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Montenegro: Auf dem Dach der Zitadelle

In den Buchten Montenegros entstehen viele, zu viele Hotels. In den Bergen ist Ruhe – und wilde Schönheit.

Am Abend fallen wir am Hafen von Budva in ein Zeitloch. Unterm Fischernetz im Jadran Kod Krsta ertönt die Hammondorgel, Rotwein aus Karaffen wird zu öligem Fisch aufgetragen, Grappa in Mengen hinterher, hier Loza genannt, und ein Mann im Anzug orgelt Songs von Johnny Cash auf Montenegrinisch. Das ist dann pures Jugoslawien in Montenegros größtem Badeort. Wie damals, in den 1980er-Jahren. Der Wirt seufzt. Schön wär’s, wenn es wie früher wäre. Denn damals kamen 150 000 Westdeutsche jährlich, im vergangenen Jahr waren es gerade mal 34 000.

Die Balkankriege haben Südosteuropa fast von der touristischen Landkarte gewischt. Montenegro? Mazedonien? Das wird gern mal verwechselt. Dabei bekommen die Deutschen hier sogar den Kaffee so, wie sie ihn mögen, mit sehr viel Milch. Wer Latte Macchiato möchte, bestellt Dojc Cafe – „Deutsch Kaffee“. Der Montenegriner trinkt Kaffee klein und schwarz, sei es als Espresso, sei es als Türkischer Mokka. Denn durch das Land hindurch läuft historisch die Grenze zwischen Katholizismus und Byzanz, später dem Osmanischen Reich.

Budva ist schön und hässlich zugleich. Die Altstadt kauert sich auf eine Halbinsel, hellgraue Mauern, die eine Zitadelle umrahmen, ein Kirchturm ragt auf, rote Ziegeldächer, im Vordergrund gelber Ginster, überm blauen Meer beginnen gleich Montenegros namensgebende schwarze Berge. Später stehen wir jedoch auf dem Dach jener Zitadelle, schauen ans Ufer, sehen nun den wuchernden Beton, der sich in die Küste frisst. Auf Budvas 16 000 Einwohner kommen inzwischen gut 58 000 Hotelbetten. Und es wird weiterhin gebaut, Luxushotels, Jachthäfen.

Dass Montenegro Tourismus kann, zeigte sich schon in den 1960er-Jahren. Die Halbinsel Sveti Stefani wurde unter Tito komplett als Hotel ausgebaut. Der Staatschef lud die Loren, Liz Taylor und andere ein, um Glamour und Gäste nach Jugoslawien zu bringen. Heute kostet das Zimmer dort nicht unter 750 Euro. Ronaldinho kam zum Probewohnen, der Prospekt schwärmt von der „fast unwirklichen Stille“ in den mediterranen Gassen des Hoteldorfes. Und das ist genau das Problem: Das Hotel ist eine künstliche Welt in leblos-historischer Kulisse. Jedes Dach ist gleich gedeckt, jeder Fensterladen trägt identisches Cremeweiß, und jede Gasse ist leer. Keine Kinder, keine Wäscheleinen, kein Schwatz. Nur Hotelangestellte drücken sich an den Mauern entlang.

Kurz vor dem Kloster Rustovo kommt uns eine junge Nonne entgegen. Sie trägt ein schwarzes, bodenlanges Gewand, ein schwarzes Tuch eng ums Gesicht geschlungen. Sie nestelt an ihrem Ohr, hält etwas in der Hand. Ein MP3-Player. Hört sie da heimlich Musik? Sie reicht den Kopfhörer. Fremde, schwebende Musik, irgendwie orientalisch, viel Hall, viel Mächtigkeit. Ist das Hebräisch? Nein, das sei die Sprache, „in der Jesus Christus gesprochen hat“, Aramäisch. „Ist das nicht wundervoll? Das Vaterunser, gesungen in der Sprache von Christus.“

Rundherum liegt die Landschaft ruhig und grün, Wind fährt in die Bäume. Die 17 Schwestern des serbisch-orthodoxen Klosters Rustovo flitzen durch den Klostergarten. Die langen Röcke rascheln, husch husch, rein in die eine Kirche, raus, die andere Kirche aufgeschlossen, und zack in den Souvenirladen. Die junge Nonne im Laden spricht flüssiges Englisch. Seit einem halben Jahr lebt sie im Kloster. Einmal in der Woche in die Kirche zu gehen, habe ihr nicht gereicht. Das Kloster hat keine Felder, keinen Landbesitz, kein Vieh. Sie gehen in die Berge, sammeln Kräuter, machen Tees und Cremes, malen kleine Ikonen. Und arbeiten mit religiösen Texten. „Ich lese so gerne, für mich ist es hier...“, sie lacht und macht eine umfassende Bewegung, „einfach wunderbar.“

„Hier ist Balkan“

Die Küstentransversale ist nur einer von vielen Wanderwegen, 3000 Kilometer werden durchgängig markiert. Also ab in die Berge. Im Biogradzko Nationalpark wuchert Bärlauch am Boden, ein Meer in Grün, es stinkt. Bärendetox, erklärt Guide Andri schmunzelnd. „Wenn Bären aus dem Winterschlaf erwachen, fressen sie Bärlauch, um die Gifte aus ihrem Körper zu bekommen.“

Zum Durmitor Nationalpark fahren wir die Tara-Schlucht entlang, neben dem Grand Canyon in den USA eine der tiefsten Schluchten weltweit. Tief unten gurgelt grünes Wasser. Der unzugänglichste Park des Landes jedoch ist der Prokletije Nationalpark, die hintersten Schwarzen Berge. Von hier dauert die kürzeste Fahrt in die nur 70 Kilometer entfernte Hauptstadt Podgorica mehr als drei Stunden. Die Straße ist ungeteert und führt auch kurz mal durch Albanien.

