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© Picture-Alliance/dpa

Vilm: Am Ufer knorrige Giganten

Wenige kennen das grüne Eiland Vilm vor Rügen. Früher machten DDR-Bonzen hier Urlaub, heute wird Naturschutz gelehrt.

„Hertha Buche“: Vielleicht war’s ja in wohlmeinender Absicht, als der Fan diese beiden Wörter in den Stamm der Fagus sylvatica schnitzte, die in den Himmel über der Ostseeinsel Vilm wächst. Was kratzt’s die deutsche Rotbuche, wenn ein Passant sein Taschenmesser an ihr wetzt? Aber Frevel bleibt sogar dann Frevel, wenn der Baum, allem Anschein nach, keinen Schaden genommen hat. Mindestens vier Arme braucht man, um ihren Stamm zu umschlingen; sie ragt schätzungsweise 15 Meter in die Höhe und hat ein kräftiges Blätterdach ausgebildet, das die ersten Herbststürme vielleicht noch überstehen könnte. Ein Prachtstück von Rotbuche steht da, das vielleicht 200 Jahre alt sein könnte.

Wenige Schritte weiter, jenseits des Trampelpfads, ist der Torso einer abgestorbenen Rotbuche zu bestaunen; der Rest liegt daneben und war mal eine mächtige Krone. Jetzt ist ihr zerborstenes Holz Teil einer Nahrungskette, in der sich Pilze und Getier breitmachen – bis der Baum wieder zu Waldboden geworden ist.

Hier auf dem Vilmer Trampelpfad kann jeder Schritt eine Zeitreise zwischen Werden, Reifen und Vergehen sein – immerhin führt der Weg durch einen veritablen Urwald und durch einen der ältesten Wälder Deutschlands, in dem seit knapp 500 Jahren nicht mehr abgeholzt wurde. Meist sind Buchen gewachsen, eingerahmt von Birken und Eichen. Immer häufiger macht sich auch Ahorn breit, möglicherweise bedingt durch die wärmeren Temperaturen unserer jüngsten klimagewandelten Vergangenheit.

Junge Stämme biegen sich zum Licht, das vom Ostseebodden durch den Wald dringt. Durch das dichte Schilf, rund zweieinhalb Kilometer von hier, ist die Marina von Lauterbach auf Rügen auszumachen. Wie Hopfenstangen schwanken die Masten der Segelboote im Wind und Wellengang. Ihr Weiß korrespondiert mit dem Federkleid der Schwäne, die sich auf einer Sandbank vor Vilm niedergelassen haben. Ziemlich genau 100 Schwäne habe er gezählt, erzählt Otto Löwer später.

Auf seine Kalkulation ist schon deswegen Verlass, weil er dem hessischen Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) vorsteht und gewissermaßen qua Amt ein Buchhalter der Natur ist. In dieser Eigenschaft meldet er sich in diesen Tagen gelegentlich zu Wort, wenn es in der Internationalen Naturschutzakademie auf der Insel Vilm allzu akademisch wird.

Wissenschaftler, Landschaftsplaner, haupt- und ehrenamtliche Naturschützer sowie engagierte Neugierige haben sich drei Tage „auffem Vilm“ (wie die Rüganer sagen) versammelt, um über „Naturschutz und gesellschaftliche Modernisierung“ zu beraten. Aber auch der ehrenamtliche Adlerbeauftragte der Insel Rügen schaut kurz vorbei – auf Vilm habe sich ein Adlerpaar niedergelassen, bestätigt Joachim Kleinke. Beifällig nickt die Gelehrtenrunde im wunderbaren Tagungszentrum der Naturschutzakademie, das durch Glaswände einen Blick nach draußen auf den Vilm freigibt, über den in diesen Tagen immer mal wieder kleine Formationen von Kranichen oder Wildgänsen ziehen.

Die Naturschutzakademie auf dem Inselchen gehört zum Bundesamt für Naturschutz, und sie ist ein Renner. 80 Tagungen und Seminare finden hier jährlich statt, zu denen Gäste aus aller Welt anreisen, um über Themen wie „Bestimmung der Erheblichkeit und Beachtung von Summationswirkungen bei der Zulassung von Projekten gemäß Art. 6 FFH-R“ zu beraten oder „Serial Natural World Heritage Sites: Challenges for Nomination and Management“.

