Über den Pazifik: Auf dem Meer der Unendlichkeit
Auf der langen Pazifikpassage von Vancouver nach Sydney sieht man meist nur Wellen und Wolken. Gegen Langeweile hilft Bohnensackwerfen.
Ein Schiff! Da vorne. Die wenigen Passagiere, die sich auf dem Oberdeck der „Volendam“ befinden, eilen sofort Richtung Steuerbord zur Reling. Wer eine Kamera dabei hat, zückt sie, und lässt es klicken. Ein Schiff, ein echtes Schiff! Vielleicht ein Fischerboot?
Man sollte denken, dass ein solcher Anblick auf dem Meer keine große Sensation sein kann. Aber auf der langen Passage über den Pazifik von Vancouver nach Sydney, von der nördlichen in die südliche und von der westlichen in die östliche Hemisphäre, auf der Reise über den Äquator und die internationale Datumsgrenze werden auch kleine Erscheinungen wie ein Fischerboot zum Tagesgespräch.
An Bord sind weniger die üblichen Kreuzfahrtpassagiere. Die wollen, aktuellen Trends zufolge, möglichst jeden Morgen einen anderen Hafen anlaufen und am Ende der Reise an den Ausgangspunkt zurückkehren. So was hat die „Volendam“ auch zu bieten, allerdings nur auf ihren sommerlichen Sieben-Tage-Törns nach Alaska. Doch wenn der Winter im Anmarsch ist und die Schiffsaison im Norden der Welt zu Ende geht, heißt es, andere Kreuzfahrtgefilde der Welt ansteuern. „Repositioning“ nennen das die Fachleute. Der Vorteil solcher Überführungen: Der Tagespreis fällt oft preiswerter aus als für einschlägige Kreuzfahrten. Und auch das Publikum ist ein anderes.
Diese Passage hat erstaunlich viele Menschen angezogen, die das Schiff tatsächlich noch als Transportmittel betrachten und eben nicht als Ferienziel, als das sich die neuen Superschiffe inszenieren. Es gibt hier auch keine Unterhaltungsgags, keine Kletterwand und keine Eislaufbahn. Stattdessen Klassiker wie Tischtennis, Basketball, Volleyball. Auch schon mal eine Runde Bohnensackwerfen. Das beherrschen die australischen Farmer beneidenswert gut. Die einfachen Vergnügungen können ungeheuer viel Spaß machen. Warum soll der Mensch auf einem bewegten Ozean Eis laufen?
Man könnte die Tour trotzdem zwei- oder dreimal machen, ohne jemals Langeweile zu empfinden. Das Spiel der Sonne mit den Wolken ist atemberaubend. In jeder Minute gibt es ein neues Bild am Horizont. Die Show der Natur schlägt alles, was im Bauch eines Schiffes auf die Bühne gebracht werden kann, obwohl sich auch bei dieser Reise das Entertainment-Team alle Mühe gibt, die Gäste bei Laune zu halten. Was gar nicht einfach sein dürfte, denn nicht alle Gäste halten es gut aus, so weit vom Land entfernt zu sein.
Es ist erstaunlich, worüber sich Menschen so beschweren können. Wer eine klassische Kreuzfahrt erwartet hat, wird vielleicht enttäuscht sein von dieser Reise. Allerdings gibt es auch Passagiere, die hochzufrieden sind. Die australische Farmersfamilie, die zuletzt drei Tage im kalifornischen Disneyland war und nun die lange, langsame Heimreise angetreten hat. Die australische Umweltexpertin, die viele Jahre in Kanada zu Hause war und sich nun mitsamt ihrem Umzugsgepäck auf dem Rückzug in die alte Heimat befindet. Mit dem Flugzeug wäre ihr das einfach zu schnell gegangen, sagt sie.
