als habe er all die Dahingeschiedenen noch zu deren Lebzeiten gekannt. Immer mal wieder hält er ein Bild in die Höhe, das den Toten zeigt, dessen Familie, dessen Haus… Wer ahnen will, wie und durch wen Leipzig wurde, was es ist, könnte nicht nur in der quirligen City und in sanierten Industrievierteln, sondern auch auf dem Südfriedhof Impressionen sammeln.
Die allsonntägliche Tour beginnt im Büro der Paul-Benndorf-Gesellschaft, dem einstigen Pförtnerhäuschen am Haupteingang Prager Straße. Dort hängt der Übersichtsplan der Anlage. Wie das Blatt einer Linde, die Leipzig vor 1000 Jahren seinen Namen gab, dehnt sich das Hauptwegenetz. Mit dem Stiel nach Süden, die Blattspitze ans Völkerschlachtdenkmal gelehnt. Aber zuerst spricht Paul noch über andere Leipziger Friedhöfe. Von 1278 bis 1883 wurde auf dem Alten Johannisfriedhof begraben; ab 1846 auf den Neuen. Manch einer, der dort seinen Platz fand, kam – nach einer Umbettung – erst auf dem Südfriedhof zur letzten Ruhe. Auf der Führung über den Alten Johannisfriedhof, die immer sonnabends auf dem Kalender steht, fallen dann Namen wie der von Richard Wagners Mutter und Schwester. Auch Bach und Gellert lagen anfangs dort.
82 Hektar vielfältige Natur
Ein neuer Friedhof musste her, weil Leipzig im 19. Jahrhundert zur Industriemetropole gewachsen war. Die Einwohnerzahl explodierte. Der Rat kaufte reichlich Land, ließ planen und bauen. Inspiration gab der weltgrößte Parkfriedhof in Hamburg-Ohlsdorf. 1886 wurde der neue Leipziger Gottesacker geweiht. Weit vor den Toren der Stadt und mit einer eher bescheidenen Aussegnungshalle fand er beim Geldadel der Messestadt kaum Anklang. Die Eliten bevorzugten weiterhin den Johannisfriedhof. Die einfachen Leute brachten ihre Toten auf den preiswerteren Südfriedhof. Es war denn auch der gewöhnliche Markthelfer August Schmidt, der am 2. Juni 1886 als erster Toter hier beigesetzt wurde und die heute berühmte Anlage sozusagen einweihte.
Doch als dann die Straßenbahn hinausführte und 1910 der opulente Feierhallenkomplex fertiggestellt wurde, richteten sich auch die wohlhabenden Leipziger mit ihrem neuen Friedhof ein. Mehr noch: Spätestens als das Völkerschlachtdenkmal 1913 in unmittelbarer Nachbarschaft wuchs, waren die besten Plätze, also die zu Füßen des mächtigen Denkmals, nur noch vom Geldadel zu bezahlen. Der Friedhof wurde erweitert und gedieh zu einem der größten Hain- und Parkfriedhöfe Deutschlands. 82 Hektar vielfältige Natur: Wiesen, Alleen, Waldstücke, Rabatten, Teiche; kaum die Hälfte dieser Fläche ist mit Gräbern bedeckt.
Die großzügige Anlage bot vor allem denen ungeahnte Möglichkeiten, die gerade erst zu Reichtum gekommen waren. Wer schon keinen uralten Adelssitz nebst Begräbnis-Kapelle ererbt hatte, brauchte zumindest ein unübersehbares Grabmal.
„Dieser Park ist übersät mit Kunst“
Und so wurden immer mehr Monumente der Gründerzeit-Industriellen, Kommerzienräte und Verleger zwischen den damals erst mannshohen Bäumchen platziert: riesige Felsbrocken, Gruften mit Tempeln darüber, Säulengruppen, Giebel, Stelen, aufstrebende Engel und trauernde Jungfrauen, später auch kraftvolle Jünglinge und inniglich umschlungene Paare...
Kein Quadratmeterpreis war zu hoch, kein Gehölz zu exotisch, kein Stein zu kostbar für die letzte Residenz. Und auch hier hat Alfred E. Otto Paul Anekdoten parat: Ein Lottogewinn von 80 000 Goldmark veranlasste Witwer Rüdiger, seine mit 59 Jahren verstorbene Gattin vom Nordfriedhof auf den renommierten Südfriedhof umziehen zu lassen. Jetzt sinniert sie da seit rund 100 Jahren als schöne junge Frau aus Marmor, mit einem von der Schulter rutschenden Gewand.
Durch die neue Repräsentationslust der Leipziger kamen auch Künstler in Lohn und Brot, schufen Skulpturen, Medaillons und Friese, die heute noch Aufmerksamkeit verdienen. Max Klinger ist wohl der bekannteste unter den zahllosen Schöpfern. „Dieser Park ist übersät mit Kunst“, betont Paul fast schon feierlich. „Rund bedeutende 500 Werke zählen wir. Und versuchen, sie zu behüten.“
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