Manchmal, wenn die Themen etwas allgemeiner klingen, mischen sich auch Laien unter die Seminarteilnehmer; erstens kann es nie verkehrt sein, in angenehmem Ambiente etwas dazuzulernen. Und zweitens ist dies eine treffliche Methode, Vilm abseits des Reglements zu erkunden, und zwar legal. Das Inselchen, im Greifswalder Bodden der Insel Rügen vorgelagert, ist mit 0,94 Quadratkilometer ungefähr doppelt so groß wie die Bodenseeinsel Mainau – und zehn Mal so unbekannt. Das Naturschutzgebiet Vilm ist nur 30 Besuchern täglich vorbehalten, die mit einer Fähre von Lauterbach kommen und nach zwei bis drei Stunden wieder abdampfen müssen – dazwischen gibt es einen Rundgang mit autorisiertem Führer.

Wem das zu wenig ist, der nimmt teil an einer Fachtagung – sagen wir – über „Landschaften In Deutschland 2030“ und nutzt die Sonnenauf- und -untergangszeiten, die Kaffee- und die Mittagspausen für Spaziergänge über den Vilmer Trampelpfad, der auch an einer Kolonie von Sonnenkollektoren vorbeiführt. Die Akademie, die aus einem Dutzend kleiner Büro-, Tagungs- und Wohnanlagen besteht, versorgt sich aus natürlichen Ressourcen, was übrigens auch die Nahrungsmittelzubereitung betrifft. Alles naturbelassen, alles bio: Bis auf die Weine kommt alles aus Rügen hierher – wird frisch zubereitet und schmeckt vorzüglich. Das süffige Störtebeker-Biobier dazu kommt aus dem nahen Stralsund.

Draußen erinnert der eine oder andere Installationsrest daran, dass zu DDR-Zeiten die Insel Vilm ein privilegiertes Refugium für hohe Staatsfunktionäre war. Die Honeckers machten gelegentlich auf dem Inselchen Urlaub, die schreckliche Justizministerin Hilde Benjamin regelmäßig. Im Juli 1965 wurde hier ein bisschen DDR-Wirtschaftspolitik gemacht – es soll damals Unmut der Bezirksfürsten gegen die Ulbrichtschen Maximen gegeben haben. Nach der friedlichen Revolution übernahm das Bundesamt für Naturschutz, renovierte hier, renaturalisierte da – und betreibt seither Akademie und Tagungszentrum auf der hermetisch naturgeschützten Insel. In den reetgedeckten Häusern, vordem von Apparatschiks bewohnt, sind heute die schmucklos- funktionalen Einzel- und Doppelzimmer für die Besucher der Akademie.

Der Weg am Urwald vorbei ist rund drei Kilometer lang. Unter den Sohlen knacken Eicheln und Bucheckern, da oder dort zermatschen unterwegs sogar Mirabellen und kleine Äpfel. Vögel haben vom Festland Samen herübergebracht, und so kommt es, dass es auf Vilm einen Obstgarten gibt, der teilweise aus Zufallskulturen besteht, teilweise aus Apfelbäumen alter Sorten, die hier gesetzt wurden. Wie mag bloß der Maulwurf hier her gekommen sein? War die Art schon immer hier, hat sie übers Wintereis vom Festland herübergemacht? Die Natur ist ein einziger Fragenkatalog.

Drinnen, im Tagungsraum entbrennt zwischen Power Point und Ansteckmikro eine Diskussion, die nur scheinbar nach Filibusterei klingt: Wer zieht eigentlich die Grenzen zwischen Natur, natürlichem und sozialem Leben? Und: Ist nicht alles, was wir als angeblich ursprünglich und natürlich erleben, „hybrid“ – teils natürlich, teils von Menschenhand verändert? Draußen, jenseits des kleinen Landungsstegs für die Dienstboote der Naturschützer, macht sich eine wuchtige Eiche breit, deren Stamm von Furchen gezeichnet ist wie die Haut eines uralten Elefanten. Weiter führt der Weg führt an bizarren Gebilden vorbei, zu denen sich die Buchen und Eichen gekrümmt und verbildet haben. Dies könnte der Kampf zweier knorriger Giganten sein. Jener vermoderte tote Stamm erinnert an eine gewaltige Eule, die sich am Boddenufer aufgebaut hat, um die Besucher vor einem Fehltritt zu warnen und davor, in einen Buchenstamm irgendetwas über die unglückselige Hertha zu ritzen.

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