Das junge Paar, das in der kalifornischen Heimat der Braut Hochzeit gefeiert hat und in der australischen Heimat des Bräutigams eine Existenz aufbauen will, findet dies eine gute Möglichkeit, die Flitterwochen auf dem Schiff mit einem vergleichsweise preiswerten Transport von Hochzeitsgeschenken und Hausstand zu verbinden. Und dann sind da noch der pensionierte Flugkapitän und seine Frau, die alles etwas läppisch finden. Vielleicht, weil sie schon so viel gesehen haben.
„Das ist doch eine Story“
Kommt man miteinander ins Gespräch, lautet die erste Frage an Bord immer: „Woher kommen Sie?“ Da klingt „Europe, Germany, Berlin“ in dieser Gegend der Welt angenehm exotisch. „Was, von so weit her?“, lautet eine übliche Reaktion. Meist folgt dann erst mal eine Runde Smalltalk, bis unweigerlich die zweite Frage kommt. „Und was machen Sie in Berlin beruflich so?“ Die ehrliche Antwort „Ich arbeite bei einer Tageszeitung“ führt normalerweise ohne weitere Umschweife zu der Bemerkung: „Aha, dann schreiben Sie also über diese Reise.“
Offenbar kann sich niemand vorstellen, dass ein Journalist einfach nur Urlaub macht. „Sollten Sie sich nicht besser Notizen machen?“, fragt der australische Busfahrer mit leicht besorgter Kennermiene, als ich gerade in gelöster Stimmung meinen mit Melone und Ananas bestückten Frühstücksteller Richtung Hinterdeck balanciere. „Es könnte doch sein, dass der Reiseteil eine Story von Ihnen will.“ Der Flugkapitän hält sich mit besorgten Hinweisen gar nicht erst auf. „Das ist doch auf jeden Fall eine Story“, sagt er mit Chef-Gesicht, bevor er mich mit dem Hinweis, ich sei schließlich nicht zum Vergnügen hier, zur Tischtennisplatte zieht.
Allen guten Ratschlägen zum Trotz: Solch eine Reise ist ideal, um mal den Alltag weit hinter sich zu lassen. Knapp 16 000 Kilometer beträgt die Strecke über den Pazifik.
Als das Schiff nach den ersten zwei Seetagen Los Angeles erreicht, stürzen sich viele Passagiere auf den Gratis-Shuttle- Bus zum kleinen Einkaufszentrum in Long Beach. Dort gibt es nicht nur eine Haltestelle der Blue Line, die nach Downtown führt, sondern auch einen Drogeriemarkt und einen Supermarkt für letzte Einkäufe. Was einem auf dem Meer fehlt, lässt sich dort nicht mehr einkaufen.
Schließlich heißt es in Long Beach wieder „Leinen los!“. Zum Abschied darf das traditionelle Tuten natürlich nicht fehlen. Eine Weile noch fährt das Lotsenboot mit, bis unser Schiff das Hafengebiet sicher verlassen hat. Dann steuert das kleine Versetzboot ganz nah an den Ozeandampfer heran. Der Lotse geht von Bord, winkt noch mal lässig nach oben und der Kapitän tutet noch einmal kurz. Wie die meisten Offiziere kommt er aus den Niederlanden, Matrosen, Stewards und Küchenpersonal stammen überwiegend aus den Philippinen oder Indonesien.
Rusdi gehört dazu, er ist eine Kapazität im Basteln von Frotteehandtuch-Tieren. Dazu gehören auch Maureen und Sinta, die im Selbstbedienungsrestaurant auf Deck 8 immer so freundlich grüßen, während sie die leider sehr verlockend-köstlichen Süßkartoffel-Pommes auf den Teller häufen: „Good evening, Miss Elizabeth, hatten Sie einen guten Tag?“
Einander mitzuteilen, was man draußen auf dem Meer entdeckt hat, ist eine Art Kommunikationswährung an Bord. Am Anfang auf dem Abschnitt Vancouver–Los Angeles waren noch Delfine da, die das Boot begleitet haben. Wer in den Salons weiter unten im Schiff saß, hatte mitunter größere Chancen, sie zu sehen, als die Passagiere, die sich auf dem oberen Deck immer den Wind um die Nase wehen ließen. Jetzt, da die „Volendam“ aufs offene Meer hinausfährt, wird manchmal die Rede sein von fliegenden Fischen.
