Kanarische Inseln: Am Fels der Einsamkeit
Winzig ist das Inselchen La Graciosa – und karg. Asphaltierte Straßen fehlen, Strände gibt es. Ausflügler sonnen sich dort, vom nahen Lanzarote.
Das Meer ist eine Buckelpiste. Der Bug der „La Graciosa“ senkt sich tief in die Wellentäler. Dann geht es wieder steil bergauf. Es kribbelt im Bauch. Zwei der Mitreisenden hat es schon erwischt. Sie sitzen auf dem Oberdeck direkt hinter dem Steuerstand und haben graue Gesichter. Jetzt ist es zu spät, um noch eine der Tabletten gegen Seekrankheit zu nehmen, die der junge Mann mit Abenteurerhut vor der Abfahrt angepriesen hat. Bis sie wirken, dauert es eine halbe Stunde und allzu weit kann es nicht mehr sein. Der Leuchtturm von La Alegranza ist schon gut zu sehen.
Ganz vorn an der Bugspitze haben sich drei Frauen an die Reling gesetzt. Sie tragen Badeanzug und Regenjacke, eine passende Kombination für das Klima im Norden der Kanarischen Inseln. Es ist windig und warm. Kein Zweifel, das Trio aus Süddeutschland hat Spaß an der bewegten Fahrt. Sie halten Ausschau nach fliegenden Fischen, Walen, Riesenschildkröten und Seevögeln. Wenn sie etwas entdeckt haben, rufen sie und zeigen auf die dunkelblaue See. Aber ihre Stimmen werden vom Winde verweht. Wenn die anderen Fahrgäste die Wasseroberfläche abgesucht haben, ist es meist zu spät, keine Rückenflosse unterbricht mehr das weite Blau des Atlantiks.
„Heute ist ein ausgesprochen ruhiger Tag“, meint Carmen Portella, während sie zu den drei Frauen am Bug schaut. „Normalerweise ist der Wind stärker und die Wellen sind noch höher, sie spritzen dann über das gesamte Vorderdeck“, sagt die Inhaberin von Lanzarote Active Club, ein Veranstalter von Bootstouren, Wanderungen und anderen Aktivangeboten auf Lanzarote. Dieses Auf und Ab von Schiff und Wellen, für einen Lanzaroteño ist das ein ruhiges Gewässer, sozusagen ein Sonntagsspaziergang.
Das sieht schon einsam aus
Zu Lanzarote fallen einem baumlose Landschaften ein, diese von schwarzer Lavaasche bedeckten Einöden, die, wenn man aus dem immergrünen Norden kommt, so exotisch aussehen. Unter den Inseln, die zumindest politisch zu Europa gehören, ist sie sozusagen das schwarze Schaf. Eine Außenseiterin der ansonsten doch gemäßigten Natur unseres Kulturkreises. Lanzarote liegt am Rand unserer Vorstellung einer bewohnbaren Welt. Sie liegt auf halber Strecke zwischen Leben und Wüste. Deshalb kommen so viele Besucher.
Erst recht fasziniert die Aussicht, von der schwarzen Insel aus noch ein Stück weiter zu reisen, über den Rand dieses Randes hinaus, dorthin, wo es vielleicht noch ein bisschen karger und einsamer ist. Kein Problem, am Hafen des kleinen Orts La Órzola im Norden der Insel legt mehrmals am Tag eine Fähre nach La Graciosa ab, und ein Mal pro Woche steuert ein vom Lanzarote Active Club gechartertes Boot den Chinijo Archipel an. Zum Meeresreservat gehören neben La Graciosa noch die Inseln La Alegranza, Roque del Oeste, Roque del Este und Montaña Clara.
Ah, der Leuchtturm von La Alegranza schaukelt nicht mehr. Unser Boot liegt nun im gar nicht mehr kabbeligen Meer vor diesem Brocken Land. Das sieht schon einsam aus. Auch der Leuchtturm ist heute nicht mehr bemannt. Bis in die 1980er Jahre hat hier Agustín Pallarés Padilla gelebt. Das auf Deutsch erscheinende „Inselmagazin 37 Grad“ hat vor Jahren die Geschichte des Mannes nacherzählt. Der heute 85-Jährige verbrachte viele Jahre seiner Kindheit auf der einsamen Insel, auf der schon sein Vater Leuchtturmwächter war. Auch Pallarés wurde Leuchtturmwächter, arbeitete an verschiedenen Türmen der kanarischen Inseln und bewarb sich irgendwann für La Alegranza. Er bekam den Job, zog mit seiner Frau in die Einsamkeit und wurde dreifacher Vater. Auf die Hilfe einer Hebamme oder eines Arztes musste die Frau verzichten, die gab es einfach nicht. Später, als man keine Leuchtturmwärter mehr brauchte, wurde Pallarés Reiseführer auf Lanzarote.
Die Falken sind ein biologisches Rätsel
La Alegranza, die „Insel der Freude“, ist ein großer Felsen mit etwas Drumherum. Nicht ein einziger Baum wächst da. Dafür existieren neben Leuchtturm und Schiffsanleger noch ein Vulkan und viele Vögel. Ihretwegen kommen im Sommer zwei Wissenschaftler aus der Schweiz. Sie erforschen die Halcones Eleonoras. Die Eleonorenfalken sind ein biologisches Rätsel. „Einige sind schwarz, andere weiß. Sie vererben sich nach unbekannten Gesetzen“, sagt Carmen Portella. Da ihr Unternehmen die einzige Tour nach La Alegranza und in das Chinijo Archipel anbietet, hat es auch gleich die Versorgung der Wissenschaftler übernommen. Einmal pro Woche lädt die „La Graciosa“ Proviant aus und Müllsäcke ein.