Das Städtchen Gusinje gilt sogar für den gebirgigen Norden Montenegros als abgeschieden. Im Tal säumen Weiden die Wassergräben. Schafe grasen, umschlossen wird das Bild von den Prokletije-Kalkgipfeln. Viele Häuser bröckeln vor sich hin und sind verwaist. Erstaunlicherweise wurden daneben knallfarbige Neubauten gesetzt. Aber auch diese scheinen unbewohnt. Rätselhaftes Montenegro.

In der Abenddämmerung treffen sich ein paar Familien an den Ali-Pasha-Quellen. Bilderbuchquellen, deren Wasser einfach so aus einem Loch in den Wiesen blubbert, aus den Felsen rinnt, sich in einen Teich ergießt. Daneben steht ein neues Restaurant, es gehört Hale Gjonbalaj. Einer Frau mit schwarzem Dutt und weißem Kochkittel, die Gäste auf Deutsch begrüßt. Früher habe das hier ganz anders ausgesehen, sagt sie. „Kinder rannten über alle Felder, an der Quelle war immer viel los.“ Als Hale noch ein Kind war, hatte Gusinje gut 60 000 Einwohner. Heute leben hier nur noch 1700 Menschen, Angehörige der albanischen Minderheit.

Die Gastwirtin ging als junge Frau nach Deutschland und arbeitete dort viele Jahre in verschiedenen Restaurants. Das Ungewöhnliche an Hale Gjonbalaj ist jedoch, dass sie zurückgekommen ist in ihren Heimatort. Denn noch immer suchen viele ihr Glück in der Fremde. .„Im vergangenen Monat sind wieder 24 Familien weggegangen“, sagt Hale. 24 Familien verkauften jeglichen Besitz, stiegen in Busse ein und fuhren nach Nordfrankreich.

Bei Hale Gjonbalaj im Restaurant sitzt eine Gruppe Österreicher. Morgen wollen sie aufbrechen zu einer einwöchigen Wanderung im Grenzgebiet. Frau Gjonbalaj schenkt Wasser aus, das sie in einem Krug immer direkt an der Quelle holt. „Besser kann Wasser nicht schmecken“, sagt sie strahlend. Und sie erzählt Anekdoten und Geschichten. Ein Pistolenschuss habe ihre Geburt dem Dorf verkündet. Das sei so Brauch, erklärt sie, doch normalerweise geschehe es nur bei Söhnen. „Mir haben alle erzählt, dass mein Vater einzig bei meiner Geburt mit der Pistole in die Luft geschossen hat. Er hat es von allen sieben Kindern nur bei mir gemacht.“ Und so sei sie – „Lieblingskind meines Vaters“ – zurückgekommen.

Auch wenn der Vater schon kurz nach ihrer Geburt gestorben war, hat sie anscheinend jener Pistolenschuss all die Jahre motiviert. Die Rolle des braven Hausmütterchens passte nicht zu ihr. Als erste Frau habe sie ein Lokal aufgemacht, sie hätten sie hier angeschaut, „als ob ich ein Bär wär“. Oder wenn sie durch den Ort ging, nicht verheiratet, Chefin eines Lokals. „Hier ist Balkan“, sagt Frau Gjonbalaj und zuckt lächelnd mit den Schultern. Sie kocht gut. Variiert die üppig-bodenständige Küche, reicht nicht immer nur Kartoffeln und Polenta mit Pljevaljski Sir, dem Bergkäse aus dem Norden.

Die Österreicher sind hungrig, die Gemüseplatten sind gleich verspeist, jede Menge Forellen werden aufgetischt, roter Landwein wird immer und immer wieder nachgeschenkt. Die Wanderer haben eine aufregende, anstrengende Tour hinter sich. Sie waren am Komovi. Um die Hütten bei Stavna blühte schon der Ginster, dann ging es bergauf vorbei an Orientalischen Schneerosen, einer schwarz- violett blühenden Christrosenart, aufsteigend zu Märzenbechern, Himmelschlüssel, Krokussen.

Im Wald sahen sie uralte Fichten, dick und verknotet. An einer verfallenen Alm packten sie aromatischen Käse und Paradeiser aus, die wirklich noch nach Tomaten schmecken. Zwischen Bruchsteinmauern und eingestürzten Holzdächern konnte man einen ersten Blick nach Albanien werfen. Der Kom Vasojevicki ragt als markanter Kalkbrocken auf. Man könnte meinen, man sei in den Alpen. Nur abenteuerlicher und stiller und einsamer ist es hier.

Am nächsten Tag werden die Österreicher loswandern zur großen Tour. Vorbei an den leeren, bonbonbunten Neubauten. Hinein in nahezu unberührte Natur. In Gusinje werden sie warten – auf neue Gäste. Und müssen dazu geduldig sein. Es ist noch lang bis August. Denn lediglich dann wird es wuseliger und voller in Gusinje, hat Gjonbalaj erzählt. Im August nämlich kommen „die Amerikaner“ zurück. Jene Auswanderer, die in New York, Boston oder Chicago zu Geld gekommen sind. Sie haben gespart und sich davon in ihren abgelegenen montenegrinischen Bergen bombastische Häuser gebaut. Die fast das ganze Jahr verwaist sind und sich nur einen Sommermonat lang mit Leben füllen.

Einen Monat Heimat, davon träumen vielleicht auch jene 24 montenegrischen Familien, die soeben in Nordfrankreich den Neubeginn wagen.

Barbara Schaefer

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