16 000 Kilometer Einsamkeit und Stille
Nach vier Tagen auf offener See künden erste Vögel von Hawaii. Zwei Mal legt das Schiff dort an, einmal in Hilo, Big Island, und einmal in Honolulu, um Proviant und Treibstoff zu bunkern. Jedes Mal werden abends die Lichter gelöscht, um die hier nistenden Vögel nicht zu irritieren oder gar anzuziehen. Das größte Erlebnis aber ist einigen wenigen vorbehalten, die sich irgendwo zwischen Hawaii und Samoa, weit von bewohntem Land entfernt, auf Deck befinden. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau und plötzlich taucht wie aus dem Nichts ein weißer Vogel auf, ein Albatross, der mit weiten Schwingen gen Horizont fliegt und irgendwann verschwindet.
Noch lange wird darüber diskutiert, ob der Vogel allein auf dem Wasser leben kann oder ob er vielleicht auf in der Nähe befindlichen unbewohnten Archipelen nistet. Nicht, dass man sie zu sehen bekäme. Wir befinden uns hier auf der abgewandten Seite der Welt. Tagelang nichts als Wasser, mal tintenblau, mal eher graubraun, dann wieder türkis schimmernd, mal mit weißen Kräuselwellen, mal mit riesigen Wogen in sehr rauer See. Knapp 16 000 Kilometer Einsamkeit und Stille. Und Weite. Unglaublich viel Weite. Man könnte meinen, hier ist die Welt noch so, wie sie geschaffen wurde, wie sie ursprünglich gedacht war. Ganz friedlich in ihrem puren, unbeachteten Sein.
Manche Gäste langweilen sich tatsächlich, obwohl es sogar eine Leihbibliothek gibt und jeden Tag einen anderen Film und auch ein Fitnessstudio. Gut, die Pools des 1999 in Marghera bei Venedig fertiggestellten Schiffs, sind nicht gerade groß, aber wenn nicht mehr als zwei oder drei Menschen drin sind, schwimmt es sich ganz gut, und als später südlich des Äquators die See laut Bordfernsehen „sehr rau“ wird, schäumt und schwappt das Wasser so wild, dass man den Pool manchmal ganz für sich alleine hat. Die beiden Whirlpools sind dagegen besonders beliebt bei den wenigen Teenagern an Bord. Es gibt dennoch Menschen, die immer im Bauch des Schiffs bleiben und klassische Kreuzfahrt-Rituale im Rotterdam Dining Room genießen.
Oben trifft man die Nomaden, die einmal auf dem Wasser waren und nicht mehr davon loskommen. Die britische Lady, die an Sydneys legendärem Surfer- Strand Bondi Beach lebt, war schon 78, als sie zum ersten Mal eine Schiffsreise unternahm, von Kapstadt zurück nach Australien. Das war vor anderthalb Jahren, und diese Passage ist schon ihre sechste seitdem. „Hat sich immer so ergeben“, sagt sie. Vielleicht hat ein Schicksalsschlag, von dem sie später erzählt, sie auf die Endlichkeit des Lebens aufmerksam gemacht. „Wenn man auf einer Kreuzfahrt nicht glücklich ist, wann ist man es dann?“, sagt sie nachdenklich. Manche tun sich etwas schwer damit, glücklich zu sein. Die Rheinländerin zum Beispiel, die erzählt, dass sie früher immer bergwandern war in Nepal. Die Stopps auf Hawaii und auf einigen Südseeinseln sind ihr viel zu kurz, die dauern immer nur ein paar Stunden. „Da kann man die Seele eines Ortes ja gar nicht begreifen.“
In den Häfen buhlen Taxifahrer und Ausflugsunternehmer regelmäßig um die Gunst von Passagieren und Crew. Der Hit auf Hawaii ist wieder mal der Gratisbus zum nächsten Walmart. Für die Crew ist es kaum verständlich, dass die Mehrzahl der Passagiere sich auch auf diesen Bus stürzt. Die Passagiere haben doch alles, bekommen zu essen, zu trinken, was suchen sie ausgerechnet bei Walmart, wenn sie zum ersten und vielleicht einzigen Mal auf Hawaii sind? Der ehemalige Flugkapitän und seine Frau pfeifen auf den Bus. Sie haben ihre eigenen Räder dabei.