Touristen dürfen die Insel der Freude nicht betreten. Wegen der Vögel und ihrer Brutstätten, sagt Carmen. Einer der hier gezählten 11000 Atlantik-Sturmtaucher, saust just vorbei, als das Boot wieder Fahrt aufnimmt und langsam an der Südseite der Insel vorbeizieht. Joachim Krötz, Geschäftspartner von Carmen, steht an der Reling und doziert über die Inselnatur. Er zeigt auf das Gebirge der Insel, die Montaña del Lobo. Oben, am Rand des Kraters, kreist ein Seeadler. Ein Fernglas wäre jetzt gut. Mit bloßen Augen lässt sich allerdings das Schild lesen, das an der Steilwand hängt. „A Vende“, steht darauf, „zu verkaufen“. Über der Felsklippe kann man ein kleines Haus ausmachen. Bis auf den Anleger und den Leuchtturm gehöre auch der Rest der Insel dazu, erklärt Krötz. Doch eigentlich brauchte der Eigentümer, ein gewisser Enrique Jordan, kein Schild an seine Insel zu heften.
Das Eiland ist ein Naturpark, es darf nicht darauf gebaut werden, und wirtschaftlich nutzen lässt es sich auch nicht. Die 116 Millionen Euro, die als Kaufpreis im Raum stehen, richten sich an den Spanischen Staat. Der würde gerne aus dem Chinijo Archipel einen Nationalpark machen, allerdings fehlt aufgrund der Wirtschaftskrise das Geld. Die Jordans haben das öde Eiland übrigens in den 1940er Jahren im Tausch für ein neues Auto erworben.
Öd, leer und dennoch großartig
Nachdem man in die verwunschene Grotte El Jameito geschwommen ist und den nördlichsten Punkt der Kanaren gesehen hat – ein Riff, über das der Wind heftig hinwegzieht – , dreht das Boot wieder nach Süden ab. Vorbei an einem Felsbrocken Montaña Clara fährt der Katamaran in eine traumhafte Sandbucht vor La Graciosa.
„Diese Insel“, so heißt es im wunderbar altmodischen Deutsch einer vom Lanzarote-Tourismusbüro herausgegebenen Broschüre, „ist für spezielle, empfindsame Reisende, die es wissen, die Natur, die Ruhe, die Schönheit und selbstverständlich auch die Sonne und die abgelegenen Strände zu schätzen“. La Graciosa ist kein Ort für Liebhaber grüner Landschaften. Die größte Insel des Chinijo Archipels ist genauso öd und leer wie die übrigen. Und dennoch ist sie großartig. Ja, sie vermag sogar die Seele des „empfindsamen Reisenden“ zu berühren.
Nach einer knappen Stunde zu Fuß von der Playa Concina aus durch eine sandige, wüstenhafte Landschaft, tauchen einige flache Häuser auf. Der Sand reicht bis an die Haustüren. Die Dorfstraßen von Caleta del Sebo sind Sandpisten. La Graciosa ist asphalt- aber nicht autofrei. Das bevorzugte Vehikel sind betagte Landrover beziehungsweise die in Lizenz gebauten Santana-Geländewagen. Es gibt sogar einen Taxifahrer.
Die einzige Verbindung mit dem Rest der Welt
Caleta del Sebo liegt an einer kleinen Bucht. Einige Holzboote wurden auf den Sandstrand gezogen. Zwei Kinder planschen im Wasser. Dort, wo die Bucht zu einem Hafen mit Anleger ausgebaut wurde, nimmt ein Mann einige Kisten in Empfang, die er auf eine Schubkarre lädt. Dieser Hafen ist die einzige Verbindung von La Graciosa mit dem Rest der Welt.
Spätestens jetzt verspürt der Besucher entweder den dringenden Wunsch, schnell wieder nach Lanzarote überzusetzen, das vergleichsweise so bunt und belebt erscheint. Oder es regt sich bei manchem auch durchaus der Gedanke, unbedingt und möglichst lange hier zu bleiben. Immerhin, bis das Boot zurück nach La Órzola fährt, bleiben noch ein paar Stunden. Zeit für einen ausgiebigen Strandspaziergang, anschließend einen gegrillten Thunfisch im Restaurant El Marinero, und zum krönenden Abschluss einen Café solo.
Es wird langsam Abend. Von Westen strahlt schräg die Sonne auf die weiß gekalkten Wände der Mitte des 19. Jahrhunderts gegründeten Kolonie. Einige Bewohner und Langzeittouristen sitzen am Hafen und warten darauf, dass die letzte Fähre des Tages kommt und vielleicht noch Neuigkeiten bringt.
Im Osten hat sich eine tiefdunkle Wetterfront aufbaut. Ob wohl in dieser Nacht wieder der Strom ausfällt? Wer nur einen Tagesausflug gemacht hat, wird das Problem zumindest nicht haben. Aber eben auch nicht die Erfahrung machen, wie es sich am Ende der Welt so lebt.
Lothar Schmidt
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