Die Inseln mit roten Hibiskusblüten
Zwischen Hawaii und Samoa können die Räder nicht rollen. Fünf Tage – nur Wasser. Nach der langen Seepassage gehen viele von Bord und lassen sich in den altmodischen hölzernen Schulbussen über die Insel mit ihrer üppigen Vegetation chauffieren. Die Missionare hätten diese Gegend besonders gemocht, daher gebe es nun viele Katholiken, erzählt die Reiseführerin, während der Bus die herrliche Bucht mit den Blumentopffelsen passiert, die tatsächlich gigantischen Töpfen ähneln. Die örtliche Legende will es, dass zwei Liebende, die dem König geopfert werden sollten, fliehen wollten und zu Felsen versteinert wurden, als der Fluch des um seine Mahlzeit betrogenen Herrschers sie traf. Kannibalismus hatte eine lange Tradition auf den Inseln.
Im nächsten Hafen, in Suva, der Hauptstadt der Fidschi-Inseln mit der großen Kathedrale zwischen flachen weißen Häusern, gibt es in den Souvenirgeschäften sogenannte Kannibalengabeln zu kaufen, in verschiedenen Größen, fürs Gehirn, für die Augen und fürs Fleisch. Je weiter das Schiff vordringt, desto vertrauter werden den Australiern die Inseln mit ihren schönen roten Hibiskusblüten.
Vanuatu ist voller zollfreier Läden, wo man billig Alkohol einkaufen kann. Für die Leute aus Downunder ist dies ein realitiv schnell erreichbares Ferienziel, so ähnlich wie für Deutsche die Kanarischen Inseln. Das Wasser ist samtweich und badewannenwarm. Auch ein Teil der Crew geht jetzt schwimmen. Die Farmersfamilie kennt eine verschwiegene Bucht auf Lifou in Neukaledonien. Nouméa ist dann schon wieder mondäner, erinnert fast ein bisschen an die Côte d’Azur mit den vielen privaten Jachten jenseits der engen Hafeneinfahrt. Noch einmal geht der Lotse von Bord, dann nimmt die „Volendam“ Kurs auf Sydney, wo sie bei Sonnenaufgang am Circular Quai festmacht, unmittelbar zwischen Oper und Hafenbrücke.
Als einige Tage vor der Ankunft in Sydney das erste Schiff nach langer Zeit am Horizont auftauchte und die Rückkehr in den bewohnten Teil der Welt ankündigte, hatten die Passagiere gerade einen Tag verloren. Die Internationale Datumsgrenze verläuft durch die Südsee. Nachdem man einige Male die Uhr um jeweils eine Stunde zurückstellen musste, sprang das Datum vom 11. direkt auf den 13. Oktober. Um fünf vor Mitternacht war es noch Donnerstag, um fünf nach schon Sonnabend. Da kann man schon mal den Überblick verlieren. Wie spät mag es jetzt zu Hause sein?
Ein Besuch am Front Desk auf Deck 3 sollte es klären. Die diensthabende junge Filipina hatte erst vor wenigen Wochen angeheuert und strahlte mir freundlich entgegen. „Germany?“, fragte sie lang gedehnt, während sie konzentriert auf den Tasten ihres Computers herumhämmerte. „Ich kann’s im System leider nicht finden. Könnten Sie mir vielleicht die Hauptstadt nennen?“ Für solche Sätze dürften sie glatt einen Aufpreis verlangen. Weiter kann man nicht verreisen.
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